Vom Gerede zur Tat
Zehn Morde, mehrere Sprengstoffanschläge und fünfzehn bewaffnete Raubüberfälle werden dem Trio, das sich selbst "Nationalsozialistischer Untergrund" nannte, vorgeworfen. Sieben parlamentarische Untersuchungsausschüsse bemüh(t)en sich, die Frage zu klären, weshalb die Täter über viele Jahre von den Sicherheitsbehörden unerkannt morden und rauben konnten. Vor dem Oberlandesgericht in München begann im Mai 2013 der Prozess gegen die Hauptangeklagte und vier mutmaßliche Unterstützer, von denen zwei wegen Beihilfe zum Mord angeklagt sind. Mittlerweile liegen ausreichend Berichte und Dokumente vor, um den zunehmenden Radikalisierungsprozess, den Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe im Thüringer Heimatschutz (THS) Jena durchliefen, bis zu ihrer Flucht im Januar 1998 rekonstruieren zu können. Bemerkenswert ist, dass sie in ihren Aktionen zunächst Fremdenhass und Judenhass kombinierten, aber als terroristische Vereinigung, soweit bekannt, keine antisemitischen Attentate ausführten.
Im April 1996 hängten die drei einen lebensgroßen Puppentorso, der mit einem Davidstern und der Aufschrift "Jude" versehen war, an einem Seil um den Hals an einer Autobahnbrücke auf. Damit die Puppe nicht sofort entfernt werden konnte, wurde sie mittels Kabel an eine Kiste "Vorsicht Bombe" angeschlossen. Zum Jahreswechsel 1996/1997 versandten die drei mehrere Briefbombenattrappen u. a. an eine Lokalredaktion, die Stadtverwaltung Jena und an die Polizei Jena. Im Begleitschreiben hieß es: "Mit Bomben-Stimmung in das Kampfjahr 97 Auge um Auge Zahn um Zahn – dieses Jahr kommt Bubis dran!!!" Zschäpe verteilte mit anderen THS-Mitgliedern Handzettel mit der Forderung "Schluss mit dem Holocaust" und entwickelte 1997 für den Verkauf das antisemitische Brettspiel "Pogromly", dass in perfider Weise die vollständige Identifikation mit dem Völkermord an den Juden belegt (Generalbundesanwalt 2012: 91, 93, 105, 108).
Zwar haben sie aus dem Untergrund heraus auch Adressen jüdischer Institutionen ausgespäht, aber keine Anschläge auf diese Ziele ausgeführt. Weshalb sie davon Abstand nahmen, ist eine noch zu klärende Frage. Ob die bessere Bewachung abschreckend wirkte, während die schutzund arglosen Kleinunternehmer leicht zugängliche Opfer mit geringerem Ertappungsrisiko/Ermittlungsrisiko waren, bleibt Vermutung (vgl. Erb 2012).
Der Fall des sogenannten NSU verdeutlicht, dass für eine Analyse der Handlungsoptionen die Zukunftserwartungen der verschiedenen Akteursgruppen berücksichtigt werden müssen. Die Cliquen junger Schläger oder Neonazis handeln spontan und impulsiv. Sie geben ihren Überzeugungen ungefiltert und handgreiflich Ausdruck. Hingegen muss die Führung rechtsextremer Parteien strategisch und kalkuliert handeln, will sie sich langfristig dem Wählervotum stellen, um sich die finanziell lukrativen Partizipationschancen zu sichern. Auch wenn eine partielle taktische Zivilisierung des parteipolitischen Rechtsextremismus zu beobachten ist (vgl. Klärner 2008), so darf nicht übersehen werden, dass Rowdytum und Enthusiasmus junger Krieger ("Wir befinden uns im Krieg mit dem System" – so das Fronttransparent einer Demonstration) schwerlich zu kontrollieren sind, sie ihre eigenen Ziele verfolgen und ihre Disziplinierung dauerhaft nicht gelingt.
[1] Manche dieser so genannten "Freien Kräfte" entwickeln sich zu Herrschaftsträgern im Kleinen und terrorisieren ihre Umwelt.Einheitliche Politik zwischen den verschiedenen Gruppen ist schon deshalb ein Ding der Unmöglichkeit, weil die Primärmotive unterschiedlich sind. In Parteien
– mit ihrem höheren Personalbedarf – definiert sich der Zusammenhalt stärker politisch. Die Aufgabenstellung liegt nicht in risikoreicher Freizeitgestaltung, in gewalttätigen Auseinandersetzungen mit dem politischen Gegner oder der Polizei, sondern in der Absicht, langfristig und planmäßig auf die Wähler einzuwirken. Die vorletzte Generation in der rechten Szene – die sich "Autonome Nationalisten" nennt – ist hier und heute an Spaß und am Abenteuerurlaub in der "Reichshauptstadt" interessiert, ohne sich durch die Meinung potenzieller Wähler und spießiger Parteioberer behindern zu lassen. Ihre Ziele sind nicht Unterordnung, Parteibindung, finanzielle Belastung durch Beiträge, kontinuierliche, zeitintensive Parteiarbeit mit vagen Erfolgsaussichten. Antisemitische Äußerungen dienen hier von vornherein als probates Mittel zur Provokation. [2] Eine Lösung für den Widerspruch zwischen Spontaneität mit impulsiven Aktionen und dem Anspruch auf Langfristigkeit und einem komplexeren Verständnis von Politik ist nicht in Sicht.
