Aufbruch ins digitale Zeitalter – Entwicklung rechtsextremistischer Internetangebote
Als das Modell späterer rechtsextremistischer Web-Propaganda bezeichnet das New Yorker Simon Wiesenthal Center die 1983 eingerichteten Computer-Mailboxen des US-Neonazis George Dietz (West Virginia), die eigene Schriften und solche gleich gesinnter Autoren online verfügbar machten. Wenig später knüpfte der "Ku-KluxKlan"-Aktivist Louis Ray Beam an dieser Technik an ("Aryan Nations Liberty Net"), gefolgt vom militanten Skinhead-Führer Tom Metzger ("White Aryan Resistance", WAR). Den strategischen Nutzen moderner Kommunikationsmittel exerzierten die frühen Online-Aktivisten vor – entsprechend stiegen US-amerikanische Neonazis ins World Wide Web ein, sobald diese Technologie dem breiten Publikum zur Verfügung stand (vgl. iReport 2008: 6).
Generell hat die Produktion eigener Medien für den deutschen Rechtsextremismus seit den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen. Dies gilt umso mehr, je stärker dieses politische Lager von losen Strukturen geprägt ist: Flexible Aktionsbündnisse, informelle Projekte und regionale "Kameradschaften" haben starren Organisationen den Rang abgelaufen. Den Hintergrund bilden nicht zuletzt die Verbotswellen neonazistischer Organisationen der 1990er Jahre. Autonome Strukturen, wie sie sich im Aufbau der "Kameradschaften" spiegeln, erschweren staatliche Repression. Vernetzung genießt seither Priorität vor formalen Hierarchien – für die Vernetzung bietet kein Medium bessere Voraussetzungen als das Internet. Entsprechend prägte computertechnische Aufbruchsstimmung in den 1990er Jahren Teile des deutschen Rechtsextremismus, insbesondere seine jüngeren Anhänger. Beginnend mit dem Mailboxnetz "Thule-Netz" (ab 1993), mit ersten Websites ab 1995 machten sich deutsche Aktivisten die Computertechnik zu eigen. In jüngster Zeit hat die Ausbildung autonomer Strukturen einen weiteren Schub erfahren: Etwa seit dem Jahr 2005 ist mit den "Autonomen Nationalisten" (AN) eine neonazistische Strömung im neuen Stil auf den Plan getreten. Für die AN sind der revolutionäre Gestus typisch sowie Symbole und Begriffe, die linksautonomen Gruppen entliehen sind. Auf diese Weise prägen sie inzwischen das Bild der Neonazi-Szene. Gerade für diese Strömung spielt das Internet eine wichtige Rolle.
Die Zahl rechtsextremistischer Websites ist in den 1990er Jahren – in denen das Internet boomte – rapide gestiegen und bewegt sich heute auf hohem Niveau: Die Verfassungsschutzbehörden gehen seit dem Jahr 2005 von rund 1 000 deutschsprachigen Seiten aus, für 2012 und 2013 von einem leichten Rückgang auf 950 bzw. 880 (Bundesministerium des Innern 2014: 54). Da die Zählweisen nicht übereinstimmen, lassen sich diese Daten nur sehr eingeschränkt mit den Zahlen anderer Stellen vergleichen. Auch jugendschutz.net stellt in seinem Bericht für das Jahr 2012 erstmals eine etwas niedrigere Zahl deutschsprachiger rechtsextremistischer Websites fest (von 1 671 im Jahr 2011 auf 1 519 Angebote), 2013 hat sich die Zahl wieder leicht auf 1 628 erhöht. Demnach spielen die Dienste des Web 2.0 für Rechtsextremisten inzwischen die entscheidende Rolle. In diesem Bereich fand 2012 ein Anstieg um fast 50 Prozent statt. Um 35 Prozent stieg die Zahl der rechtsextremistischen "Twitter"-Kanäle, 2013 erneut um ein Viertel auf 115 Kanäle. Insgesamt erhöhte sich von 2011 auf 2012 die Zahl der von jugendschutz.net dokumentierten rechtsextremistischen Internetpräsenzen um fast ein Drittel auf über 7 000 Websites und Beiträge im Web 2.0. 2013 ging die Zahl auf 5 507 Angebote zurück. [1]
Auch das Simon Wiesenthal Center veröffentlicht regelmäßig Bestandsaufnahmen über Zahl, Inhalt und Technik der "Hate-Pages". Den jüngsten Report "Digital Terrorism & Hate" vom Mai 2014 stützte das Center auf rund 30 000 entsprechende Websites weltweit (2013: 20 000). [2] Die Dunkelziffer dürfte nach wie vor erheblich sein. Mehr noch als die quantitative Entwicklung sind qualitative Prozesse bemerkenswert. Das Bild des Rechtsextremismus im Internet hat sich kontinuierlich verändert: Viele Websites sind inzwischen mit Sachverstand erstellt – manche Betreiber integrieren neue technische Möglichkeiten umgehend in ihre Internetpräsenzen. Optische Effekte, Intros und Chatrooms zählen seit Langem zu den Standards. Zuletzt sind vor allem rechtsextremistische Apps für Handys oder Tablett-Computer hinzugekommen und QR-Codes im Netz und auf Flyern, die über das Smartphone auf rechtsextremistische Internetangebote führen. [3] Als neonazistisches "Guerillamarketing" bezeichnet jugendschutz.net zum Beispiel das Überkleben von QR-Codes auf Kinoplakaten, um Filmfans so auf rechtsextremistische Websites zu leiten. [4] Etwa seit 2005 steht das Schlagwort Web 2.0 für neue Anwendungsmöglichkeiten, die das Netz interaktiver gemacht haben: Wikis, Blogs oder Videoportale und vor allem soziale Netzwerke wie "Facebook" (zum Begriff Web 2.0 vgl. O'Reilly 2005). Dasselbe ist gemeint, wenn vom Social Web die Rede ist. Diese multimedialen Mitmachangebote prägen inzwischen die Netzaktivitäten von Jugendlichen – auch in der Online-Welt des Rechtsextremismus drängen sie statische Websites in den Hintergrund.
