Stand der Forschung
Durch Gesetzeskommentare oder andere einschlägige Literatur entsteht zwar ein Eindruck darüber, wie Zwangsmaßnahmen theoretisch gehandhabt werden, jedoch vermag eine rein theoretische Schilderung nicht der gelebten Praxis in ihrer Komplexität gerecht zu werden und bedarf einer Ergänzung durch empirische Forschungsergebnisse. Bevor die im Rahmen dieser Arbeit durchgeführte empirische Untersuchung über das Praxisfeld von Zwangsmaßnahmen ausführlich thematisiert wird, werden zunächst einige bereits vorhandene Studienergebnisse bezüglich Zwangsmaßnahmen vorgestellt, um einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung zu erhalten und die vorliegende Forschungsarbeit entsprechend einordnen zu können.
Zu dem Themenkomplex der Zwangsmaßnahmen liegen überwiegend quantitative Forschungsergebnisse vor, von denen im Folgenden einige dargestellt werden.
Im Jahre 2011 gab es in Deutschland insgesamt über 78.000 öffentlich-rechtliche Unterbringungen. Hinzu kommen fast 156.000 zivil-/ betreuungsrechtliche Unterbringungsmaßnahmen, die sich aus der Verwahrungsunterbringung, der Behandlungsunterbringung und den unterbringungsähnlichen Maßnahmen (Fixierung) zusammensetzen. Insgesamt lässt sich ein Anstieg der Unterbringungsverfahren innerhalb der letzten Jahre verzeichnen. Allein in Nordrhein-Westfalen gab es im Jahre 2010 über 33.000 betreuungsrechtliche Unterbringungsmaßnahmen nach §1906 BGB und über 22.000 öffentlich-rechtliche Unterbringungsmaßnahmen nach PsychKG NRW. Daraus ergibt sich für NRW eine Unterbringungsquote, also die Anzahl der Unterbringungsverfahren je 1000 Einwohner, von 1,86 hinsichtlich der Verfahren nach §1906 BGB und bzgl. der Verfahren nach PsychKG NRW eine Unterbringungsquote von 1,23. (Lamberz 2013, S. 15-17).
Die meisten öffentlich-rechtlich Untergebrachten haben eine Psychose, wobei die schizophrenen Psychosen die affektiven deutlich überwiegen. Für zivilrechtlich Untergebrachte fehlen diesbezügliche Untersuchungen, allerdings steht fest, dass es sich hier zumeist um chronisch kranke Menschen handelt. (Marschner 2010a, S. 34).
Die Betreuungsgerichte genehmigen fast alle vorgeschlagenen Unterbringungsmaßnahmen, sowohl bezüglich zivil-/betreuungsrechtlicher Unterbringungen als auch, was öffentlich-rechtliche Unterbringungen angeht. Das ergibt sich aus der Genehmigungsquote für Unterbringungssachen, die bei ca. 90% liegt. (Marschner und Volckart 2001, zitiert nach Dreßing und Salize 2004, S. 87; Marschner 2010a, S. 23-24; Brosey 2012, S. 11).
Im Hinblick auf die Unterbringungsdauer bestehen große Unterschiede zwischen PsychKGund BGB-Untergebrachten. Öffentlich-rechtliche Unterbringungen zeichnen sich durch eine relativ kurze Unterbringungsdauer und seltene Verlängerungen aus. Die durchschnittliche Unterbringungsdauer liegt hier zwischen 20 und 25 Tagen. Im Laufe der Jahre hat diese Zahl stark abgenommen; so betrug die durchschnittliche Unterbringungsdauer in den 1980ern noch 50-60 Tage. (Marschner 2010a, S. 33). In ca. 30% der PsychKG-Fälle wird die Unterbringung noch am selben oder am nächsten Tag wieder aufgehoben, 50% werden innerhalb von fünf Tagen und 75% innerhalb von drei Wochen aufgehoben und nach spätestens drei Monaten sind 99% der PsychKG-Unterbringungen erledigt. Nach Aufhebung der Unterbringung kommt es nicht unbedingt in allen Fällen zur Entlassung, beispielsweise wenn sich Betroffene auf freiwilliger Basis weiterbehandeln lassen wollen. (Marschner 2010a, S. 33; Lamberz 2013, S. 131). Im Unterschied dazu dauert eine BGB-Unterbringung nur in 9% der Fälle weniger als einen Monat. Bei ca. einem Drittel dauert sie zwischen einem und zwölf Monaten, bei 10% ein bis zwei Jahre, bei 23% zwei bis 10 Jahre, bei 25% zehn bis vierzig Jahre und in 2% sogar mehr als vierzig Jahre. Es handelt sich also häufig um langjährige Unterbringungen, wobei anzumerken ist, dass hier nicht nur Unterbringungen in Psychiatrien, sondern auch Unterbringungen in Altenund Pflegeheimen mit inbegriffen sind. (Marschner 2010a, S. 33; Lamberz 2013, S. 131-132).
