Funktionen und strategische Bedeutung rechtsextremistischer Internetangebote
4.1 Gegenöffentlichkeit und Breitenwirkung – Kommunikationsziele neuer sozialer Bewegungen
Der deutsche Rechtsextremismus in seiner zeitgenössischen Gestalt ist als eine neue soziale Bewegung zu verstehen. Darauf hat der Politikwissenschaftler Hans-Gerd Jaschke bereits in den frühen 1990er Jahren hingewiesen (vgl. Jaschke 1993). Demnach ist diese Szene in ihren heutigen Strukturen und Aktionsweisen – selbstverständlich nicht in ihren Inhalten und Zielen – den überwiegend links orientierten neuen sozialen Bewegungen der 1960er bis 1980er Jahre vergleichbar wie den Studenten-, Friedens-, Öko-, Frauenoder Dritte-Welt-Bewegungen. Dafür sprechen beispielsweise die informellen Organisationsformen und eine politische Agitation, die in erheblichem Maße im vorpolitischen Raum ansetzt. Vor diesem Hintergrund lässt ein kursorischer Blick auf die grundlegenden Kommunikationsziele neuer sozialer Bewegungen die spezifischen Funktionen rechtsextremistischer Internetangebote und ihre Bedeutung für diese Bewegung schärfer hervortreten.
Die kommunikativen Stränge erfolgreicher Bewegungen verlaufen gleichermaßen nach innen (Gegenöffentlichkeit) und nach außen (Breitenwirkung). Nach innen kann ein politisches Lager, das als "Netzwerk von Netzwerken" strukturiert ist – wie der Soziologe Friedhelm Neidhardt neue soziale Bewegungen beschrieben hat (Neidhardt 1985: 197 ff.) –, seine Anhänger nicht allein mithilfe zentraler Organe erreichen, vielmehr bedarf es einer Vielzahl bewegungseigener Informationskanäle. Der Begriff der Gegenöffentlichkeit trat seine Karriere in der Studentenbewegung an und war zunächst ein vager Gegenbegriff zu "einer von Massenmedien und politischen Autoritäten manipulierten Öffentlichkeit. Gerichtet gegen die ›Manipulationszentren‹ und die täglichen ›Produktionsund Reproduktionsorgane‹, die Öffentlichkeit dem Scheine nach herstellen. Insofern ist Gegenöffentlichkeit auch ein Kampfbegriff, der sich gegen das, den Herrschaftszusammenhang legitimierende Mediensystem wendet, gegen dessen Struktur und Arbeitsweise." (Stamm 1988: 40)
Die Kritik der massenmedialen "Manipulation" ist durch die Kritische Theorie geprägt, insbesondere durch Adorno, Horkheimer und Marcuse. Ausgehend von Brechts Rundfunktheorie, gab Enzensberger linker Medienkritik eine positive Wendung, indem er als Kontrast eine "Gegenöffentlichkeit" beschrieb, die auf emanzipatorischen Inhalten und Praktiken basieren sollte (vgl. Enzensberger 1970).
Rechtliche Grenzen, die die eigenen Gestaltungsspielräume beschränken, und geringer Zugang zu etablierten Kommunikationswegen sind wesentliche Gründe, aus denen heraus sich auch die rechtsextremistische Bewegung auf Konzepte von Gegenöffentlichkeit beruft. Am pointiertesten kommt dies in der Schrift "Schafft befreite Zonen. Revolutionärer Weg konkret" zum Ausdruck. Im selben Umfeld – dem der NPD-Nachwuchsorganisation "Junge Nationaldemokraten" – entstand 1993 der Mailboxverbund "Thule-Netz", der mit dem Slogan "Wir sind drinnen – der Staat ist draußen" und dem Anspruch antrat:
"Mit den Mailboxen des THULE-Netzes wollen wir eine Gegenöffentlichkeit schaffen – politisch, national. In den Mailboxen des THULE-Netzes stehen Texte und Informationen zu Themen wie: Anti-Antifa, Europäischer Nationalismus, Gesellschaft, Jugendzeitungen, Kultur, Medien, Organisation, Konservative Revolution, Recht, Zeitgeschichte und vielen anderen Bereichen mehr. Über das Netz lassen sich nationale Aktivisten und Pressedienste, Verlage und Parteien erreichen." (Einleitung o. Dat.)
Der Begriff ist auch hier als Abwendung von Staat und etablierten Massenmedien zu verstehen. Die rechtsextremistische Vorstellung von Gegenöffentlichkeit umfasst jenes normativ-emanzipatorische Moment jedoch allenfalls in rudimentärer Form, an das ihn vorangegangene neue soziale Bewegungen untrennbar gebunden hatten. Im Rechtsextremismus ist der Begriff kaum theoretisch fundiert – gleichwohl bezeichnet er auch hier eine Abkehr von formal-hierarchischen Diskursen zugunsten loser Vernetzung, die hier maßgeblich strategisch motiviert ist und sich in Computernetzen besonders effektiv verwirklichen lässt. Zur Gegenöffentlichkeit der rechtsextremistischen Bewegung tragen Medien mit unterschiedlichen Profilen und Zielgruppen bei. Sie begegnen auch der Gefahr, dass die Bewegung angesichts ihrer informellen Strukturen und eines heterogenen Erscheinungsbildes zerfranst: Informationelle Vernetzung und symbolische Integration führen sie zusammen und machen sie aktionsund strategiefähig. Bewegungsmedien wirken somit als ein "informationelles Kapillarsystem", das Kampagnenthemen verbreitet, Begriffe und Ideologieelemente generiert (vgl. Pfeiffer 2002: 342).
Auf der anderen Seite versandete eine Bewegung oder würde zur Sekte, drehte sie sich ausschließlich um die eigene Achse und könnte sie nicht eine gewisse Breitenwirkung entfalten. Die "Mobilisierung von Bewegungsanhängern sowie die Erlangung öffentlicher Aufmerksamkeit und Zustimmung" sind ihre zentralen Ressourcen (Rucht 1994b: 348, 339). Vorangetrieben durch die Aktivisten im Kern der Bewegung, die Bewegungseliten, ist es ihr wichtigstes Ziel, möglichst viele außen stehende Personen zu binden: "Bystanders" zumindest in Sympathisanten zu verwandeln (vgl. Rucht 1994a: 86). Bewegungsmedien können die Kommunikation in beide Richtungen maßgeblich unterstützen. Sowohl für die Schaffung von Gegenöffentlichkeit wie für die Breitenwirkung bieten Computernetzwerke besonders günstige Voraussetzungen. Von ihrem Beitrag zu einem dieser zentralen Ziele oder zu beiden hängt der strategische Nutzen einzelner rechtsextremistischer Internetangebote ab. Diesen Funktionen gehen die folgenden Abschnitte genauer nach.