Darüber hinaus hat sich die Konkretisierung des deutschen Online-Rechts auf rechtsextremistische Internetangebote ausgewirkt. Zur Klärung der Rechtslage haben beispielsweise das Informationsund Kommunikationsdienste-Gesetz (1997), der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (2002) und entsprechende, zum Teil höchstrichterliche Rechtsprechung beigetragen. Thomas Günter geht davon aus, dass das Internet "aufgrund seiner Schnelligkeit, der Flüchtigkeit der Inhalte und der unmittelbaren Verfügbarkeit von Angeboten über Ländergrenzen hinweg eine Sonderstellung unter den medialen Verbreitungsformen" einnimmt – dem könne mit rechtlichen Mitteln nicht immer ausreichend Rechnung getragen werden (vgl. Günter 2013: 83). Kein Zweifel besteht an dem Grundsatz, dass auch im Internet verboten bleibt, was offline illegal ist. Der Rechtsprechung zur Haftung für Links zufolge kann sich strafbar machen, wer bekanntermaßen strafbare Inhalte auf diese Weise zugänglich macht. Auch Inhalte, die außerhalb Deutschlands ins Netz eingespeist werden, können den Straftatbestand der Volksverhetzung nach deutschem Recht erfüllen.
An Bedeutung gewonnen haben in den vergangenen Jahren Maßnahmen gegen rechtsextremistische Internetangebote mit den Mitteln des Jugendmedienschutzes. Die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPjM) kann Indizierungen auch dann aussprechen, wenn der Inhalt einer Website zwar nicht gegen Strafgesetze verstößt, aber die sozialethische Orientierung von Jugendlichen gefährdet. Indizierte Internetangebote sind grundsätzlich unzulässig, wenn der Betreiber den Zugriff von Jugendlichen nicht durch bestimmte Vorkehrungen verhindert. Anonym eingespeiste Angebote verschwinden durch die Indizierungen oft nicht aus dem Netz, gängige Suchmaschinen zeigen sie aber nicht mehr als Suchtreffer an (vgl. Günter 2013: 94 f.; Glaser 2013: 127). Zumindest die Erreichbarkeit der Seiten wird dadurch erschwert. Bis Ende Juli 2014 hatte die BPjM insgesamt 3 520 Internetangebote indiziert, darunter 239 Angebote, die Nationalsozialismus oder Krieg verherrlichen oder verharmlosen oder rassistisch sind. [5] Diese Entwicklungen – in Verbindung mit einem generellen Trend zur symbolischen und verbalen Tarnung im Rechtsextremismus – haben dazu geführt, dass strafbare Inhalte auf deutschsprachigen rechtsextremistischen Internetangeboten heute weniger präsent sind als in der Frühphase des Netzes. In jüngster Zeit zeigt sich allerdings, dass strafbare rechtsextremistische Inhalte insbesondere im Web 2.0 wieder vermehrt auftauchen, meist auf ausländischen Servern wie VK (siehe 4.2). Die Zahl der von jugendschutz.net dokumentierten rechtsextremistischen Internetangebote, die jugendschutzrechtlich oder strafrechtlich unzulässig sind, erreichte 2013 den höchsten Stand seit Beginn des Monitorings der Organisation im Jahr 2001 (1 842 Fälle). [6]
- [1] Vgl. jugendschutz.net (2014): Rechtsextremismus online. beobachten und nachhaltig bekämpfen. Bericht über Recherchen und Maßnahmen im Jahr 2013. In: hass-im-netz.info/fileadmin/ dateien/pk2014/bericht2013.pdf (zuletzt abgerufen am 12. 08. 14): 3 f. und jugendschutz.net (2013): Rechtsextremismus online. beobachten und nachhaltig bekämpfen. Bericht über Recherchen und Maßnahmen im Jahr 2012. In: hass-im-netz.info/fileadmin/dateien/pk2013/bericht2012.pdf (zuletzt abgerufen am 12. 08. 14): 3 f.
- [2] Vgl. Simon Wiesenthal Center, Manhattan DA Release ›Troubling‹ Internet Hate and Terrorism Report. In: jpupdates.com/2014/05/01/simon-wiesenthal-center-manhattan-da-release-trou- bling-internet-hate-terrorism-report/ (zuletzt abgerufen am 07. 07. 14).
- [3] jugendschutz.net (2013): Rechtsextremismus online. beobachten und wirksam bekämpfen: 5 f.
- [4] jugendschutz.net (2014): Rechtsextremismus online. beobachten und wirksam bekämpfen: 8.
- [5] E-Mail der BPjM vom 13. 08. 14.
- [6] jugendschutz.net (2014): Rechtsextremismus online. beobachten und wirksam bekämpfen: 11.