Entscheidungsfindung
Es wurde u.a. der Frage nachgegangen, welche inneren Prozesse den Entscheidungen der Fachkräfte zugrunde liegen. Dabei stellte sich heraus, dass die folgenden Faktoren an der Entscheidung über eine Zwangsmaßnahme beteiligt sind: persönliche Schwellenwerte bzw. Kriterien, Erfahrung, (Bauch-)Gefühl sowie die Vorgeschichte des jeweiligen Klienten. Nach der Darstellung dieser Faktoren wird noch speziell auf den Einfluss des ärztlichen Gutachtens bei der richterlichen Entscheidung und auf die Beurteilung des (Nicht-)Vorhandenseins eines freien Willens eingegangen.
Schwellenwerte / Kriterien
Wie im Theorieteil deutlich wurde, ist das Unterbringungsrecht von unbestimmten Rechtsbegriffen geprägt, die einen gewissen Interpretationsspielraum zulassen. In diesem Sinne wird im Folgenden darauf eingegangen, ab welcher Art oder Intensität von Verhalten die einzelnen Fachkräfte die Grenze zur Fremdbestimmung im Sinne einer Zwangsmaßnahme als überschritten ansehen.
Bevor die abstrakten Schwellenwerte der Befragten dargestellt werden, wird ein Beispiel angeführt, welches die Schwierigkeit verdeutlicht, im konkreten Einzelfall zu entscheiden, wann die Grenze zur Fremdbestimmung überschritten ist.
Grenzfälle „Komm[en] gar nicht so selten vor. Ehm, einer derjenigen, der mir am meisten in Erinnerung geblieben ist, das war ne junge Frau [...] mit ner Magersucht. Und, ehm, da dann zu entscheiden, wo ist die Grenze, dass wir die jetzt zwangsernähren. Das war für mich eine ganz schlimme Erfahrung.“ (Richterin 2014, Z. 245-249)
Bezüglich der Selbstgefährdung verweist die Richterin auf die Unbestimmtheit des Rechtsbegriffs und gibt an, unter ihn Situationen zu subsumieren, die mit Lebensgefahr vergleichbar sind.
„Also im Gesetz steht, es muss eine erhebliche Eigengefährdung sein. Das ist natürlich n unbestimmter Rechtsbegriff. Also es muss nicht unbedingt Lebensgefahr sein, aber schon vergleichbar.“ (Richterin 2014, Z. 208-210)
Die Sozialarbeiterin und der Psychiater verbinden mit Selbstgefährdung vorrangig Suizidalität. Als Schwellenwert wird die direkte Äußerung suizidaler Absichten genannt.
„wenn jemand in meiner Gegenwart immer wieder darüber redet, dass er sich suizidiert, dann ist das n relativ klares Zeichen dafür.“ (Sozialarbeiterin SpDi 2014, Z. 252-253)
„Selbstgefährdung ist in allererster Linie natürlich eine Selbstmordgefährdung, also, jemand äußert Äußerungen lebensmüder Art ne.“ (Psychiater 2014, Z. 229-231)
Zusätzlich differenziert der Psychiater zwischen verschiedenen Arten von Suizidäußerungen und konkretisiert, dass für ihn die Grenze zur Zwangsmaßnahme dann überschritten ist, sobald der Patient angibt, über Methoden zur Umsetzung nachzudenken.
„da gibts ja auch verschiedene Qualitäten natürlich. Es gibt jemanden, der sagt
‚[...] wenn ich jetzt sozusagen morgens nicht mehr aufwachen würde, wäre es nicht
schlimm', das ist die leichteste Form ne, ‚aber ich würde mir nie selber was antun' zum Beispiel [...]. Aber wenn jetzt einer sagt, eh, ‚also in den, in den letzten Tagen da, eh, habe ich ständig den Gedanken, eh, wie, wie ich mich am besten umbringe' ne, ich mein, das ist natürlich klar, denjenigen würde man auch gegen seinen Willen behalten müssen, ne. Denn da ist ja n hohes Risiko tatsächlich.“ (Psychiater 2014, Z. 231-238)
Die Richterin schildert, dass für sie neben konkreter Lebensgefahr, z.B. aufgrund unterlassener Flüssigkeits-/Nahrungsaufnahme, auch eine drohende Chronifizierung der psychischen Erkrankung für eine Zwangsmaßnahme ausreichen würde.
„Gerade bei Psychosen [...] ist es allerdings so, dass für mich z.B. ausreichen würde, wenn die Psychose droht, zu chronifizieren, dass also jemand droht, dauerhaft in seinen Verfolgungsängsten in seiner Not hängen zu bleiben und nicht mehr in einen Zustand zu kommen, wo er zu einer freien Willensbildung in der Lage ist [...]. Ansonsten natürlich, wenn Menschen sich nicht mehr mit [...] Essen und Trinken versorgen, aber dann ist man ja auch schon bei der Lebensgefahr.“ (Richterin 2014, Z. 214-221)
Außerdem weist sie darauf hin, dass Vermüllung an sich keinen Unterbringungsgrund darstellt, allerdings dann zu einem führen kann, wenn sich Ungeziefer bilden oder der Betroffene Gefahr läuft, verschimmelte Lebensmittel zu sich zu nehmen.