Freilich sind die Grenzen zwischen Krawallszene und Partei nicht unüberwindbar, zeigt doch die Karriere etlicher militanter Neonazis, dass man problemlos, trotz erheblicher Vorstrafen, zwischen Gewaltmilieu und allen Funktionärsrängen wechseln kann. [3] Der im November 2011 zum NPD-Vorsitzenden gewählte Holger Apfel hatte zwar programmatisch von einer "seriösen Radikalität" gesprochen und damit wohl eine ideologische und praktische Zivilisierung der NPD beabsichtigt. Die Tatsache und die Umstände seines Rücktritts im Dezember 2013 zeigen indes, dass er innerhalb der NPD zu schwach war, um mehr als lediglich eine weiche Phase im jahrzehntealten "Hin und Her der Gewaltfrage" auszurufen (vgl. Staud/Radke 2012: 141). Nach Apfel wurde mit Udo Pastörs wieder ein Vertreter der harten Linie amtierender Parteivorsitzender, der die "tatkräftig(e)" Unterstützung seitens der "sogenannten Freien Kameradschaften" im Landtagswahlkampf Mecklenburg-Vorpommern 2011 ausdrücklich lobte (Pastörs 2014).
Konfrontiert man antisemitische Kernaussagen mit der sozialen Realität, so wirken sie lächerlich bis abstrus. Allein die Realitätsprüfung durch einen unvoreingenommenen Beobachter kann allerdings nicht die Attraktivität von antisemitischen Deutungen erklären. Dazu müssen die Bedeutungen und die Funktionen, die derartige Vorstellungen bei ihren Propagandisten und Rezipienten haben, beachtet werden (vgl. Pfahl-Traughber 1993). Für den Antisemitismus sind vier Funktionen zu nennen: 1) Identität, 2) Erkenntnis, 3) Mobilisierung und 4) Legitimation.
1) Antisemitische Vorstellungen vermitteln das Gefühl der Zugehörigkeit und zwar nicht über die Nennung von eigenen Identitätsmerkmalen, sondern über die Abgrenzung von der als "böse Macht" geltenden feindlichen Gruppe. Diese Wirkung erzielt das dualistische Weltbild, das von einem Kampf der "Guten" gegen die "Bösen" ausgeht (Identitätsfunktion). Mit der Markierung eines absoluten Feindes begründet sich die Fundamentalopposition gegen die Demokratie ("Artgleichheit" statt "Gleichheit") – einschließlich aller "Fremdkörper" und derjenigen, die überhaupt die Unterscheidung jüdisch-deutsch nicht treffen wollen.
Nun folgt der Wähler aber verlässlich nicht den "Rettern Deutschlands". Dem Bürger ist leidenschaftliche Verneinung suspekt. Bei Wahlen schneiden die rechtsextremen Parteien bisher in den westdeutschen Bundesländern zumeist mit dürftigen Stimmanteilen ab. Zwar sind ihre Ergebnisse in den ostdeutschen Ländern besser, dies dürfte jedoch nicht in den antisemitischen Aspekten ihrer politischen Positionen begründet sein. Diese relative Erfolglosigkeit ist aber für die Antisemiten kein Grund zur Revision ihrer Programmatik und zur Neujustierung ihrer ideologischen Identität. Vielmehr sehen sie darin den Beweis für die Macht der Juden und den Grad an Degeneration und Verblödung des eigenen Volkes, das dann als "Opfer der Umerziehung" oder als egoistischer "Amüsierpöbel" geschmäht wird. Scheitern wird uminterpretiert in eine Bestätigung der eigenen Weltsicht, und Gegenargumente werden flexibel neutralisiert. Unbeirrt von Rückschlägen, Niederlagen, Strafverfolgung hält der Dogmatiker an seinem Feindbild und damit an seinem Selbstbild fest. Um seine Glaubwürdigkeit zu bewahren, bleibt er standfest, irregeleitet bis in alle Fasern – aber eben sich selbst treu.
