Theorie
Im Theorieteil werden Zwangsmaßnahmen im Rahmen der allgemeinpsychiatrischen Erwachsenenversorgung zunächst aus theoretischer Perspektive thematisiert. Zu Beginn wird auf die Rechtsgrundlagen von Zwangseinweisungen, Fixierungen und Zwangsbehandlungen eingegangen, da die entsprechenden Rechtsvorschriften den Handlungsrahmen für alle, die in der Praxis an Zwangsmaßnahmen beteiligt sind, bilden. Die rechtlichen Grundlagen sind zum einen zivilrechtlich im BGB und zum anderen öffentlich-rechtlich in den Psychisch-Kranken-Gesetzen bzw. Unterbringungsgesetzen der einzelnen Bundesländer geregelt (Brosey und Osterfeld 2013, S. 161-162). Da eine zentrale Voraussetzung für zivil-/betreuungsrechtliche Zwangsmaßnahmen im Vorhandensein eines gesetzlichen Betreuers liegt (Marschner 2008,
S. 196), werden vorab grundlegende Informationen über die rechtliche Betreuung vermittelt, um eine entsprechende Verständnisgrundlage für die nachfolgenden Ausführungen zu den einzelnen Zwangsmaßnahmen zu schaffen. Da im Gesetz vielfach mit unbestimmten Rechtsbegriffen gearbeitet wird, werden die Kriterien für die Anwendung von Zwangsmaßnahmen genauer beleuchtet, um herauszufinden, wo zumindest in der Theorie die Grenze zwischen Selbstund Fremdbestimmung gezogen wird, d.h. bis wann ein Verhalten offiziell als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts zu tolerieren ist und ab wann es als gerechtfertigt gilt, gegen den Willen des Betroffenen zu handeln. Danach wird aufgezeigt, inwiefern Zwangsmaßnahmen in die Persönlichkeitsrechte eingreifen und welche Möglichkeiten es gibt, von seinem Selbstbestimmungsrecht umfassend Gebrauch zu machen. Abschließend wird auf den aktuellen Stand der Forschung eingegangen.
Rechtliche Betreuung
Anstelle der damaligen Entmündigungen im Rahmen des Vormundschaftsund Pflegschaftsrechts für Volljährige gibt es seit dem 01.01.1992 die rechtliche Betreuung (Crefeld 2013a, S. 541; Hell 2013, S. 293). Mit der Einführung des Betreuungsrechts sollte die Selbstbestimmung der Betreuten gestärkt werden, indem sie nicht mehr entmündigt werden, sondern „Unterstützung [...] bei der Wahrnehmung und Wahrung [...] rechtlicher Interessen“ (Marschner 2008, S. 172) erhalten sollten. Ein gesetzlicher Betreuer übernimmt für bestimmte Aufgaben die rechtliche Vertretung seines zu Betreuenden (Crefeld 2013a, S. 541-542; Hell 2013, S. 297, 302), wobei er gemäß §1901 Abs.3 BGB dazu verpflichtet ist, „Wünschen des Betreuten zu entsprechen, soweit dies dessen Wohl nicht zuwiderläuft“ (Stascheit 2014, S. 1064).