„Vermüllung ist auch son Problem [...]. Es ist in der Regel keine erhebliche Eigengefährdung. Wenn da allerdings dann schon irgendwelche Viecher herumrennen, oder Lebensmittel verschimmelt sind und man aus der Krankheit heraus das nicht mehr erkennt und droht, verschimmelte Lebensmittel zu nehmen, dann würde ich das schon wieder als erhebliche Lebensgefährdung unter Umständen ansehen.“ (Richterin 2014, Z. 228-233)
Darüber hinaus äußert sie, ihre Entscheidungen auch in Abhängigkeit von der individuellen Lebenssituation des jeweiligen Menschen zu treffen. So stellt der individuelle Lebensweg für sie einen wichtigen Faktor für die Entscheidung dar, ob bestimmte selbstgefährdende Situationen für eine Unterbringung ausreichen oder nicht.
„da muss man wirklich den ganz individuellen Fall, den Menschen, ansehen. Man muss auch [...] son bisschen den Lebensweg betrachten. Bei manchen Menschen würde ich schon die Obdachlosigkeit sagen, kann ne erhebliche Eigengefährdung sein, wenn jemand in der Obdachlosigkeit aus der Krankheit heraus nicht in der Lage ist, sich selbst zu versorgen. Andere Menschen, die zu Beispiel schon immer obdachlos sind, ehm, und die nen Weg gefunden haben, damit klarzukommen, sehe ich keine Eigengefährdung ne.“ (Richterin 2014, Z. 222-228)
Davon abgesehen stellt die gesetzliche Betreuerin eine unmittelbar bevorstehende Lebensgefahr für den Betreuten sowie die Gefahr, selbst von diesem angegriffen zu werden, als überschrittene Schwelle heraus.
„wenn ich zum Klienten komme und der ist jetzt völlig, gerade, akut und ich denke, der springt gleich ausm Fenster oder geht mir an die Gurgel, ruf ich sofort die Polizei, dass der dann weg gebracht wird.“ (Gesetzliche Betreuerin 2014, Z. 118-120)
Ferner gibt die Sozialarbeiterin den Hinweis, dass Wahnvorstellungen allein keine Zwangseinweisung legitimieren, aber dann besondere Vorsicht geboten ist, sobald der Betroffene äußert, in die Offensive gehen zu wollen, denn dann kann es passieren, dass er sich beispielsweise gegen seine ihn angeblich verfolgenden Nachbarn zur Wehr setzt oder zu seinem vermeintlichen Schutz die Steckdosen manipuliert etc.
„wenn er allein nur psychotisch ist und sagt ‚ich werd aus den Steckdosen verfolgt oder abgehört oder da kommt Nebel raus und ich werd vergiftet', [...] das an sich ist noch kein Anhaltspunkt, aber wenn er sagt, ‚ich tu was dagegen, ich lass das nicht auf mir sitzen, ich werd jetzt tätig', dann ist das schon erstmal ne Idee, n Zustand, wo man schonmal genauer hingucken sollte, was er denn dann tun könnte.“ (Sozialarbeiterin SpDi 2014, Z. 254-259)
Hinsichtlich fremdgefährdenden Verhaltens gibt die Richterin Lebensgefahr für Dritte als Kriterium für eine Unterbringung an und merkt zudem an, dass Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in NRW keine Zwangseinweisung rechtfertigen.
„Fremdgefährdung, klar, Lebensgefahr für andere. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung darf in Nordrhein-Westfalen keine Rolle spielen“ (Richterin 2014, Z. 325-326)
Nach Auskunft des Psychiaters stellen tatsächlich erfolgte Gewalttaten zwangslegitimierende Faktoren dar. Zudem reichen aus seiner Sicht sowohl für Zwangseinweisungen als auch für Fixierungen schon bedrohliche Verhaltensweisen, d.h. Androhungen von Gewalt oder unmittelbar erwartbares aggressive Verhalten, aus.
„Ja, an sich reicht da [bzgl. Fremdgefährdung] schon bedrohliches Verhalten aus, also wenn jemand nur droht mit, mit Schlägen oder, eh, Handlungen, dann, im Rahmen der Krankheit [...] da fängts an schon, ne. Tätigkeiten sowieso“ (Psychiater 2014, Z. 249-252)
„bei tatsächlich erfolgten tätlichen Übergriffen wird fixiert und auch bei bedrohlichem Verhalten, wo man einschätzt, dass ers vielleicht im nächsten Moment dann tatsächlich das umsetzt, ne, da, eh, wird fixiert“ (Psychiater 2014, Z. 254-257)