Diskussion der Ergebnisse: Empirie-TheorieTransfer
„It makes more sense to talk of genders, not simply gender, because being a women and being a men change from one generation to the next and are different for different radical, ethnic, and religious groups, as well as for the members of different social classes.” (Lorber & Farrell, 1991, S. 1)
Das einleitend angeführte Zitat verweist auf ein zentrales Moment der deskriptiven Analyse: Die Interviewergebnisse deuten nicht auf eine weibliche und eine männliche Umgangsweise mit arbeitsbedingtem Stress. Vielmehr ergibt sich ein komplexes, teils widersprüchliches Abbild von Darstellungsweisen, die sich vor dem Hintergrund von personellen und strukturellen Spezifika der Agents unterscheiden. Demzufolge sind Geschlechtsunterschiede mit Blick auf die jeweiligen Kontrastierungsmerkmale zu diskutieren, die in die deskriptive Analyse eingegangen sind. Um die Forschungsfrage, welche Geschlechtsunterschiede in der Entstehung und Bewältigung von arbeitsbedingtem Stress in CCn vorliegen, sowie die in Kapitel 6 zusammengetragenen Unterfragen abschließend beantworten zu können, sollen nun die deskriptiven Ergebnisse den theoretischen Erklärungsmodellen gegenübergestellt und diskutiert werden.
Insgesamt konnten auf Grundlage der erstellten Typologie unterschiedliche Stressund Bewältigungsmuster herausgearbeitet und vor dem Hintergrund der Dimension Geschlecht deskriptiv abgebildet werden. Generell gehen aus den Interviews nicht eindeutig ressourcenorientierte Darstellungsweisen auf der einen und belastungsorientierte Muster auf der anderen Seite hervor. Die Aufteilung der Typen in die Klassifizierung A-D hat gezeigt, dass eine komplexe Dynamik der Entstehung und Bewältigung von arbeitsbedingtem Stress vorliegt. Dabei erinnert die Bandbreite der qualitativen Befunde an das Gesundheitsverständnis von Antonovsky (1979), das eine allgemeine theoretische Einordnung ermöglicht. Ausgehend von der Kritik einer üblichen Trennung von Gesundheit und Krankheit in zwei sich entgegenstehende Komponenten, setzt er in seinen Arbeiten die Idee des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums entgegen. Sein Verständnis löst sich von der Annahme, jeder Mensch befände sich in einem Zustand der völligen Gesundheit oder Krankheit. Vielmehr geht er davon aus, dass ein lebender Organismus sowohl aus gesunden als auch aus kranken Anteilen besteht (ebd.). Dabei hänge es von den zur Verfügung stehenden Ressourcen ab, wie ein Mensch die kranken Anteile verarbeite (Antonovsky, 1987). Dieses Verständnis spiegelt sich in ähnlicher Weise ebenso in den vorliegenden empirischen Befunden wider. So konnten im Rahmen der Typologie Ergebnisse abgebildet werden, die von der ressourcenorientierten Darstellung CC-spezifischer Anforderungen (Typ A) über eine individualisierte Anpassung trotz erfahrener Stressbelastung (Typ B) bis hin zu einer Selbstbestimmung über Lebensund Arbeitsentwürfe im Konflikt mit Stressoren (Typ C) sowie einem akuten Belastungsempfinden bei ausbleibender Bewältigung (Typ D) reichen.
In der Zusammenstellung der für die Forschungsfrage relevanten Diskussionsaspekte wurde schließlich deutlich, dass die Ergebnisse unter den in Kapitel
2.2.5 angeführten Ebenen und Dimensionen von Geschlecht subsumiert werden können. In Anlehnung daran stellt Tabelle 16 den Einfluss der individuellen, organisationsbezogenen und gesellschaftlichen Ebenen für die Entstehung und Bewältigung von arbeitsbedingtem Stress dar.
Tabelle 16: Die Dimension Geschlecht im Kontext der Stressund Bewältigungsmuster
Gümbel und Nielbock (2012) bilden in einem ersten Schritt die Komplexität von Geschlecht und Gesundheit anhand einer gesellschaftlichen Makro-Ebene ab, die aus den in Kapitel 3 dargelegten Lebensund Arbeitswirklichkeiten von Frauen und Männern resultieren. Diese strukturell bestimmten Rahmenbedingungen stellten sich im Laufe der deskriptiven Analyse als bedeutend für die Darstellung der Stressund Bewältigungsmuster heraus. Aus diesem Grund werden in der Diskussion die berufsbiographischen Darstellungsweisen von Frauen und Männern näher berücksichtigt (Kapitel 8.1) und – statt auf der Individualebene – der Gesellschaftsebene zugeteilt. Diese sind für die Forschungsfrage nach der Bedeutung von Geschlecht in der Entstehung und Bewältigung von arbeitsbedingtem Stress deswegen zentral, weil damit die jeweiligen Lebensumstände fokussiert werden können, die laut Aussagen der Agents zur Aufnahme einer CCTätigkeit führten. Da in diesem Kontext von den befragten Frauen die Vereinbarkeitsanforderung von Familie und Beruf in den Mittelpunkt der Erzählung gestellt wird, erfolgt eine nähere Diskussion der Bedeutung der CC-Tätigkeit zwischen Flexibilität und Perspektivlosigkeit (Kapitel 8.2).
Darüber hinaus hat sich auf Grundlage der Ergebnisse gezeigt, dass sich Typ A durch eine Ressourcenorientierung im Kontext unterschiedlicher Lebensund Arbeitswirklichkeiten charakterisiert. Aus diesem Grund sollen auf der im Rahmen des Modells angeführten Mikro-Ebene subjektive Stressbewältigungsstrategien verortet und theoretisch eingebettet werden. Neben Bewältigungsmustern, die sich aus der Darstellung von beruflichen Faktoren ergeben, nehmen außerberufliche Ressourcen bei den befragten Frauen und Männern eine unterschiedliche Funktion ein, die mit Blick auf das Constrained-Choice-Konzept nach Bird und Rieker (2008) interpretiert werden (Kapitel 8.3). Auf der Individualebene ermöglicht der Abschnitt prosoziales Bewältigungsverhalten ebenso eine Beurteilung der Geschlechtsunterschiede in der Relevanz von erwerbsarbeitsbezogener sozialer Unterstützung (Kapitel 8.4).
Schließlich deuten die explizierten Entstehungsund Bewältigungsmuster der Typen C und D darauf hin, dass die Befunde nicht isoliert von den betriebsbezogenen Rahmenbedingungen der CC-Tätigkeit zu interpretieren sind. Hierbei haben sich die strukturellenund aufgabenspezifischen Besonderheiten auf der Meso-Ebene der Organisation als relevant erwiesen. Ein letzter Abschnitt widmet sich daher den Geschlechtsunterschieden im Gewinn und Verlust von Handlungsund Leistungsfähigkeit vor dem Hintergrund der als fremdbestimmt und monotonisiert wahrgenommenen Arbeitsgestaltung (Kapitel 8.5). Diese CCspezifischen Entstehungsund Bewältigungsmuster von arbeitsbedingtem Stress werden mit Hilfe der Ressourcentheorie nach Hobfoll (1998) diskutiert.