2) Das antisemitische Weltbild erleichtert seinen Anhängern das Verständnis komplexer historisch-politischer Entwicklungen, die ansonsten nur schwer erklärbar sind. Statt sich über die unterschiedlichen Ursachen eines besonderen Sachverhalts Gedanken zu machen, fällt es weitaus leichter, die Gründe für negativ eingeschätzte Entwicklungen in den schädigenden Handlungsweisen einer Feindgruppe zu suchen.
Wer steckt dahinter? Wer sind die Schuldigen? Wer ist der Verursacher? Anstelle der Suche nach Ursachen tritt die Fahndung nach Verursachern. Der Antisemit weiß nichts, kann aber alles erklären. Die antisemitische Erkenntnis bietet eine personalisierte Erklärung und zugleich eine Lösung für jedes Übel dieser Welt an (Antisemitismus als Erkenntnisinstrument). Als Formel zur Erklärung der Welt kommt dem Antisemitismus die zusätzliche Funktion zu, die verschiedenen Elemente rechtsextremer Ideologie auf einen Hauptfeind zu konzentrieren.
3) Auffassungen über das angeblich schändliche Treiben der Juden als den eigentlichen Verursachern negativer, politischer Entwicklungen können als "Entlarvung" oder als "Enthüllung" über die wahren Hintermänner und ihre Absichten auch zur Mobilisierung der jeweiligen Zielgruppe genutzt werden. Es wird dabei ein zentrales Feindbild geliefert, worauf sich alle als negativ geltenden Vorkommnisse im Sinne einer Schuldzuschreibung übertragen lassen (Sündenbockmechanismus, Mobilisierungsfunktion).
Eine Erklärung, die Antisemitismus lediglich als eine strategische Haltung versteht, die zur bewussten Manipulation des Publikums im Dienste von machiavellistischen Interessen eingesetzt wird, verkennt das Problem. Das kann Antisemitismus auch sein, wohl aber nur auf sekundäre Art und Weise. Einmal müssen antisemitische Ressentiments bereits bei den Adressaten vorhanden sein, sonst würde die Propaganda keinen Sinn ergeben, weil sie keine Resonanz findet. Zum anderen ist die überwiegende Zahl der Demagogen von ihrer "Wahrheit" überzeugt – sie ist fester Bestandteil ihrer persönlichen und kollektiven Identität. Antisemiten bluffen nicht, sie wollen nicht die anderen etwas glauben machen, woran sie selbst nicht glauben.
4) Sind die Schuldigen erkannt, dann legitimiert Antisemitismus auch Unterdrückungs-, Vertreibungsund Vernichtungsmaßnahmen. Die Behauptung von der zersetzenden jüdischen Macht dient als ideologische Begründung zur Bekämpfung von deren Protagonisten und Sympathisanten. Gleichzeitig verschaffen sich die Verfolger ein reines Gewissen, weil sie ja im Dienste einer guten Sache das Böse eindämmen (Legitimationsfunktion).
- [1] Ein Beispiel: Der frühere NPD-Parteivorsitzende Udo Voigt und weitere Funktionäre reisten im Frühjahr 2007 zu einer SS-Gedenkveranstaltung nach Budapest. Am Abend gab es ein Konzert u. a. mit Hardcore-Liedern der Band "Landser": "Adolf Hitler, steig hernieder, und regiere Deutschland wieder. Zum Himmel heben wir die Hand, für Führer, Volk und Vaterland". Aus lauter Begeisterung zeigten Norman Bordin und Matthias Fischer, Mitglieder im Vorstand der NPD Bayern, den
"Hitler-Gruß". Nachdem das Fernseh-Magazin "Panorama" (Nr. 679 vom 15. 3. 2007) davon Filmaufnahmen ausgestrahlt hatte, distanzierte sich anderen Tags der NPD-Generalsekretär Peter Marx von diesen "antisemitischen Ausfällen". Die beiden hätten mit einem Schiedsgerichtsverfahren zu rechnen. Aber Folgen hatte dies nicht, beide waren weiterhin in ihren Parteiämtern tätig und wurden als Kandidaten zur bayerischen Kommunalwahl aufgestellt.
- [2] Ein Transparent, dass mit seinem merkwürdigen Text mehrmals durch deutsche Straßen geschleppt wurde: "Tel Aviv ist nicht Berlin, Israel ist nicht Deutschland und Friedmann [sic!] ist nicht unser Freund!" Vgl. zur Entwicklung der "Autonomen Nationalisten": Schedler/Häusler (2011).
- [3] Ein Beispiel: Der fünfzehnfach vorbestrafte Lutz Giesen wurde im Juni 2008 Mitarbeiter der NPDFraktion im Schweriner Landtag (vgl. Ostsee-Zeitung, 19. 06. 2008).