4.2 Vernetzung
Kontakt und Kooperation rechtsextremistischer Gruppen auf nationaler und internationaler Ebene zu fördern zählt seit ihrem Entstehen zu den erklärten Hauptfunktionen entsprechender Internetpräsenzen. So sah sich die "Stormfront"-Page – die 1995 als Prototyp neonazistischer Websites ans Netz ging – als:
"resource for those courageous men and women fighting to preserve their White Western culture, ideals and freedom of speech and association. A forum for planning strategies and forming political and social groups to ensure victory". [1]
Heute umfasst die Seite eine Sammlung von Diskussionsforen zu zahlreichen Themen ("Stormfront White Nationalist Community" [2]). Rechtsextremistische Webforen dienen als Informationsund Kontaktbörsen sowie als Unterhaltungsplattform für Szenegänger. In diesen Funktionen tragen sie erheblich zur Vernetzung bei, werden aber zunehmend von virtuellen Gruppen im Web 2.0 abgelöst. Zu den wichtigsten Foren und Weblogs der Szene zählten bis 2012 das "Thiazi-Forum" ("Germanische Weltnetzgemeinschaft"), das zuletzt über mehr als 20 000 aktive Nutzer verfügte, und der Blog "Altermedia" ("World Wide News For People of European Descent").
In Webforen und im Web 2.0 finden virtuelle Begegnungen mit saloppem, nicht selten rauem Umgangston statt. In dieser Umgebung entwickelt sich eine tatsächliche oder empfundene Vertrautheit regelmäßiger User, die Forum-Communitys entstehen lässt. Unmittelbare Kontakte können Forumstreffen stiften, die in den unterschiedlichsten Foren des Internets recht häufig verabredet werden, gelegentlich auch in rechtsextremistischen. Somit finden Diskussionen in Webforen zwar in vertraulicher Atmosphäre, grundsätzlich aber (netz)öffentlich und damit ungeschützt statt. Daher sprechen sich rechtsextremistische Aktivisten seit einigen Jahren dafür aus, interne Diskussionen ausschließlich in Foren zu führen, die nur nach Anmeldung eingesehen werden können und auf Verschlüsselungssoftware für vertrauliche Nachrichten zurückzugreifen. Die meisten rechtsextremistischen Foren und Gruppen in sozialen Netzwerken umfassen geschützte Bereiche, die für Außenstehende nicht zugänglich sind. Zwar ist auch "Facebook" nach wie vor ein wichtiges Vernetzungsinstrument für Rechtsextremisten, allerdings hat sich die Plattform als prekär erwiesen: Das Unternehmen hat wiederholt rechtsextremistische Nutzerprofile und Gruppen gelöscht (vgl. Ministerium für Inneres und Kommunales NRW 2014: 86). Als eine Ausweichmöglichkeit nutzen gerade Neonazis zum Beispiel den russischen Dienst VK.com. Dort findet sich inzwischen eine Fülle strafbarer Inhalte: "Neben verbotenen Kennzeichen, volksverhetzenden und holocaustleugnenden Inhalten präsentieren Neonazis auf VK vor allem Gewaltund Tötungsphantasien gegen Minderheiten, die sie als Feinde betrachten." jugendschutz.net zufolge stammte im Juli 2013 jedes fünfte Mitglied der besonders aggressiven Gruppe "Aryan Terror Brigade/Combat 18" aus Deutschland. Seither hat VK für Rechtsextremisten weiter an Bedeutung gewonnen. [3]
Portale der "Aktionsgruppen", "Kameradschaften" oder kameradschaftsähnlicher Gruppen sind im neonazistischen Teilbereich des Rechtsextremismus wichtige Vernetzungsinstrumente. Diese Websites liefern aktuelle Übersichten über Termine neonazistischer Demonstrationen und Kundgebungen, Hinweise zu rechtlichen Auflagen, Kontakttelefonnummern oder Mailadressen für Anreiseinformationen sowie fertig gestaltete Flugblätter und Broschüren zum Download und weitergehende rechtliche Hinweise für Aktivisten.
Bernd Nickolay spricht in seiner 1999 abgeschlossenen Studie über das Internet als Mobilisierungskapital einer rechtsextremistischen Bewegung von "umfassende[n] Vernetzungen" des "gesamten rechten Lagers im Internet". Die einzelnen Einheiten seien in hohem Maße verbunden – nicht nur durch Links, sondern "in vielen Fällen auch durch die gegenseitige Übernahme ideologischer Texte und Schriften aus den verschiedenen Segmenten des rechtsextremen Spektrums" (Nickolay 2000: 340).
Aus gegenwärtiger Sicht erscheint die Feststellung überzogen. Einerseits macht gerade die Leichtigkeit, mit der Websites verlinkt werden können, auch die Schwierigkeit deutlich, den Grad der Vernetzung zu messen: Steht ein Link für einen tatsächlichen Kontakt oder gar eine Zusammenarbeit – oder wird beides simuliert? Ersteres ist möglich: So geht die Verlinkung von Websites in der Szenerie der Holocaust-Leugner mit einer langjährigen publizistischen Kooperation der Akteure einher, mit persönlichen Bekanntschaften und einem Zitier-Kartell, die auf diese Weise abgestützt werden. Links auf Websites der NPD und mit ihr verbündeter freier "Kameradschaften" spiegeln die Zusammenarbeit im Rahmen des "Nationalen Widerstandes", die mit einer gewissen symbolischen Integration – einem gemeinsamen Wir-Gefühl – verbunden ist. Andererseits sind Rivalitäten trotz erkennbarer Bündnisbemühungen keineswegs aus dem deutschen Rechtsextremismus verschwunden – Links werden mitunter mit Bedacht vermieden, um sich von bestimmten Gruppen abzugrenzen. Auch die Rechtsprechung zur Haftung für Links hat den Grad der Verlinkung verringert: Namentlich bekannte Betreiber rechtsextremistischer deutscher Websites setzen in der Regel keine Links auf strafbare Inhalte.
Grundsätzlich ist das Internet gerade für internationale Vernetzung bestens geeignet. Ausmaß und Qualität der Verbindungen rechtsextremistischer Akteure im Inund Ausland werden in der Forschung unterschiedlich akzentuiert. Thomas Grumke geht von einem globalisierten Rechtsextremismus aus – einem "transnationalen Netzwerk", das von einer "kollektiven Identität und einer international kompatiblen Ideologie getragen" werde. Das wichtigste Element der "transnationalen Infrastruktur" dieser Szenen sei das Internet (vgl. Grumke 2012: 63, Grumke 2006: 130). Dagegen weist Christoph Busch darauf hin, dem internationalen Austausch und der Kooperation von Rechtsextremisten mithilfe des Internets ständen nach wie vor erhebliche Hindernisse entgegen: vor allem fehlende Fremdsprachenkenntnisse, fehlende gemeinsame Interessen der Organisationen im Inund Ausland sowie die Ideologie des Ultranationalismus. Bei der internationalen Zusammenarbeit von Rechtsextremisten handele es sich "oftmals lediglich um symbolische Politik auf niedrigem Niveau" (vgl. Busch i. E.).
