Zwangsbehandlung
Unter einer Zwangsbehandlung wird generell „die Durchführung einer ärztlichen Behandlung gegen den erklärten oder gezeigten Willen des Betroffenen verstanden“ (Steinert und Kallert 2006, zitiert nach Lincoln et al. 2014, S. 26) und unter „Zwangsmedikation [...] die Gabe von oraler oder injizierter Medikation gegen den Willen des Betroffenen.“ (Lincoln et al. 2014, S. 26).
Im Kontext von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen ist im Hinblick auf eine zwangsweise Behandlung psychisch erkrankter Erwachsener insbesondere die Verabreichung von Psychopharmaka relevant. Deshalb wird zunächst ein grundlegendes Verständnis der Psychopharmakotherapie vermittelt, bevor näher auf die jeweiligen rechtlichen Grundlagen von Zwangsbehandlungen eingegangen wird.
Psychopharmakotherapie
Psychopharmaka können definiert werden als „Medikamente, die einen psychotropen Effekt auf das zentrale Nervensystem haben, das heißt auf das psychische Befinden Einfluss nehmen“ (Schäfer und Rüther 2006, S. 66). Psychopharmaka entfalten ihre Wirkung im zentralen Nervensystem und werden zur Behandlung von psychischen Störungen eingesetzt (Schneider und Weber-Papen 2010, S. 55).
Psychopharmaka lassen sich hinsichtlich ihrer primären Wirksamkeit wie folgt unterteilen (Schneider und Weber-Papen 2010, S. 55; Arolt et al. 2011, S. 316): Antidepressiva (Thymoleptika): Antidepressiva werden primär zur Behandlung von Depressionen eingesetzt, denn sie wirken stimmungsaufhellend und antriebssteigernd. Weitere Indikationsgebiete sind Angstund Zwangsstörungen. In der Anfangszeit kann es zu Eindosierungseffekten kommen, die im weiteren Behandlungsverlauf jedoch meistens abklingen. Es kann bis zu vier Wochen dauern, bis die Stimmungsaufhellung eintritt, wohingegen die Antriebssteigerung zeitnah erfolgt, sodass die Suizidgefährdung zu Therapiebeginn erhöht sein kann. Antidepressiva machen nicht abhängig und es kommt zu keiner Toleranzentwicklung, allerdings können Absetzphänomene auftreten, sodass Antidepressiva nicht abrupt abgesetzt, sondern ausgeschlichen werden sollen. Mögliche Nebenwirkungen sind beispielsweise Müdigkeit, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, Sexualstörungen, Appetitminderung, Übelkeit, Schwindel, Unruhe, Schlafstörungen oder Kopfschmerzen. (Finzen 2004, S. 25-26; Schäfer und Rüther 2006, S. 30-31, 70, 81, 84-92; Schneider und Weber-Papen 2010, S. 56-57; Arolt et al. 2011, S. 322-323).
Antipsychotika (Neuroleptika): Antipsychotika werden hauptsächlich bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis eingesetzt, da sie akute psychotische Symptome wie Wahnvorstellungen und Halluzinationen reduzieren und somit dem Realitätsverlust entgegenwirken. Darüber hinaus finden sie bei manischen Symptomen, wahnhaften Depressionen, aggressiven Verhaltensstörungen, psychomotorischen Erregungszuständen und Unruhezuständen Anwendung. (Finzen 2004, S. 5-7; Schäfer und Rüther 2006, S. 70, 99; Schneider und Weber-Papen 2010, S. 66-67). Es wird zwischen Antipsychotika der ersten und der zweiten Generation unterschieden. Die der ersten Generation wirken sehr effektiv gegen psychotische Symptome, nicht jedoch gegen Antriebs-, Affekt oder kognitive Störungen. Es kommt häufig zu extrapyramidalen Nebenwirkungen wie motorischen Störungen, Bewegungsunruhe, Zittern, Muskelsteifheit und Schluckbeschwerden. Haldol ist ein bekanntes Präparat der ersten Generation. Die Antipsychotika der zweiten Generation haben weniger Nebenwirkungen und wirken zusätzlich gegen Antriebsverlust und regulieren die Emotionen und Kognitionen. Somit weisen die Antipsychotika der zweiten Generation ein breiteres Wirkspektrum sowie eine bessere Verträglichkeit auf. Antipsychotika machen zwar nicht abhängig, sollten aber langsam ausgeschlichen werden, um Absetzeffekte zu vermeiden. (Finzen 2004, S. 25-26; Schäfer und Rüther 2006, S. 99, 101-103; Schneider und Weber-Papen 2010, S. 67; Arolt et al. 2011, S. 322).