Vor der Reformierung des Betreuungsrechts (01.01.1992) wurden die zu betreuenden Menschen entmündigt und erhielten den Status eines Geschäftsunfähigen. Im Gegensatz dazu wirkt sich das Einrichten bzw. das Bestehen einer gesetzlichen Betreuung heutzutage nicht auf die Geschäftsfähigkeit des Betreuten aus. (Brosey und Osterfeld 2013, S. 156; Hell 2013, S. 293, 299, 302; Jürgens 2014a, S. 5-6). Mit Geschäftsfähigkeit „ist die Fähigkeit eines Menschen, Rechtsgeschäfte (z.B. Vertrag) selbstständig rechtswirksam vornehmen zu können“ (Hell 2013, S. 226), gemeint. Personen über 18 Jahre gelten als voll geschäftsfähig (Hell 2013, S. 226), es sei denn, sie befinden sich gemäß §104 BGB „in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit“ (Stascheit 2014, S. 882). Geschäftsunfähige können keine rechtswirksamen Rechtsgeschäfte vornehmen, sondern nur durch ihren gesetzlichen Betreuer rechtswirksam handeln. Falls Geschäftsunfähige dennoch einen Vertrag abschließen, ist dieser nichtig. (Hell 2013, S. 228; Jürgens 2014a, S. 6). Die Tatsache, dass die Geschäftsfähigkeit des Betroffenen durch eine gesetzliche Betreuung unberührt bleibt, bedeutet, dass ein Geschäftsfähiger selbstständig rechtswirksame Rechtsgeschäfte vornehmen kann, auch wenn eine rechtliche Betreuung besteht. Eine Beschränkung entsteht erst dann, wenn das Betreuungsgericht einen Einwilligungsvorbehalt anordnet. Ein Einwilligungsvorbehalt führt dazu, dass vom Betroffenen getätigte Rechtsgeschäfte zunächst schwebend unwirksam sind und erst dann rechtsverbindlich werden, nachdem der gesetzliche Betreuer diese überprüft und sie genehmigt hat. (Brosey und Osterfeld 2013, S. 156; Crefeld 2013a, S. 544; Hell 2013, S. 299; Jürgens 2014b, S. 234). Im Bereich der Vermögenssorge wird ein Einwilligungsvorbehalt in ca. 4% der Fälle angeordnet (Weigt 2005, S. 101).
Eine gesetzliche Betreuung kommt nur für Volljährige infrage; bei Minderjährigen haben in der Regel die Eltern die rechtliche Vertretung inne (Hell 2013, S. 323). Eine wichtige Voraussetzung für die Bestellung eines Betreuers liegt gemäß §1896 Abs.1 S.1 BGB im Vorliegen „einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung“ (Stascheit 2014, S. 1062) aufseiten des zu Betreuenden. Hinzu muss kommen, dass er aufgrund dieser Krankheit bzw. Behinderung „seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen [kann]“ (Stascheit 2014, S. 1062). Außerdem ist das Einrichten einer gesetzlichen Betreuung nachrangig und hat gemäß §1896 Abs.2 BGB nur dann zu erfolgen, wenn sie erforderlich ist, d.h. wenn Unterstützungsbedarf besteht und die Angelegenheiten nicht genauso gut durch einen Bevollmächtigten oder durch soziale Hilfen geregelt werden können (Jürgens 2014b, S. 231; Hell 2013, S. 295; Brosey und Osterfeld 2013, S. 157).
Zur Einleitung eines Betreuungsverfahrens kommt es gemäß §1896 Abs.1 BGB entweder, indem der Betroffene selbst eine Betreuung beantragt, oder wenn Angehörige, Nachbarn oder soziale Dienste den Eindruck haben, dass eine gesetzliche Betreuung erforderlich sein könnte und diese infolgedessen anregen. Die Anträge und Anregungen für eine Betreuung sind an das Betreuungsgericht zu richten, welches eine besondere Abteilung im Amtsgericht darstellt. Das Betreuungsgericht muss daraufhin prüfen, ob und in welchem Umfang die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung tatsächlich erforderlich ist. Um dies festzustellen, fordert der Betreuungsrichter ein Sachverständigengutachten von einem Psychiater an. Zudem verschafft sich der Richter ein eigenes Bild von der Situation, indem er den Betroffenen in dessen gewöhnlicher Umgebung persönlich anhört. (Crefeld 2013a, S. 541-543; Hell 2013, S. 300; Brosey und Osterfeld 2013, S. 157-158).
Gesetzliche Betreuungen können entweder ehrenamtlich von Vertrauenspersonen des zu Betreuenden oder von Berufsbetreuern, bei denen es sich meist um Sozialarbeiter oder Rechtsanwälte handelt, übernommen werden (Marschner 2008, S. 177-178; Crefeld 2013a, S. 543; Hell 2013, S. 296). Bestimmte Wünsche oder Ablehnungen, die der zu Betreuende über die Person seines zukünftigen Betreuers äußert, werden bei der Auswahl eines Betreuers berücksichtigt, sofern es seinem Wohl nicht zuwiderläuft (Hell 2013, S. 297; Brosey und Osterfeld 2013, S. 157; Jürgens 2014b, S. 248-249).