4.3 Mobilisierung
In dem Maße, in dem der deutsche Rechtsextremismus den Charakter einer neuen sozialen Bewegung angenommen hat, steigt die Bedeutung direkter Aktionen. Dies gilt vor allem für Demonstrationen und Kundgebungen der NPD sowie der NeonaziSzene. Die strategischen Funktionen solcher Veranstaltungen bringt Fabian Virchow mit dem Begriff der "Demonstrationspolitik" zum Ausdruck: Demnach dienen Demonstrationen nicht nur dazu, Öffentlichkeit für rechtsextremistische Positionen herzustellen, sie seien auch "Teil einer Politik der Machtentfaltung und Machtprobe gegenüber Instanzen des Staates und zivilgesellschaftlichen Akteuren" (vgl. Virchow 2011: 114 f.). Für rechtsextremistische Demonstrationen ist das Internet das Mobilisierungsmedium Nummer eins.
Dies zeigt der Blick auf die Portale neonazistischer Gruppierungen. Demonstrationstermine stehen sehr häufig im Zentrum dieser Seiten. Hintergrundinformationen und konkrete Hinweise gehen vor bedeutenden Veranstaltungen aus Sonderseiten hervor: Ein typisches Beispiel ist die Sonderseite zur achten Demonstration neonazistischer Kräfte unter dem Motto "Gefangen – Gefoltert – Gemordet! Damals wie heute: Besatzer raus!" am 3. August 2013 im niedersächsischen Bad Nenndorf. Die Seite wird acht Monate vor der Veranstaltung geschaltet und fortlaufend mit Informationen gefüllt, zunächst vor allem mit Berichten über Mobilisierungsevents zur Demonstration ("Aktion ›Da ist was unterwegs‹"). Sie nennt Ort, Zeit, Treffpunkt der Demonstration, eine Kontaktmöglichkeit per E-Mail und enthält ein Formular, um online für die Veranstaltung zu spenden. Die Website bietet Mobilisierungsmedien wie Plakate, Aufkleber und Flugblätter zum Download oder zur Bestellung an, Webbanner und QR-Code zum Verweis auf die Seite. Eine Bilderbibliothek enthält Fotos, auf denen Kleingruppen bundesweit in verschiedenen Städten mit dem Transparent posieren: "Achtung! Britisches Folterlager/Bad Nenndorf", das auch die Adresse der Mobilisierungsseite zeigt. Nach wie vor verlinkt sind die sieben Mobilisierungsseiten der Vorjahre, sodass eine gewisse Traditionsbildung dieser Märsche entsteht. Darüber hinaus liefert die Website Texte zum Hintergrund der Veranstaltung: Sie nimmt ein ehemaliges britisches Verhörlager in Bad Nenndorf zum Anlass, historische "Lügengebilde" und einen "seit Kriegsende gezüchtete[n] Schuldkomplex" zu attackieren. Auf diese Weise knüpft sie an geschichtsrevisionistischen Diskursen an. Am Vorabend der Demonstration meldet die Seite:
"Der Abend des Ehrenmarsches in Bad Nenndorf ist angebrochen und entspannt können wir dem morgigen Tag entgegenblicken. Die Anreiseverbindungen wurden an die Gruppen versendet und sind bei den üblichen Quellen zu erfragen. Für weitere Informationen und Fragen nutzt bitte das Kontaktformular sowie unsere Infonummer, die in Kürze erreichbar sein wird. Wir werden Euch mit unserem Twitter ab ca. 9 Uhr über die aktuelle Situation auf dem laufenden halten." [4]
Die Website verbindet netzöffentliche Ankündigungen mit Hinweisen auf informelle persönliche Kontakte, über die sensible Informationen weitergegeben werden. Wie hier entspricht es üblichem Kommunikationsverhalten auf rechtsextremistischen Internetpräsenzen, prekäre Details anzudeuten – nähere Hinweise erhalten Personen aus dem engeren Umfeld auf vertraulichem Wege.
Im Falle von langfristig vorbereiteten Veranstaltungen an symbolisch neuralgischen Orten und/oder Daten haben sich in der Vergangenheit Mobilisierungswellen herausgestellt, in denen unterschiedliche Medientypen im Vordergrund stehen. Das Internet ist in der dritten und kurzfristigen Mobilisierungsphase für die Veranstalter entscheidend – insbesondere weil sich die Rechtslage noch in den letzten Stunden vor der Demonstration ändern kann. In der langfristigen Phase wird der Hinweis auf die Demonstration eher unsystematisch und über persönliche Kontakte gestreut, in der mittelfristigen Phase ist der Aufruf über rechtsextremistische Zeitungen und Zeitschriften am wichtigsten (vgl. Pfeiffer 2002: 45–53). Es erscheint plausibel, dass dieses Grundschema der Mobilisierung für zentrale Veranstaltungen fortbesteht. Neben den langfristig geplanten finden kurzfristige, mitunter tatsächlich oder scheinbar spontane rechtsextremistische Demonstrationen statt. Mit einer Vorlaufzeit von 24 Stunden können Virchow zufolge 200 bis 300 Personen zu solchen Veranstaltungen mobilisiert werden (vgl. Virchow 2011: 112).
4.4 Jugendaffi Werbung mit multimedialen Mitteln
Moderne Optik, interaktive und multimediale Angebote dürften zu den wichtigsten Faktoren zählen, die die Attraktivität von Websites oder Profilen im Web 2.0 auf Jugendliche bestimmen. Diese Faktoren prägen rechtsextremistische Internetangebote desto deutlicher, je mehr Jugendliche in ihrem Blickpunkt stehen und sie diese mit Inhalten, Medien und Gruppen der Szene in Beziehung bringen möchten.
"Die Jugend surft rum und macht und tut. Und auf der Suche nach Musik kommen sie dann automatisch durch irgendwelche Verlinkungen auf Seiten von uns, sei es bei der NPD, seien es Kameradschaften, seien es Musikevents, irgendwo."
Dieser Effekt, wie ihn der Neonazi Dieter Riefling beschreibt (zit. nach Thein 2009: 314), entspricht der Feststellung von Michael Wörner-Schappert, rechtsextremistische Musik sei die "Leimrute, die den Weg zu den virtuellen Inhalten und Ausprägungen des heutigen Rechtsextremismus öffnet" (Wörner-Schappert 2013: 119): Als Hintergrundmusik, als Download oder als Bestandteil von Videos und Flash-Animationen, als Design-Element in Form von Liedzitaten oder Band-Logos tauche sie in vielfältigen Formen auf einschlägigen Internetangeboten auf.
Ein Fallbeispiel für die Bedeutung der Musik und die Modernisierung der Symbolik, Ästhetik und Bildersprache rechtsextremistischer Internetangebote ist die DVD "Jugend in Bewegung … Schüler-CD des Nationalen Widerstands", die im Internet auch als CD-ROM zum Download angeboten wurde. Mit bundesweiter Beteiligung wurde sie von neonazistischen Aktivisten aus dem brandenburgischen Zossen erstellt und ist typisch für diejenigen innerhalb der Neonazi-Szene, die sich als Autonome Nationalisten (AN) verstehen. Die Urheber bewarben ihr Medium über eine eigene Website, über "YouTube" und "Twitter". Die DVD bzw. die CD war von September 2010 bis Februar 2012 fortlaufend in aktualisierten Fassungen abrufbar und enthielt beispielsweise bis zu elf vollständige Musik-Alben, Videos, Texte und Sprühschablonen mit rechtsextremistischen Parolen.