Stimmungsstabilisierer (Phasenprophylaktika): Stimmungsstabilisierer werden bei phasisch verlaufenden psychischen Störungen verwendet, wie beispielsweise bipolaren Störungen, rezidivierenden depressiven Störungen oder schizoaffektiven Psychosen. Sie wirken stimmungsstabilisierend und phasenunterdrückend und beugen somit dem erneuten Auftreten von Erkrankungsphasen vor. Ein bekannter Vertreter dieser Medikamentengruppe ist Lithium, welches zudem einen antisuizidalen Effekt aufweist. (Schäfer und Rüther 2006, S. 70, 94-95; Schneider und Weber-Papen 2010, S. 62; Arolt et al. 2011, S. 328-331).
Tranquilizer (Anxiolytika): Tranquilizer haben eine angstund spannungslösende Wirkung und werden daher bei Angst, Anspannung, Unruhe und akuten Erregungszuständen eingesetzt, kurzfristig auch bei Schlafstörungen. Die wichtigste Untergruppe der Tranquilizer sind Benzodiazepine. Benzodiazepine haben einen sedierenden Effekt; sie beruhigen, machen müde, dämpfen, entspannen, sind angstlösend und schlaffördernd. Ihr sofortiger Wirkeintritt und die gute Verträglichkeit sprechen für, ihr hohes Toleranzund Abhängigkeitsrisiko gegen sie. Dementsprechend eignen sie sich nicht als Dauermedikation. Nach längerer Einnahme kann es bei abruptem Absetzen zu Entzugserscheinungen kommen. Bekannte und häufig eingesetzte Benzodiazepine sind Valium (Diazepam) und Tavor (Lorazepam). (Finzen 2004, S. 5-7; Schäfer und Rüther 2006, S. 71, 104-106; Schneider und Weber-Papen 2010, S. 55, 73, 75; Arolt et al. 2011, S. 331-332).
Hypnotika (Antiinsomnika): Hypnotika sind schlafinduzierende und -fördernde Substanzen, die bei Schlafstörungen gegeben werden (Schneider und Weber-Papen 2010, S. 55; Arolt et al. 2011, S. 333).
Antidementiva (Nootropika): Antidementiva werden bei demenziellen Erkrankungen eingesetzt (Schäfer und Rüther 2006, S. 71, 116) und dienen der „Verbesserung von Aufmerksamkeit, Konzentration, Gedächtnis und Lernen“ (Schneider und Weber-Papen 2010, S. 75).
Psychostimulanzien (Psychoanaleptika): Psychostimulanzien steigern die psychische Aktivität sowie die Leistungsund Konzentrationsfähigkeit, zudem reduzieren sie motorische Unruhe. Sie werden bei ADHS verwendet; ein bekanntes Präparat ist Ritalin. Darüber hinaus finden Psychostimulanzien Anwendung bei Narkolepsie, um Schlafattacken zu unterdrücken. (Schäfer und Rüther 2006, S. 71, 117; Schneider und Weber-Papen 2010, S. 77; Arolt et al. 2011, S. 336).
Einer Zwangsmaßnahme liegen häufig psychiatrische Notfallsituationen wie beispielsweise akute Suizidalität, akute psychotische Zustände oder aggressive Erregungszustände zugrunde, welche auch während des zwangsweisen Klinikaufenthalts immer wieder auftreten können (Mavrogiorgou et al. 2011). Es lassen sich zwei Medikamente identifizieren, die bei psychotischen oder aggressiven Erregungszuständen häufig verabreicht werden: Haldol und Valium. Bei Haldol handelt es sich um ein stark antipsychotisch wirkendes Neuroleptikum, welches „[i]n psychiatrischen Notfallsituationen derzeit noch [als] unverzichtbar“ (Benkert 2010, S. 109) gilt, weil „man fast alle Erregungszustände bei Psychosen mit Haldol allein beherrschen kann“ (Finzen 2004, S. 194). Um zusätzlich eine Sedierung zu erzielen, wird die Kombination mit einem Tranquilizer wie dem Benzodiazepin Valium empfohlen (Finzen 2004, S. 193-194; Benkert 2010, S. 109), denn auch „Diazepam [= Valium] ist in der Notfallsituation unverzichtbar“ (Benkert 2010, S. 70).
Generell gibt es kein Medikament gegen Suizidalität, aber es können einzelne Symptome wie Angst, innere Unruhe, Schlaflosigkeit oder Grübelzwang unterdrückt werden, damit diese die Suizidgefahr nicht noch weiter verstärken. Die Medikation bei Suizidalität soll vorrangig zur Beruhigung des Betroffenen führen. Häufig wird hierfür das Benzodiazepin Tavor, ein sedierendes Antidepressivum wie Amytriptylin oder niedrigpotente Antipsychotika, d.h. solche, die stärker sedierend statt antipsychotisch wirken, gegeben. (Finzen 2004, S. 199-200; Benkert 2010, S. 11; Arolt et al. 2011, S. 331; Mavrogiorgou et al. 2011).
Im Folgenden werden die Entwicklung der Rechtssprechung sowie die einzelnen Rechtsgrundlagen der Zwangsbehandlung im psychiatrischen Kontext vorgestellt.