Kriterien für Zwangsmaßnahmen

In den vorherigen Kapiteln wurden bereits die rechtlichen Rahmenbedingungen von Zwangsmaßnahmen erläutert. Diesbezüglich lässt sich festhalten, dass die entscheidenden Kriterien in Form von unbestimmten Rechtsbegriffen vorliegen, denn es ist dem Gesetz nicht zu entnehmen, welche konkreten Verhaltensweisen in der Praxis nun unter Begriffe wie ‚gesundheitlicher Schaden', ‚Gefährdung bedeutender Rechtsgüter Dritter' oder ‚Zustand freier Willensbestimmung' zu subsumieren sind. Somit werden die Grenzen zur Fremdbestimmung zwar begrifflich benannt, bleiben jedoch inhaltlich unklar ausgefüllt. Woran man in der Praxis erkennen kann, ab welcher Art bzw.

Intensität von Verhalten die Schwelle als überschritten gilt, d.h. ab wann die Legitimation für die Durchführung von Zwangsmaßnahmen gegeben ist, beantwortet das Gesetz ebenfalls nicht. Um eine Konkretisierung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe vornehmen zu können, muss daher auf Rechtsprechung und Gesetzeskommentare zurückgegriffen werden. In diesem Sinne werden in den folgenden Unterkapiteln relevante unbestimmte Rechtsbegriffe konkretisiert und es werden die entsprechenden psychopathologischen Kriterien aufgezeigt, anhand derer bestimmte Aspekte in der Praxis psychiatrisch beurteilt werden.

Psychische Krankheit

Bevor der Begriff der psychischen Krankheit erläutert wird, ist es zur Vermeidung von Missverständnissen wichtig zu erwähnen, dass sich der juristische und der medizinische Krankheitsbegriff voneinander unterscheiden. So gilt eben nicht jede nach dem psychiatrischen Klassifikationssystem ICD-10 diagnostizierte psychische Störung automatisch auch als psychische Krankheit im juristischen Sinne, sondern bildet lediglich den Ausgangspunkt für die juristische Entscheidung darüber, ob der rechtliche Krankheitsbegriff erfüllt wird. (Marschner 2008, S. 16-17; Marschner 2010a, S. 44; Behrens 2012, S. 180181). Allerdings gibt es dabei nicht ‚den einen' juristischen Krankheitsbegriff, sondern die ‚psychische Krankheit' oder auch die ‚seelische Behinderung' ist stets unter Berücksichtigung des jeweiligen Gesetzeszweckes auszulegen. Demnach ist der Krankheitsbegriff beispielsweise im Sozialrecht weiter auszulegen, damit möglichst viele Betroffene von den Leistungen profitieren können, dagegen ist er bei Zwangsmaßnahmen enger auszulegen, um die Selbstbestimmung möglichst lange zu gewährleisten. (Marschner 2008, S. 1617; Behrens 2012, S. 181). Folglich „kann die Auslegung desselben Lebenssachverhalts bei Anwendung verschiedener Gesetze zu unterschiedlichen Ergebnissen führen“ (Behrens 2012, S. 181).

Im Folgenden wird der Begriff der psychischen Krankheit als Unterbringungsvoraussetzung im zivilund öffentlich-rechtlichen Sinne erläutert, denn für eine Zwangseinweisung fordern beide Gesetze u.a. das Vorliegen einer psychischen Krankheit.

Im BGB wird in §1906 Abs.1 abgesehen von „einer psychischen Krankheit [auch eine] geistige[ ] oder seelische[ ] Behinderung“ (Stascheit 2014,S. 1066) mit aufgeführt.

Dagegen ist im PsychKG NRW nur von einer psychischen Krankheit, nicht aber von einer geistigen oder seelischen Behinderung die Rede. Dafür wird die ‚psychische Krankheit' im PsychKG NRW im Gegensatz zum BGB sogar im Gesetz konkretisiert, und zwar sind „[p]sychische Krankheiten im Sinne dieses Gesetzes [...] behandlungsbedürftige Psychosen sowie andere behandlungsbedürftige psychische Störungen und Abhängigkeitserkrankungen von vergleichbarer Schwere“ (Dodegge und Zimmermann 2011, S. 183).