Die Verbindung aus zeitgenössischer Formensprache und rechtsextremistischen Inhalten bildet den roten Faden des Mediums. Einige Beispiele: Mehrere Abbildungen der Bildergalerie greifen die Ästhetik der Computerspiele sowie Werbemotive auf – so im Slogan "Komm zum Widerstand, Sei Bamboocha!", der auf die "Fanta"-Werbung anspielt. Slogans jonglieren mit Anglizismen, die im Rechtsextremismus bis heute in weiten Teilen verpönt, in jugendlichen Lebenswelten aber allgegenwärtig sind: zum Beispiel in der Parole "Pure H8", die als "Pure Hate" gelesen werden kann oder als Umschreibung für "Heil Hitler" (wenn die 8 als H, der achte Buchstabe des Alphabets, gedeutet wird). Symbolik, die auf den Nationalsozialismus verweist, kommt insofern vor, ist aber nicht prägend: In dem Motiv einer ruhigen abendlichen Hügellandschaft erstrahlt die in der Szene sogenannte "Schwarze Sonne" – ein zwölfspeichiges Rad, das die SS als Bodenmosaik in der Wewelsburg bei Paderborn anbringen ließ. Stärker als in den multimedialen Elementen stehen politische Botschaften in den Texten der CD im Mittelpunkt und in einem "Wissenstest", in dem zehn Fragen zum Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg gestellt werden. Der Test montiert Zahlen und Daten zu einem Bild, in dem Deutschland als Opfer auswärtiger Mächte erscheint und demzufolge von deutscher Kriegsschuld keine Rede sein kann. Als abschließende Zuspitzung geht es in der letzten Frage um die Zahl der Friedensangebote, die die deutsche Reichsregierung den Gegnern während des Krieges angeblich gemacht hat. "32 Friedensangebote" ist die im Test gewünschte Antwort. Die Behauptung, es habe zahlreiche derartige Angebote gegeben – die NSRegierung habe also alles Erdenkliche getan, um Krieg zu verhindern oder zu beenden –, gehört zum Repertoire geschichtsfälschender Agitation.
In Zeiten des Web 2.0 zählen Videoclips zu den Standards rechtsextremistischer Internetangebote. Zu den ersten Produktionen, die innerhalb und außerhalb der Szene Aufmerksamkeit erregten, zählten die "Kritischen Nachrichten" der Gruppe "Volksfront Medien" aus Hessen, die die "Tagesschau" laienhaft imitierten. Von Beginn an tauchten die Clips von "Volksfront-Medien" nicht nur auf der eigenen Website auf – wichtig war den Verantwortlichen auch der Versuch, diese über Massenportale wie "YouTube" verfügbar zu machen. Soweit das Unternehmen auf die rechtsextremistischen Inhalte aufmerksam wird, löscht "YouTube" allerdings häufig entsprechende Clips oder sperrt den Zugang für Nutzer aus Deutschland.
Videos sind auch das zentrale Instrument einer neonazistischen Strömung, die Flashmobs für diese Szene erschlossen hat: der "Unsterblichen". Flashmobs sind üblicherweise augenzwinkernde Events, insbesondere der Jüngeren in der InternetCommunity. Die User verabreden sich über SMS, E-Mail und soziale Netzwerke und finden sich scheinbar spontan im öffentlichen Raum zusammen, um urplötzlich skurrile Dinge zu tun und damit die Umstehenden zu verblüffen. Videos von Flashmobs der "Unsterblichen" sind oft mit Bombastmusik unterlegt und zeigen geheimnisvoll anmutende Märsche: Schwarz gekleidet und das Gesicht mit weißen Masken verhüllt, ziehen die Teilnehmenden im Fackelschein durch nächtliche Städte. "Damit die Nachwelt nicht vergisst, dass Du Deutscher gewesen bist", steht auf einem Transparent, die Schlusssequenz des Clips verweist auf die Website zur Kampagne. Märsche dieser Art haben in verschiedenen Teilen Deutschlands stattgefunden. Das im Netz verbreitetste Video zeigt den in Bautzen im Frühjahr 2011 mit etwa 200 Teilnehmenden. Der entsprechende Clip ist weitgehend inhaltsleer, dürfte aber seinen Zweck nicht verfehlen: "Du hast die Unsterblichen gesehen und bist neugierig geworden?", fragt die Website und erläutert, die "Unsterblichen" seien "junge Deutsche, die sich bundesweit auf öffentlichen Plätzen zusammenfinden, um auf das Schandwerk der Demokraten aufmerksam zu machen". Diese betrieben den "Tod des deutschen Volkes", der durch die systematische Vermischung mit "fremden Völkern" herbeigeführt werde. Flashmobs und Clips sind Teil der breiter angelegten neonazistischen "Volkstod"-Kampagne. Der Website zufolge ist die Aktionsform der "Unsterblichen" keine "Maskerade mit nationalen Inhalten". Vielmehr gehe es darum, die Kampagne mit einem Bild zu verknüpfen, das einen hohen Wiedererkennungswert besitzt. [5] Das Internet als Basis und Resonanzraum, Aktionsformen mit dem Reiz des Subversiven, multimediale Instrumente und die Schwebe von Endzeitund Aufbruchsstimmung sind auch charakteristisch für die "Identitäre Bewegung Deutschland", die seit Oktober 2012 im Netz auf den Plan tritt. Während die "Unsterblichen" einen für den Neonazismus typischen biologistischen Rassismus vertreten, prägt die "Identitäre Bewegung" ein Ethnopluralismus im Anschluss an die intellektuelle Neue Rechte in Deutschland und die Nouvelle Droite in Frankreich. Dem eigenen Anspruch nach gehen Vertreter des Ethnopluralismus-Konzepts nicht von einer Höheroder Minderwertigkeit ethnischer Gruppen aus, fordern aber ethnisch homogene Einheiten. Entsprechende Akteure bestreiten, fremdenfeindliche Haltungen zu vertreten. Vielmehr geben sie humanitäre Motive vor, da nur in einer ethnisch homogenen Umgebung der Einzelne tatsächliche Identität finde. Entsprechend distanzieren sich Vertreterinnen und Vertreter der "Identitären Bewegung" vom Rechtsextremismus und propagieren zum Beispiel den Slogan "100 % identitär – 0 % Rassismus". Dass diese Selbstdarstellung zweifelhaft ist, zeigen zum Beispiel die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes in Bremen: Demnach beteiligen sich dort bekannte Neonazis an der "Identitären Bewegung" (vgl. Senator für Inneres und Sport 2013: 32). Diese Strömung zeichnet eine scharfe Agitation gegen die multikulturelle Gesellschaft im Allgemeinen und den Islam im Besonderen aus. Ihr Terrain sind bislang überwiegend die sozialen Netzwerke, einzelne Aktionen haben auch außerhalb des Netzes stattgefunden. So störten Aktivisten mit Schildern der "Identitären Bewegung" im Oktober 2012 die Eröffnungsveranstaltung der Interkulturellen Wochen in Frankfurt am Main: Sie drangen tanzend, mit weißen Masken vermummt und einem dröhnenden Ghettoblaster sowie dem Plakat "Multikulti wegbassen" in den Saal ein. Auch die "Identitäre Bewegung" sieht sich keineswegs als Spaßfraktion. Ein Video der "Génération Identitaire" in Frankreich – dem Mutterland dieser Strömung – stellt eine Art Grundsatzerklärung dar. Darin heißt es zum Schluss:
"Ne vous méprenez pas: ce texte n'est pas un simple manifeste, c'est une déclaration de guerre. Nous sommes demain, vous êtes hier. Nous sommes la Génération Identitaire." (deutsche Untertitel: "Täuscht euch nicht: Dieser Text ist kein einfaches Manifest: es ist eine Kriegserklärung! / Wir sind das Morgen, Ihr seid von gestern! / Wir sind die Identitäre Generation!") [6]
Zum Schlachtruf der "Génération Identitaire" und der "Identitären Bewegung" in Deutschland ist der Begriff der "Reconquista" geworden, der für das Zurückdrängen der islamischen Mauren von der iberischen Halbinsel im Mittelalter geprägt wurde. Symbolträchtig zählte die Besetzung einer Moschee in Poitiers zu den ersten größeren Aktionen der "Génération Identitaire". Damit verweist sie auf das Jahr 732, in dem Karl Martell die Mauren in der Schlacht bei Tours und Poitiers geschlagen hatte. Einer verbreiteten Geschichtsdeutung zufolge ist er damit zum "Retter des christlichen Abendlandes" geworden.