Ein gesetzliche Betreuer hat gemäß §1897 Abs.1 BGB die Aufgabe, „in dem gerichtlich bestimmten Aufgabenkreis die Angelegenheiten des Betreuten rechtlich zu besorgen und ihn in dem hierfür erforderlichen Umfang persönlich zu betreuen“ (Stascheit 2014, S. 1062). Mit dieser persönlichen Betreuung ist allerdings keine psychosoziale Begleitung oder tatkräftige Unterstützung bei alltäglichen Aufgaben, z.B. im hauswirtschaftlichen Bereich, gemeint, sondern der persönliche Kontakt und die Ausführung administrativer Tätigkeiten nach persönlicher Absprache (Brosey und Osterfeld 2013, S. 156; Jürgens 2014b, S. 246-247, 262-264). Die rechtliche Betreuung darf gemäß §1896 Abs.2 S.1 BGB nur für die Aufgabenkreise eingerichtet werden, in denen Unterstützungsbedarf besteht, und gemäß §1902 BGB darf der gesetzliche Betreuer nur in den gerichtlich angeordneten Aufgabenkreisen handeln und den Betreuten rechtlich vertreten. Mögliche Aufgabenkreise betreffen z.B. die Vermögenssorge, die Gesundheitssorge, die Aufenthaltsbestimmung, Unterbringungsangelegenheiten und unterbringungsähnliche Maßnahmen, Wohnungssowie behördliche Angelegenheiten. Der Umfang der Betreuung richtet sich nach der individuellen Erforderlichkeit und kann sich auch nur auf einzelne Aufgabenkreise oder Maßnahmen beschränken. (Hell 2013, S. 299; Crefeld 2013a, S. 543; Jürgens 2014b, S. 226, 233, 241).
Es kann auch zur Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung gegen den Willen des Betroffenen kommen, was als Zwangsbetreuung bezeichnet wird. §1896 Abs.1a BGB regelt, dass ein Betreuer „[g]egen den freien Willen des Volljährigen [...] nicht bestellt werden [darf]“ (Stascheit 2014, S. 1062). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass ein Betreuer dann gegen den Willen des Betroffenen bestellt werden darf, wenn dieser keinen freien Willen bilden kann. Um eine Zwangsbetreuung durchzusetzen, genügt also das Vorliegen einer psychischen Krankheit nicht, sondern es hängt davon ab, ob der Betroffene zur freien Willensbildung fähig ist oder nicht. (Brauer 2013, S. 88; Marschner 2008, S. 174-175; Seichter 2010, S. 9; Brosey und Osterfeld 2013, S. 157). Zur freien Willensbildung fähig ist jemand, der „seinen Willen unbeeinflusst von einer Krankheit bzw. Behinderung bilden [kann] und [fähig ist,] nach dieser zutreffend gewonnenen Einsicht zu handeln“ (Brauer 2013, S. 88).
Ferner kann der gesetzliche Betreuer auch gegen den Willen des Betroffenen handeln: Eigentlich soll der Betreuer seine Entscheidungen einvernehmlich und auf Grundlage der Wünsche des Betreuten fällen, aber sobald das Leben oder die Gesundheit des Betreuten in Gefahr ist oder seine Wünsche seinem Wohl sonst wie zuwiderlaufen, darf der gesetzliche Betreuer auch Entscheidungen treffen, mit denen der Betreute nicht einverstanden ist. (Marschner 2008, S. 180).
Ein Beispiel für eine Entscheidung des Betreuers gegen den Willen des Betroffenen stellt eine Zwangseinweisung in eine geschlossene psychiatrische Klinik dar, auf die im Folgenden näher eingegangen wird.