Einleitung

Die Forschungsfrage

„Flickenteppich“ und „Kleinstaaterei“ – zumeist sind es diese beiden Bezeichnungen, die bemüht werden, wenn in der deutschen Öffentlichkeit von den unterschiedlichen Regelungen der deutschen Länder die Rede ist. Die föderale Vielfalt gilt weiten Teilen der Bevölkerung als Ärgernis. Umfragen bezeugen den zunehmenden Wunsch nach einer Schwächung der Länderkompetenzen und nach bundeseinheitlichen Regelungen in fast allen Politikfeldern (Grube 2009: 158). Eine wesentliche Ursache hierfür liegt in dem vorherrschenden Ideal einheitlicher Lebensbedingungen (Bertelsmann Stiftung 2008: 16).

Ausgehend von dem Leitbild eines Föderalstaates mit möglichst geringen sozialen Unterschieden wurde in der Bundesrepublik ein umfangreiches System des Finanzausgleichs und überregionaler Sozialtransfers etabliert. Als Konsequenz ist Sozialpolitik in Deutschland vor allem eine Angelegenheit des Bundes. Für die Länder konstatieren Beobachter hingegen eine „weitgehende Bedeutungslosigkeit […] im Politikfeld Soziales“ (Schieren 2008a: 237-238). Ihre Kompetenzen lägen „an der unteren Grenze des Bestandes […], der rechtlich noch vom Begriff der Eigenstaatlichkeit gedeckt ist“ (Schieren 2008a: 225).

In auffälligem Widerspruch zu diesem deutlichen Urteil stehen zahlreiche Äußerungen namhafter politischer Akteure. So beklagte die damalige Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, dass die Länder den Kita-Ausbau „vor die Wand fahren lassen“ (Süddeutsche Zeitung 2012) und der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe nimmt die Länder in die Pflicht, ihrer Aufgabe in der Krankenhausförderung nachzukommen (Süddeutsche Zeitung 2014). Diese Aussagen deuten darauf hin, dass die Länder auch in der Sozialpolitik wichtige Aufgaben mit eigenem Gestaltungsspielraum besitzen.

Die Gewährleistung eines bedarfsgerechten und flächendeckenden Angebots an sozialpolitischer Infrastruktur ist eine der zentralen Herausforderungen des deutschen Wohlfahrtsstaats. Insbesondere die letzten zwei Dekaden können als entscheidende Phase der Angebotsentwicklung im sozialund gesundheitspolitischen Dienstleistungsbereich angesehen werden. So hat die Kindertagesbetreuung angesichts der wachsenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung einer besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie zunehmender bildungspolitischer Anforderungen eine enorme Aufwertung erfahren. Infolge der Einführung von Rechtsansprüchen auf einen Betreuungsplatz für Dreibis Sechsjährige zum Jahr 1996/99 sowie für unter Dreijährige zum August 2013 sind im gesamten Bundesgebiet zwischen 1991 und Anfang 2013 knapp 625.000 neue Betreuungsplätze für Kinder im Alter von ein bis sechs Jahren entstanden (Statistisches Bundesamt 1992, 2013g). Ähnliche Entwicklungen sind im stationären Pflegesektor zu beobachten, in dem mit der Einführung der Sozialen Pflegeversicherung Mitte der 1990er Jahre auf die steigende Zahl pflegebedürftiger Personen reagiert wurde. Allein in der Zeitspanne zwischen 1999 und 2011 sind knapp 3.500 Pflegeeinrichtungen (+39,5%) und 230.000 Pflegeplätze (+35,6%) neu entstanden (Statistisches Bundesamt 2001c, 2013e). Für den Krankenhaussektor ist hingegen aufgrund des medizinischen Fortschritts sowie der stufenweisen Umstellung auf ein wettbewerbsorientiertes Finanzierungsverfahren die gegenteilige Entwicklung zu beobachten. Zwischen 1991 und 2012 ist die Anzahl der Krankenhäuser in Deutschland von 3.592 im Jahr 1991 auf 2.017 im Jahr 2012 gesunken (-43,8%). Die Anzahl der aufgestellten Krankenhausbetten ist im gleichen Zeitraum von 810.000 auf 501.000 zurückgegangen (-38,1%) (Statistisches Bundesamt 1993, 2014a). Entscheidend bei diesem Prozess ist es, den notwendigen Bettenabbau so zu gestalten, dass der Versorgungsauftrag der Krankenhäuser nicht gefährdet wird.