Das Phänomen der "Identitären Bewegung" ist zumindest in Deutschland zurzeit nicht aufgrund seiner Personenstärke oder einer Fülle an Aktivitäten bemerkenswert. Es steht aber für die Verknüpfung der ideologischen Muster der Neuen Rechten und eines intellektuellen Anspruchs mit der Formensprache der Digital Natives. Auf diese Weise weiten sich potenzielle Zielgruppen einer Bewegung von rechts aus: Deren Angebote werden für Personen mit höherer formaler Bildung attraktiver, ihre Ausdrucksformen sind zunehmend auch mit postmodernen jugendlichen Lebenswelten und -gefühlen kompatibel, in denen Networking, Lifestyle, Sozialkritik, Nonkonformismus und die Suche nach außergewöhnlichen Erfahrungen wichtige Rollen spielen. Überkommene rechtsextremistische Inszenierungen sind in diesen Lebenswelten dagegen kaum anschlussfähig (zu jugendlichen Lebenswelten vgl. Calmbach u. a. 2012). Generell geht die handwerkliche Qualität multimedialer Elemente in rechtsextremistischen Internetangeboten weit auseinander. Eine erste experimentelle Studie legt nahe, dass es für die propagandistische Wirkung besonders auf die Machart von Videoclips ankommt. Demnach wecken rechtsextremistische (und auch islamistische) Clips vor allem dann Interesse, wenn sie als professionell und unterhaltsam wahrgenommen werden und den Zuschauer persönlich ansprechen. Auch Videos, die spontan Ablehnung hervorrufen, könnten ihre Botschaft bei Betrachterinnen und Betrachtern hinterlassen (vgl. Rieger/Frischlich/Bente 2013: 113 f.).
4.5 Breitenwirkung
In keinem anderen Medium sind geringer (Kosten-)Aufwand und immense Breitenwirkungspotenziale so eng verbunden wie im Internet. Breitenwirkung ist für alle sozialen Bewegungen ein hohes Gut – mit herkömmlichen rechtsextremistischen Medien aber nur begrenzt erreichbar: Entsprechende Printmedien erreichten zumindest in der Vergangenheit, wie es ein Verantwortlicher des "Thule-Netzes" bereits 1993 ausdrückte, "kaum Personen außerhalb des ›rechten Ghettos‹" ("Alfred Tetzlaff" 1993: 26). Große Hoffnungen, seine Reichweite zu erhöhen, machte sich vor allem der im Netz aktive Zirkel der Holocaust-Leugner. Der französische Holocaust-Leugner Robert Faurisson zog im Juni 2008 eine vorläufige Bilanz, die zwischen Selbstmitleid und -überschätzung changiert:
"Der Revisionismus war lange Zeit ein intellektuelles Abenteuer, das von einigen Hochschulangehörigen, Forschern und verschiedenen Einzelpersonen betrieben wurde, die bereit waren, ihr Leben oder ihre Behaglichkeit für die Verteidigung der historischen Wahrheit und der Gerechtigkeit zu opfern. Heute wird der Revisionismus auf internationaler Bühne zu einem öffentlichen Streitthema." (Faurisson 2008)
Das Vehikel, das der Holocaust-Leugnung zu dieser Anerkennung verholfen habe, so ist Faurisson zu verstehen, sei das Internet. Mit Blick auf die Breitenwirkung ist es bezeichnend, dass der Beitrag nicht nur im rechtsextremistischen Portal "Altermedia" gepostet wurde, sondern auch im Forum von "T-Online". Das Internet hat die Reichweite von den Holocaust leugnenden Materialien sicherlich erhöht – ihre faktische Breitenwirkung bleibt hinter solchen Erklärungen allerdings deutlich zurück.
Dies gilt auch für das Portal "Metapedia", das sich als Pendant zum sehr viel größeren Mitmachlexikon "Wikipedia" versteht, 2006 von Schweden aus ans Netz ging und im Mai 2007 einen deutschsprachigen Bereich startete. "Metapedia" umfasst heute Bereiche in 16 Sprachen, von denen der deutschsprachige inzwischen zu den größten gehört. Dem Selbstverständnis nach ist das Wiki eine "Weltnetz-Enzyklopädie über Kultur, Philosophie, Wissenschaft, Politik und Geschichte. […] Darüber hinaus werden in der Metapedia auch Sachverhalte und Positionen dargestellt, die in anderen Diskursen nicht thematisiert und teilweise bewußt tabuisiert werden." In diesem Sinne kläre "Metapedia" über "antideutsche Vorurteile" auf. [7] Schwülstige Sprache und der Begriff der Metapolitik – mit dem das Ziel der Kulturellen Hegemonie durch gezieltes Einwirken auf gesellschaftliche Diskurse verbunden ist – erinnern auch hier an den Duktus und strategischen Ansatz der Neuen Rechten. Diese hatte die verbale Tarnung ("politische Mimikry"), die Breitenwirkung erst möglich mache, teilweise bereits in den 1980er Jahren propagiert. Auf "Metapedia" gelingt sie nur eingeschränkt.