Schätzungen zufolge finden Zwangsmaßnahmen wie Fixierungen oder Zwangsbehandlungen bei 10% aller psychiatrisch stationär aufgenommenen Patienten statt (Ketelsen et al. 2007, zitiert nach Marschner 2011, S. 162). Von den Patienten, die sich auf einer geschlossenen psychiatrischen Station befinden, sind sogar bis zu 1/3 von Fixierungen oder Zwangsbehandlungen betroffen (Armgart et al. 2013, S. 278).
Die Fixierung gilt in deutschen Psychiatrien als gebräuchlich. Die durchschnittliche Fixierungsdauer liegt bei 10 Stunden. Die Überwachung erfolgt meistens kontinuierlich durch eine Sitzwache am Bett oder durch eine Glasscheibe. Bei 1/3 der Psychiatrien gibt es nur Sichtkontrollen, durchschnittlich alle 16 min. (Ketelsen et al. 2007, zitiert nach Lincoln et al. 2014, S. 26; Steinert und Schmid 2014, S. 624, 626).
Zur psychiatrischen Zwangsbehandlung gibt es keine aktuellen repräsentativen Zahlen (Marschner 2011, S. 162; Lincoln et al. 2014, S. 26). Ausgegangen wird davon, dass zwischen 2 und 8% der stationär psychiatrisch behandelten Patienten zwangsbehandelt werden (Steinert und Kallert 2006, zitiert nach Marschner 2010a, S. 31 und Marschner 2011, S. 162). Ältere Studien aus den 1980ern bzw. 1990ern belegen Zwangsmedikationen bei 12-16% der Patienten auf geschlossenen Akutstationen (Lincoln et al. 2014, S. 26). Eine Studie aus dem Jahre 2012 deckt auf, dass 84% der psychiatrischen Kliniken während der Rechtsunsicherheit und trotz fehlender gesetzlicher Grundlage Zwangsbehandlungen durchführten (Steinert und Schmid 2014, S. 624). Ferner ist belegt, „dass die medikamentöse Zwangsbehandlung in der Regel bei schwerer gestörten, erregt-impulsiven und ‚krankheitsuneinsichtigen' Patienten in zugespitzten Krisensituationen zum Einsatz kommt.“ (Lincoln et al. 2014, S. 29). Dabei sind Menschen mit Schizophrenie am häufigsten von Zwangsbehandlungen betroffen. Erfolgte oder angedrohte Gewalt gegen andere sowie Selbstgefährdung stellen zumeist den Auslöser für eine Zwangsbehandlung dar. Bei den verabreichten Psychopharmaka handelt es sich meistens um Antipsychotika / Neuroleptika. (Lincoln et al. 2014, S. 27).