Zwar werden Behinderungen im PsychKG NRW nicht explizit benannt, aber die im BGB „genannten geistigen und seelischen Behinderungen können die Voraussetzung der psychischen Krankheit im Sinne des PsychKG NRW erfüllen“ (Lamberz 2013, S. 122). Bezüglich „der [im] [...] BGB genannten psychischen Krankheit stimmt die Voraussetzung mit der nach [...] PsychKG NRW überein“ (Lamberz 2013, S. 122).

Von daher beziehen sich die folgenden Ausführungen zur Konkretisierung des juristischen Begriffs der psychischen Krankheit auf beide Gesetze.

Vom Krankheitsbegriff umfasst werden körperlich nicht begründbare (endogene) Psychosen, worunter Störungen aus dem schizophrenen, dem affektiven und dem schizoaffektiven Formenkreis fallen. Ebenfalls dazu gehören körperlich begründbare (exogene) Psychosen, womit insbesondere demenzielle Erkrankungen sowie alkoholund drogenbedingte Störungen wie Alkoholhalluzinose oder das Korsakowsyndrom gemeint sind. Hinzu kommen Persönlichkeitsstörungen und Neurosen wie Ängste und Zwänge. (Marschner 2010a, S. 47-48; Dodegge und Zimmermann 2011, S. 211-212).

Damit eine Abhängigkeitserkrankung eine Unterbringung rechtfertigen kann, muss „die Abhängigkeit Folge einer (anderen) psychischen Krankheit [sein] oder der durch die Sucht verursachte Abbau der Persönlichkeit [hat] bereits den Wert einer psychischen Krankheit erreicht“ (Marschner 2010a, S. 48). Chronische Verläufe oder dauerhafte psychische Beeinträchtigungen infolge psychischer Erkrankungen stellen eine seelische Behinderung dar. Mit einer geistigen Behinderung sind angeborene oder erworbene Intelligenzdefizite gemeint (Marschner 2010a, S. 48-49).

In den Gesetzeskommentaren erfolgt eine Einteilung in Psychosen und Neurosen sowie in endogen und exogen (Jürgens 2014b, S. 222; Hell 2013, S. 294; Dodegge und Zimmermann 2011, S. 212). Eine Psychose ist ein „übergeordneter Begriff, [der] alle Krankheitsbilder mit einer Veränderung des eigenen Erlebens und des Realitätsbezugs“ (Schneider und Weber-Papen 2010, S. 104) meint, und eine Neurose wird als „eine seelische bzw. psychosozial bedingte Gesundheitsstörung ohne nachweisbare körperliche Grundlage“ (Faust 2002, S. 1) aufgefasst. Im Gegensatz zu den Rechtswissenschaften gilt in medizinischen Fachkreisen die Einteilung psychischer Krankheiten in Psychosen und Neurosen als überholt, wobei insbesondere der Neurosenbegriff im Laufe der Zeit immer umstrittener wurde (Faust 2002, S. 1-5). Auch erlauben aktuelle Forschungsergebnisse keine Einteilung mehr in organisch bedingte und reaktive psychische Störungen, „da mittlerweile für alle psychischen Störungen (auch den früheren ‚Neurosen') neuroanatomische, neurophysiologische und/oder neurobiochemische Abweichungen im Gehirn im Vergleich zu psychisch Gesunden gefunden wurden“ (Benecke 2014, S. 92). Die damaligen ‚Neurosen' wurden inzwischen zu eigenständigen Störungsbildern ausdifferenziert, z.B. zu Angststörungen, Zwangsstörungen, Belastungsreaktionen und somatoformen Störungen (DIMDI 2014; Faust 2002, S. 7, 11, 15-22).

Es ist zu beachten, dass nicht eine psychische Krankheit bzw. geistige oder seelische Behinderung an sich eine Unterbringung rechtfertigt, sondern sie muss eine Gefährdung verursachen, worauf im nächsten Abschnitt näher eingegangen wird.

 
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