Für die NPD heißt Breitenwirkung im Netz nicht allein, ihre Positionen zu streuen, sondern auch Imagewerbung zu betreiben und Personen zu binden. "Die nationale Opposition" nutze ihren Spielraum in den sozialen Netzwerken längst nicht aus, kritisierte ein Grundsatzartikel der Parteizeitung "Deutsche Stimme" im März 2010 und rief dazu auf, in solchen Netzwerken "den netten Rechten von Nebenan" zu geben. Akzeptanz findet, wer den Umgangston der Netze trifft und beliebte Arten der Selbstpräsentation kennt. In diesem Sinne rät der Beitrag:
"Das Profil sollte möglichst einen offenen Menschen beschreiben. Ein Mensch mit Humor, Beruf, Hobbys, ernstzunehmenden Interessen, Literaturund Musikgeschmack. Ihr solltet schon einiges über Euch verraten. Nur das bindet andere an Euer Profil, schafft Sympathien, bringt ins Gespräch, zum Lachen oder zum Nachdenken. Humor ist in ›dieser Welt‹, auf diesen Plattformen, mit am wichtigsten.
Bei der Beschreibung Eurer Hobbys und Interessen sollte also nicht bissig, klischeehaft und wortkarg vorgegangen werden. Auch Fotoalben von Feiern, Freizeitaktivitäten, Haustieren, Familie etc. sollten hochgeladen werden. Bedenkt, daß die Leute von heute etwas sehen wollen." (Mallon 2010)
Auch um zu verhindern, dass das Profil gelöscht wird, solle "NPD" nicht darin auftauchen. Der Autor empfiehlt, sich in virtuelle Gruppen einzuklinken, in denen Nähen zu eigenen Positionen vermutet werden, eigene Beiträge einzubringen und gezielt Kontakte zu den Gruppenmitgliedern aufzubauen. Inzwischen haben sich NPD-Aktivisten als lernfähig erwiesen. Sie und andere Rechtsextremisten nutzen Gruppen zum Beispiel bei "Facebook" gezielt für eigene Kampagnen. Zu den erfolgreichsten dürfte die Kampagne "Todesstrafe für Kinderschänder" zählen. [8] Gerade im Netz versucht die NPD Brücken zu schlagen zu menschenfeindlichen Diskursen, die weit über den Rechtsextremismus hinaus verbreitet sind. Dies zeigen auch Slogans auf ihrer Website wie "Maria statt Scharia" oder "Geld für die Oma / statt für Sinti und Roma". An verbreitete Ressentiments gegenüber der Europäischen Union appelliert die Partei mit einer Grafik: Sie zeigt den Sternenkreis in der Flagge der EU und den Schriftzug "Ein Ring um uns zu knechten". Die Partei spielt auf das Leitmotiv aus Film und Roman "Der Herr der Ringe" an: einen magischen Ring, der den freien Willen des Trägers raubt und diesen zum Gehilfen des Bösen macht ("Ein Ring sie zu knechten, sie alle zu finden / Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden"). Explizit fordert eine kleinere Fußzeile der Grafik "Selbstbestimmung statt EU-Diktatur".[9]
Um eine Reichweite eigener Inhalte, die in die Mitte der Gesellschaft führt, geht es vor allem Organisationen am Rande der Bewegung, die deren Ziele nur teilweise und meist in abgeschwächter Form vertreten. Dies gilt beispielsweise für die rechtsextremistische Partei "pro Köln" bzw. "pro NRW", die sich als "Bürgerbewegung" versteht, zeitweise mit fünf und seit Juni 2014 mit zwei Abgeordneten im Kölner Stadtrat vertreten ist (siehe 3). Dauerthema ist der Bau einer Moschee in Köln-Ehrenfeld, den "pro Köln" seit Jahren attackiert. Die "pro"-Parteien und der Arbeitskreis "Jugend pro NRW" agitieren mit Printmedien – darunter Flugblätter und die Schülerzeitung "Objektiv" –, sie sind aber zunehmend auch im Web und in sozialen Netzwerken präsent. Als Ziel verweisen auch sie auf "Gegenöffentlichkeit", die hier vorrangig im Sinne von Breitenwirkung gemeint ist. In einer Dokumentation zur Arbeit von "pro Köln" in der Bezirksvertretung Köln-Lindenthal heißt es, ein fast täglicher "elektronische[r] Rundbrief" und eine kontinuierlich aktualisierte "Netzseite" seien notwendig, "weil wir aufgrund einer Medienblockade bzw. Medienhetze auf die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit angewiesen sind" (zit. nach Busch 2010: 82).
Im Landtagswahlkampf 2010, so behauptet die Partei, habe "pro NRW" auch "in der Nutzung des Internets neue Maßstäbe eingeführt". Neben herkömmlichen Werbemethoden seien "NRW-weit über eine Million Werbemails über zertifizierte Adressenanbieter in der Schweiz verschickt" worden. Deutsche Anbieter hätten aus Angst vor Repressalien auf den Auftrag verzichtet. Angeblich sind die Zugriffszahlen auf die "pro NRW"-Website anschließend "regelrecht explodiert".[10] Einen gewissen PR-Erfolg hielt "pro Köln" offenbar auch mithilfe des "Bürgerhaushalts" für möglich, des Online-Dialogs zur Haushaltsplanung der Stadt Köln. Die Stadt hatte im Januar 2013 zum vierten Mal dazu aufgerufen, im Netz Sparvorschläge einzureichen. Zehn Vorschläge, die im Portal die stärkste Resonanz erhalten, wollte der Rat diskutieren. Mehrere der eingereichten Sparvorschlägen entsprachen Forderungen, die
"pro Köln" zuvor erhoben hatte: zum Beispiel, keine weiteren Asylbewerber in Hotels und Pensionen unterzubringen. Kaum war dieser Vorschlag im "Bürgerhaushalt" online gegangen, rief "pro Köln" seine Anhänger per Mail dazu auf, den Beitrag zu unterstützen. [11] Wenig später wurde die Information nachgetragen, dass das OnlineRanking vor allem die Zahl der Kommentare berücksichtige: "Den Asylvorschlag also bitte auch eifrig kommentieren!" [12]
4.6 Kommerzieller Vertrieb von Szene-Produkten
"Kein Medium leistet auch nur ansatzweise – für die patriotische Musikszene – ähnliche Dienste wie das Internet." Diese Feststellung traf der frühere Chefredakteur des Rechtsrock-Magazins "RockNORD", der auch Händler mit entsprechender Musik war, bereits 1999 (zit. nach Pfeiffer 2002: 277). Die Notwendigkeit von Websites für Zeitschrift und Verlag begründete er mit der ständigen Erreichbarkeit des Versandhandels sowie geringen Möglichkeiten, die geschäftlichen Aktivitäten von außen zu behindern. Rund anderthalb Jahre zuvor – im Februar 1997 – waren parallel zur Printausgabe Websites von "RockNORD" online gegangen, die seinerzeit innerhalb des deutschen Rechtsextremismus ungewöhnlich vielfältig waren. Sie umfassten den Zugriff auf ausgewählte Beiträge der Printausgaben, ein Gästebuch, das Audioprogramm "Nord-Rock-Radio" sowie den Internet-Katalog des Vertriebs mit Bestellmöglichkeit. Der Katalog zeigte die gesamte Produktpalette des Unternehmens, insbesondere ein umfangreiches CD-Angebot (aufgeteilt in die Sparten "Deutschland" und "Weltweit") sowie T-Shirts mit Schriftzügen rechtsextremistischer Skinhead-Bands oder mit Slogans wie "Hier marschiert der Nationale Widerstand" (vgl. Pfeiffer 2002: 282 ff.).