In zahlreichen Studien wurde belegt, dass es hinsichtlich der Häufigkeit und Dauer sämtlicher Zwangsmaßnahmen, von der Unterbringung über die Fixierung bis hin zur Zwangsbehandlung, enorme regionale Unterschiede gibt. Dabei bestehen die erheblichen Schwankungen nicht nur zwischen einzelnen Bundesländern, sondern auch zwischen einzelnen Städten desselben Bundeslandes, sogar zwischen einzelnen Kliniken innerhalb einer Region. (Lamberz 2013, S. 110-111, 116, 217; Lincoln et al. 2014, S. 27, 29; Brieger et al. 2014, S. 608, 612; Meise und Frajo-Apor 2011, S. 161; Marschner 2010a, S. 29). Zur Veranschaulichung folgen hier einige Zahlen: Bezüglich der betreuungsrechtlichen Unterbringungsmaßnahmen reichte die Unterbringungsquote im Jahr 2010 von 0,44 (Bremen) bis 3,11 (Bayern). Hinsichtlich der öffentlich-rechtlichen Unterbringungsmaßnahmen erstreckt sich das Spektrum der Unterbringungsquoten von 0,23 (Sachsen) bis 2,00 (Bremen). (Lamberz 2013, S. 17). Und je nachdem, wo man in NRW lebt, „kann sich das Risiko, [...] nach dem PsychKG untergebracht zu werden, um das Siebzehnfache unterscheiden“ (Crefeld 1998, zitiert nach Marschner 2010a, S. 29). Hinsichtlich der unterbringungsähnlichen Maßnahmen (Fixierung) reichen die Zahlen je 10.000 Einwohner von 1,14 Maßnahmen in Berlin bis zu 20,27 in Bayern (Deinert 2008, zitiert nach Marschner 2010a, S. 24). Diese großen Schwankungen zeigen, dass die Unterbringungspraxis in der Realität sehr unterschiedlich ist. Diese Unterschiede werden damit erklärt, dass mit den Unterbringungsvoraussetzungen, die ja nur in Form von unbestimmten Rechtsbegriffen vorliegen, in der Praxis sehr unterschiedlich umgegangen wird. Je nach personeller Besetzung scheint das Gesetz unterschiedlich gehandhabt zu werden. (Lamberz 2013, S. 18, 110-111, 217; Lincoln et al. 2014, S. 27).
Insgesamt gibt es nur wenige Studien, in denen Zwangsmaßnahmen mit qualitativen Forschungsmethoden erforscht wurden. Wenn überhaupt wurden das subjektive Erleben der Betroffenen sowie deren retrospektive Bewertung der Zwangsmaßnahme untersucht. (Meise und Frajo-Apor 2011, S. 162). Hierbei stellte sich heraus, dass Zwangsmaßnahmen häufig als traumatisierend erlebt werden und mit Gefühlen wie Angst, Hilflosigkeit, Resignation, Scham und Wut einhergehen. Zudem werden sie oft als Demütigung oder Strafe wahrgenommen. Darüber hinaus kann es zu Langzeitfolgen wie beispielsweise der dauerhaften Angst vor einer erneuten Behandlung und zu einer daraus folgenden Nicht-Inanspruchnahme von Hilfsmöglichkeiten kommen. Retrospektiv bewertet jeweils die Hälfte der Betroffenen die Zwangsmaßnahme als (un)gerechtfertigt. (Meise und Frajo-Apor 2011, S. 162; Lincoln et al. 2014, S. 28-29).
Die Tatsache, dass „Einblicke, wie Pfleger und Ärzte die Ausübung von Zwang und Gewalt erleben und verarbeiten, fehlen“ (Meise und Frajo-Apor 2011, S. 162), stellt eine Forschungslücke dar. Generell scheint die Perspektive derjenigen, die Zwangsmaßnahmen initiieren oder durchführen, ein unerforschtes Feld zu sein, und zwar nicht nur hinsichtlich des emotionalen Erlebens, sondern auch bezüglich anderer innerer Vorgänge wie beispielsweise der Entscheidungsfindung oder der subjektiven Bewertung.
Insgesamt gesehen kann die subjektive Perspektive der an Zwangsmaßnahmen Beteiligten als Forschungslücke identifiziert werden, vor allem die bislang gänzlich vernachlässigte Perspektive der Fachkräfte, die die Zwangsmaßnahmen initiieren bzw. durchführen. Die Tatsache, dass die immens unterschiedliche Unterbringungspraxis primär auf eine, je nach personeller Besetzung, unterschiedliche Handhabung des Gesetzesspielraumes zurückgeführt wird, unterstreicht die Relevanz einer empirischen Untersuchung der inneren Vorgänge der Fachkräfte. An diesem Punkt setzt die hier durchgeführte Untersuchung an.