Als Bestandteil der öffentlichen Daseinsvorsorge fällt die Verantwortung für die Gestaltung dieser Entwicklungen dem Staat zu. Begibt man sich jedoch in den bundesgesetzlichen Bestimmungen auf die Suche nach genaueren Informationen zu Fragen der Angebotssteuerung, so findet man stets den Verweis: „Das Nähere regelt das Landesrecht.“

Die Länder nehmen somit bei Fragen der Sicherstellung der sozialpolitischen Infrastruktur eine zentrale Rolle ein. Indem sie die groben Rahmenvorgaben des Bundes konkretisieren und somit das Handeln der Kommunen und Träger strukturieren und lenken, kommt ihnen eine wichtige Steuerungsfunktion zu. Weitestgehend unbeachtet von der öffentlichen Wahrnehmung und wissenschaftlichen Betrachtung tragen die Länder Verantwortung für zentrale gesellschaftspolitische Herausforderungen unserer Zeit. Dabei genießen sie einen recht weiten Gestaltungsspielraum, der sich in großen Unterschieden zwischen den Ländern manifestiert.

Die Existenz dieser Unterschiede wird in der Literatur zwar sporadisch betont, jedoch wurden sie bisher weder systematisch analysiert, noch wurden die Gründe für diese Vielfalt untersucht. Trotz ihrer entscheidenden Funktion ist die sozialpolitische Rolle der Länder in der Wissenschaft bisher kaum untersucht und zumeist gravierend unterschätzt worden. Sie sind die vergessene Ebene im Mehrebenensystem der deutschen Sozialpolitik.

Diese Arbeit widmet sich dieser Forschungslücke. Dabei verfolgt sie zwei aufeinander aufbauende Forschungsfragen.

1) Welche Unterschiede existieren zwischen den Ländern in der Angebotssteuerung im Bereich der Kindertagesstätten, rankenhäuser und stationären Pflegeeinrichtungen?

Dabei ist die Vielfalt der Länderregelungen grundsätzlich erklärungsbedürftig. Denn der Handlungsauftrag der Länder leitet sich aus bundesgesetzlichen Vorgaben ab und ist somit für alle Länder identisch. Das zweite politikwissenschaftliche Rätsel, das in dieser Arbeit als Forschungsfrage untersucht wird, ist folglich:

2) Warum gibt es so große Unterschiede in der Steuerung der sozialpolitischen Infrastruktur durch die Länder, obwohl sie alle den gleichen bundesgesetzlichen Auftrag verfolgen?

Die Angebotssteuerung der Kindertagesstätten, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen stellt – gemessen an ihrer Ausgabenhöhe – die mit Abstand bedeutsamste sozialpolitische Aufgabe der Länder dar (sofern die durch Bundesrecht vorgegebenen Sozialhilfeausgaben nicht berücksichtigt werden)(vgl. Tabelle 1).

Der Analysezeitraum dieser Arbeit beginnt nach der Wiedervereinigung im Jahr 1991 und erstreckt sich bis in das Jahr 2013. Diese Längsschnittanalyse wurde gewählt, um neben den Unterschieden zwischen den Ländern auch die Veränderungen im Zeitverlauf erfassen zu können.

Diese Arbeit betritt in vielerlei Hinsicht politikwissenschaftlich weitgehend unbekanntes Terrain. Die Abweichungen zum bestehenden wissenschaftlichen Kanon liegen in

• der Analyseebene: Sozialpolitik auf Länderebene,

• der abhängigen Variablen: Steuerung statt Ausgaben, sowie

• der Theorie: Anwendung auf Länderebene.

Politikfeld Gestaltungsspielraum Quant. Bedeutung

Arbeitsmarkt

Hoch

Hoch

Blindengeld

Hoch

Niedrig

Krankenhausfinanzierung

Hoch

Hoch

Pflege

Hoch

Hoch

Kinderund Jugendhilfe

Hoch

Hoch

Sozialhilfe

Niedrig

Hoch

Tabelle 1: Gestaltungsspielraum der Landessozialpolitik nach Politikfeld

 
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