In technisch fortgeschrittener Form bieten inzwischen Dutzende von OnlineVersänden Tonträger und andere Propagandamaterialien an. Im Jahr 2013 waren 84 entsprechende Unternehmen bundesweit aktiv, 2012 waren es 82 (vgl. Bundesministerium des Innern 2013: 127; Auskunft des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 8. 8. 2014). Die Handhabung ihrer Websites unterscheidet sich für den Nutzer nicht nennenswert vom üblichen Online-Geschäft kommerzieller Versandhäuser. In Deutschland ansässige Szene-Vertriebe bieten in aller Regel Produkte an, die strafrechtlich zulässig sind. Gänzlich andere Rechtslagen existieren zum Teil im Ausland und spiegeln sich in den Beständen der Vertriebe in aller Deutlichkeit: Fahnen mit Hakenkreuzen oder SS-Runen, volksverhetzende CDs wie die "12 Doitschen Stimmungshits" der Gruppe "Zillertaler Türkenjäger" tauchen im dortigen Versandgeschäft auf. Zu den obszönsten Produkten zählt ein Ketchup, den der Vertrieb
"SSRegalia" in Maryland/USA unter der Bezeichnung "Holocaust Hot Sauce" vermarktet ("The Final Solution in Hot Sauce. 6 Million Sold"). [13] Es liegt nahe, dass ausländische Online-Vertriebe für die deutsche Szene eine Quelle strafbarer Materialien sind.
Solche Versandhandlungen zeigen, dass rechtsextremistische (Internet-)Aktivitäten – als Hauptmotiv oder Nebeneffekt – auch ein Geschäft sein können. Allerdings steht der Szenehandel vor ähnlichen Problemen wie die Musikbranche insgesamt: Tonträger sind weniger lukrativ als in der Vergangenheit, da MP3 – zum Teil illegal – als Download zur Verfügung stehen und CDs selbst gebrannt werden können.
Rechtsextremistische Vertriebe haben einerseits darauf reagiert, indem sie MP3 kostenpflichtig anbieten. Andererseits hat sich ihre Produktpalette ausgeweitet: Als ein größeres Segment ist Streetwear ohne klare politische Bezüge hinzugekommen. Angeboten werden:
"teilweise auch Kleidungsstücke im Mittelalter-Look wie Miederjacken, Leinenröcke und Gothic-Kleider […], während andere Vertriebe Fußballfans mit Hooligan-Affinität als Zielgruppe ausgemacht haben und mit entsprechenden Textilien bedienen. Ein nordrhein-westfälischer Vertrieb bietet auch Panzermodelle, Tarnbekleidung sowie übliche Outdoor-Ausrüstung (Zelte, Decken, Schlafsäcke), Rucksäcke, Taschen und Trinkhörner an." (Innenministerium NRW 2008: 84)
Zur Verbreitung von NPD-Materialien trägt der "Frontdienst "-Versand der "Jungen Nationaldemokraten" bei. In der Schlussphase vor der Bundestagswahl im September 2013 präsentierte er ein Produkt, das jugendliche Interessen und zynische Botschaften besonders eng zusammenbrachte: das Kondom "für Ausländer und ausgewählte Deutsche". Mit Letzteren waren demokratische Politiker ("Politiker der korrupten Altparteien") gemeint:
"Sie vermehren sich blitzartig, nerven, kosten unser Geld und haben eigentlich keinen Nutzen. […] Sie wollen die multikulturelle Gesellschaft, die unsere Kultur zerstört. Sie lassen zu, dass sich unsere Gesellschaft überfremdet."
Offensichtlich auf "Ausländer" gemünzt ist der Hinweis, wer das Kondom verteile, könne "aktiv den demografischen Wandel bekämpfen". [14] Wenn auch in anderer Tonlage, ist die Botschaft vom apokalyptischen "Volkstod"-Szenario der Neonazis nicht weit entfernt. Noch enger der Neonazi-Szene und insbesondere den "Autonomen Nationalisten" verbunden ist ein Online-Versand aus Dortmund, der unter der zynischen Webadresse antisem.it betrieben wird. Verantwortlich ist der stellvertretende Landesvorsitzende der Partei "Die Rechte", die in Nordrhein-Westfalen im Wesentlichen als Auffangbecken für Aktivisten verbotener "Kameradschaften" fungiert. Auch in Dortmund setzen die Führung der neonazistischen Gruppierung und ein Teil der Anhängerschaft ihre Aktivitäten in dieser Partei fort. Der nordrhein-westfälische Innenminister hatte die "Kameradschaften" im Aachener Land, in Dortmund, Hamm und Köln 2012 verboten (zur Partei "Die Rechte" und ihren Internetaktivitäten vgl. Ministerium für Inneres und Kommunales NRW 2014: 56–75).
Henning Flad geht davon aus, dass die Szene-Ökonomie inzwischen von "primär politisch motivierten Aktivisten" beherrscht werde – Personen, die in der Szene zum Teil seit den frühen 1990er Jahren sozialisiert seien und ihre "street credibility" im Kampf um den rechtsextremistischen Markt einsetzten. Sie fungierten als SzeneElite – der Begriff entspricht hier offenbar dem der Bewegungselite (siehe 4.1) – und genauer: als Organisationselite. [15] Sie seien "Knotenpunkte in informellen Netzwerken" und trügen auf diese Weise zur Stabilisierung der Szenestrukturen sowie zur internationalen Vernetzung bei (vgl. Flad 2006: 107 ff., 113 ff.). Einige Versandhändler behaupten, ein Teil ihres Gewinns fließe in die Szene zurück. Auf diese Weise stellen sie sich als authentische Mitstreiter dar und wehren den imageschädigenden Ruch der Kommerzialität ab (vgl. Innenministerium NRW 2008: 82).
