Der Einsatz von Problemzentrierten Interviews – zwischen Offenheit und Zuschreibung von subjektiven Relevanzsystemen

In der Darlegung des methodischen Vorgehens wurde bereits darauf hingewiesen, dass das angewandte PZI nach Witzel (1982) eine Verbindung offener und strukturierter Passagen im Einzelinterview vorsieht. So wurde in der Konzeption des Leitfadens darauf geachtet, dass beide Elemente in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen und in den Interviews berücksichtigt werden. Rückblickend sind jedoch einzelne Erfahrungen zu diskutieren, die die Erhebung maßgeblich geprägt haben. In der Methodenliteratur wird diesbezüglich die Reflektion eigener und fremder „Relevanzstrukturen“ (Przyborski & Wohlrab-Sahr, 2008, S. 139) empfohlen. Ziel dabei ist es, subjektive Sichtweisen und Theorien möglichst zurückzustellen, um genügend Raum für die Darstellung und Positionierung des Befragten zu bieten bzw. keine falschen Impulse zu setzen – ein Aspekt, der im Rahmen der Stressund Bewältigungsforschung im Allgemeinen und einer geschlechtsreflektierten Forschungsfrage im Besonderen eine hohe Bedeutung zukommt. Hier stellt sich allerdings die Frage, wie dieser Anspruch rückblickend erfüllt werden konnte und welche Schwierigkeiten dabei deutlich wurden.

Der Leitfaden zielte auf eine sensible Annäherung an den Gegenstand Stress, indem nicht gleich zu Beginn nach belastenden Aspekten der Arbeitstätigkeit gefragt wurde. Diese Herangehensweise wurde auch vor dem Hintergrund zu erwartender Distanzierungen aus der Vergleichsgruppe der männlichen Agents gewählt. Entsprechend der Annahme, dass die Bereitschaft von Männern, über Krankheit, Gesundheit und Befinden zu berichten geringer ausgeprägt sei (Verbrugge, 1990), wurden Fragen zur Wahrnehmung der Belastungen erst im späteren Verlauf des Interviews gestellt. Als hilfreich hat sich an dieser Stelle erwiesen, dass in den Interviews die Annäherung an den Gegenstand Stress vorerst ohne direkten Gebrauch des Wortes erfolgte. Ziel sollte es sein, gleich zu Beginn eine eventuelle Distanzierung der Befragten aufgrund der negativen Konnotation zu vermeiden. Daraufhin konnten die Interviewten selbst entscheiden, mit welchen Darstellungsweisen sie ihre Wahrnehmung der Arbeitssituation umschreiben. Zumeist ergaben sich daraus unterschiedliche Thematisierungsmuster, die sowohl positive Bewältigungsstrategien als auch Entstehungsbedingungen von arbeitsbedingtem Stress umfassten.

Zur Erfassung subjektiver Bewältigungsstrategien enthielt der Leitfaden zudem Fragen, die auf Ausgleichsmöglichkeiten während und außerhalb der CCTätigkeit zielten. Hierbei stellte sich jedoch heraus, dass ein großer Teil der Befragten einen Ausgleich während der Tätigkeit aufgrund der Spezifika der Arbeitssituation – z. B. der Technisierung der Arbeitsabläufe und der damit einhergehenden Fremdbestimmung – völlig ausschloss. Daran wurde deutlich, dass eine direkte Übernahme ressourcenorientierter Ansätze in den Leitfaden das subjektive Relevanzsystem der Befragten verfehlte. Demgegenüber hat sich im Laufe der Auswertung gezeigt, dass sich eine Bewältigung der Arbeitsbedingungen durch komplexere Strategien auszeichnete als im Vorfeld angenommen. So zeigte sich in der Typenbildung, dass Formen der Autonomie und Selbstbestimmung in Lebensund Arbeitsentwürfen bei gleichzeitigem Erleben von monotonen und fremdbestimmten Arbeitsabläufen für die Befragten eine Art der Bewältigung von arbeitsbedingtem Stress darstellten.

Zum Ende des Leitfadens wurden explizite Fragen nach Geschlechtsunterschieden bei der Entstehung und Bewältigung von Stress gestellt. Im Rahmen dieser offenen Thematisierung der Vergleichsdimension Geschlecht ist zu vermuten, dass hierbei auch die Dynamik zwischen männlichem Interviewer und den befragten Frauen und Männern Einfluss auf die Erzählung übt. Beispielhaft sei hier auf eine Interviewsituation verwiesen, in der eine weibliche Befragte in Abgrenzung zum männlichen Interviewer explizit erläuterte, worin sich aus ihrer weiblichen Perspektive die Geschlechtsunterschiede in der Entstehung und Bewältigung von arbeitsbedingtem Stress begründen („Und Frauen geht es einmal im Monat nicht ganz so gut (lacht). Das muss man auch dazu sagen.“ I_6, Abs. 26, ♀46-50). Ebenfalls ist davon auszugehen, dass sich das männliche Geschlecht des Interviewers auf Inhalt und Intensität der Erzählung auswirken kann. Anzunehmen wäre, dass sich insbesondere die männlichen Probanden gegenüber dem männlichen Forscher in spezifischer Weise inszenieren, indem sie vorgeben, keinen Stress zu empfinden oder eine besonders kompetente Umgangsweise mit arbeitsbedingten Stressoren formulieren, um keine Schwächen einzugestehen.

 
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