4.7 Strafvermeidung
Das Internet bietet deutschen Rechtsextremisten Möglichkeiten, Inhalte einzuspeisen, die nach hiesigem Recht strafbar und gleichwohl weltweit abrufbar sind. Entsprechende Seiten werden anonym ins Internet eingestellt – mithilfe von Internetdienstleistern im Ausland, beispielsweise in den USA. Dies können in die Szene eingebundene Provider sein oder nicht rechtsextremistische Unternehmen, die den Charakter der (deutschsprachigen) Angebote nicht erkennen oder sie tolerieren, soweit die Inhalte gegen das Recht am Sitz des Providers nicht verstoßen. Provider ohne Bezug zur Szene nehmen entsprechende Websites, die über ihren Server gehostet werden, vielfach vom Netz, wenn sie auf den rechtsextremistischen Inhalt aufmerksam gemacht werden. Häufig widersprechen fremdenfeindliche bzw. rassistische Inhalte – unabhängig von der Strafbarkeit – den eigenen Geschäftsbedingungen. [16]
Anders bei Szene-Providern: Als Ansprechpartner für den deutschen Rechtsextremismus versteht sich beispielsweise der US-amerikanische Neonazi Gary Lauck. Auf seiner Website wirbt er für "Deutsche Websiten in den sicheren USA" und bietet sich als Mittler an. Auf diese Weise würden die Seiten "höchstwahrscheinlich nicht gesperrt", zudem stellt er sich als einen "politisch zuverlässigen, deutschsprachigen, als Geschäftsmann erfahrenen Mitarbeiter in den USA" dar. Lauck verspricht größtmögliche Vertraulichkeit:
"Anonyme Netzseiten sind möglich! Der Domain Name wird im Namen einer U. S.Firma registriert. Sogar unsere Firma braucht nicht unbedingt Ihre Identität zu wissen. (Die Bezahlung kann im anonymen Brief mit einem Hinweis auf Ihre Netzseite geschickt werden)." [17]
Solche Angebote sind vergleichsweise teuer. Lauck berechnet für seine Dienste 20 Euro pro Monat. Andere Unternehmen im Ausland, die nicht politisch motiviert sind und sich über Werbeeinblendungen finanzieren, bieten dagegen kostenlose Internetseiten an.
Szene-Provider, die im Ausland ansässig sind, bieten den Verfassern der Internetangebote nicht nur weitgehenden Schutz vor Strafverfolgung, sondern auch die Gewähr, dass die Seiten nicht aus politischen Gründen vom Netz genommen werden. Auf entsprechenden Internetseiten sind mitunter besonders krude Inhalte zu finden – zum Beispiel auf einer Website, die mit der Melodie des Horst-Wessel-Liedes akustisch unterlegt ist, mit einem Foto Hitlers auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände empfängt und dem Slogan "Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen!" Im Weiteren enthält sie einen Beitrag unter der Überschrift "Deutsche auf zum totalen Krieg gegen die Kanakenrepublik".[18] "Spiegel-Online" zufolge sind auf diesem Weg auch "Anti-Antifa"-Seiten ans Netz gegangen, die Fotos politischer Gegner und Drohungen enthalten (vgl. Kleinhubbert 2008). Anonym sind im Netz auch Videoclips eingestellt, die bewegte Bilder mit volksverhetzenden Liedern beispielsweise der Band "Landser" verbinden.
- [1] Stormfront. White Nationalist Resource Page. In: stormfront.org/ (zuletzt abgerufen am 4. 12. 03).
- [2] Stormfront. White Nationalist Community. In: stormfront.org/forum (zuletzt abgerufen am 24. 10. 13).
- [3] jugendschutz.net (2014): Rechtsextremismus online. beobachten und wirksam bekämpfen: 8; jugendschutz.net (2013): Rassismus und Gewalt bei VK.com. Neonazis nutzen verstärkt "russisches Facebook" für Hetze und Propaganda. In: hass-im-netz.info/fileadmin/dateien/dokumente/ PDFs/vk.pdf (zuletzt abgerufen am 12. 08. 14).
- [4] Trauermarsch Bad Nenndorf 2013. In: badnenndorf2013.trauermarsch.info (Fehler im Org.) (zuletzt abgerufen am 24. 10. 13).
- [5] Voraussetzung. In: werde-unsterblich.info (zuletzt abgerufen am 24. 10. 13).
- [6] Identitäre Generation – Die Kriegserklärung (2012). In: youtube.com/watch?v=dkV7- ZzaKM80 (abgerufen am 24. 10. 13).
- [7] Willkommen bei Metapedia. In: de.metapedia.org/wiki/Hauptseite (zuletzt abgerufen am 24. 10. 13).
- [8] Vgl. Amadeu Antonio Stiftung (2011): Zwischen Propaganda und Mimikry. Neonazi-Strategien in Sozialen Netzwerken. In: netz-gegen-nazis.de/files/Netz%20gegen%20Nazis2.0%20In- ternet.pdf (zuletzt abgerufen am 24. 10. 13).
- [9] Ein Ring um uns zu knechten (2013). In: nein-zum-euro.de/2013/03/16/ein-ring-um-uns-zu- knechten/ (zuletzt aufgerufen am 24. 10. 13).
- [10] Massenmailings und Wahlkampf 2.0 zeigen Wirkung: 181 000 Aufrufe der Pro-NRW-Seite in den letzten 7 Tagen! (2010). In: pro-nrw.net/massenmailings-und-wahlkampf-2-0-zeigen-wir- kung-181-000-aufrufe-der-pro-nrw-seite-in-den-letzten-7-tagen (zuletzt abgerufen am 24. 10. 13).
- [11] Bürgerbewegung pro Köln e. V.: Bitte unterstützen. Sparvorschlag zum Thema Asylbewerberunterbringung im Kölner Bürgerhaushalt. 09. 01. 13. 12.34 Uhr.
- [12] Bürgerbewegung pro Köln e. V.: Wichtiger Nachtrag zum Sparvorschlag zum Thema Asylbewerberunterbringung im Kölner Bürgerhaushalt. 09. 01. 13. 10.56 Uhr.
- [13] SSRegalia. Holocaust Hot Sauce. In: ssregalia.com/HolocaustHotSauce.html (zuletzt abgerufen am 25. 09. 13).
- [14] frontdienst.de/index.php?page=shop.product_details&category_id=11&flypage=fly- page.tpl&product_id=174&option=com_virtuemart&Itemid=1&vmcchk=1 (zuletzt abgerufen am 24. 10. 13).
- [15] Flad schließt an der Unterscheidung von Ronald Hitzler in Organisations-, Repräsentationsund Reflexionseliten jugendlicher Szenen an. Demnach sind Organisationseliten die "Szenemotoren", die beispielsweise Events produzieren und auch kommerzielle Chancen nutzen. Repräsentationseliten dienen als Identifikationsobjekte, Reflexionseliten tragen zum Beispiel als Autoren von Szenemedien zur Selbstdeutung und zur Selbstkritik der Szene bei (vgl. Hitzler/Niederbacher 2010: 22 f. und 185; Hitzler/Pfadenhauer 2009: 384 f.).
- [16] Vgl. zum Beispiel jugendschutz.net (2013): Rechtsextremismus online. beobachten und nachhaltig bekämpfen: 12 f.
- [17] Deutsche Websiten in den sicheren USA! In: zensurfrei.com (zuletzt abgerufen am 24. 10. 13).
- [18] Für Volk und Vaterland. Deutschland muss leben und wenn wir sterben müssen! In: beepworld.de/members27/gleilefraudeluxe/index.htm (zuletzt abgerufen am 24. 10. 13).