Freie Willensbestimmung und Bilanzsuizidalität
Die folgenden Beispiele sollen zunächst die Relevanz des freien Willens und die Schwierigkeiten, die damit für die Fachleute verbunden sind, verdeutlichen.
„Freie Willensbildung, [...] eine der schwierigsten Fragestellungen im Betreuungsrecht. Davon hängt halt viel ab. Jemand man darf sich mit freier Selbstbestimmung selbst schädigen, darf sich mit freier Entscheidung gegen Medikamente entscheiden, darf sich mit freier Entscheidung selbst umbringen, darf mit freier Entscheidung einen Betreuer ablehnen, obwohl er vielleicht hilfreich sein könnte. Insofern ist das schon ein Drehund Angelpunkt des ganzen Betreuungsrechts.“ (Richterin 2014, Z. 460-465)
„der freie Wille, dieser Begriff ist außerordentlich schwierig [...]. Also ne Einschränkung des freien Willens oder sogar Aufhebung ist ne äußerst schwierig zu beurteilende Frage.“ (Psychiater 2014, Z. 308-312)
Als Kriterien für die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung wird benannt, dass die Person die Vorund Nachteile sowie die Konsequenzen ihrer Entscheidung abschätzen können und über einen adäquaten Realitätsbezug verfügen muss.
„kann jemand Vorund Nachteile abschätzen und die Konsequenzen seiner Entscheidung vorhersehen. Das wären für mich die Kriterien für die freie Willensbildungsfähigkeit.“ (Richterin 2014, Z. 479-481)
„wenn kein realistisches Bild mehr, eh, gebildet werden kann, wenn kein realistischer Bezug mehr herrscht zum Leben, dann ist der freie Wille aufgehoben. Aber im Einzelfall ist es schwer zu sagen, wann er wirklichkeitsaufgehoben ist ne.“ (Psychiater 2014, Z. 349-351)
Was die Beurteilung der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung angeht, wird angegeben, dass es zum Teil auch Menschen gibt, bei denen der freie Wille ganz offensichtlich aufgehoben ist, wofür im Folgenden ein Beispiel gegeben wird.
„dass es relativ offensichtlich ist, wenn mir [...] jemand sagt, er will nicht untergebracht sein, weil er ja weiß, dass durch das Krankenhaus Giftstoffe vom Vatikan geschickt werden, damit er schwul wird und sich entscheidet, Papst zu werden, dann ist das für mich relativ eindeutig, den Fall hatte ich mal“ (Richterin 2014, Z. 513-517)
Ferner werden ausgeprägte demenzielle Erkrankungen sowie starke Wahnvorstellungen für eindeutig im Sinne eines unfreien Willens befunden.
„eindeutig ist, wenn jemand dement ist, oder so psychotisch, dass er von Wahnvorstellungen beherrscht ist, dann kann er natürlich nicht mehr einen vernünftigen Willen krankheitsunabhängig bilden, das ist dann eindeutig ne.“ (Psychiater 2014, Z. 312-315)
Bei der Feststellung der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung handelt es sich um eine medizinische Aufgabe, allerdings muss diese Einschätzung durch einen Richter überprüft werden, sodass auch er den freien Willen des Betroffenen zu beurteilen hat.
„Es ist in erster Linie [...] ne medizinische Frage, [...] insofern verlasse ich mich schon im Wesentlichen auf die medizinische Einschätzung [...], aber es bleibt mir nichts übrig, ich muss die ärztliche Einschätzung auf Schlüssigkeit überprüfen“ (Richterin 2014, Z. 466-470)
Was das Gespräch zur Beurteilung des freien Willens angeht, merkt die Richterin an, dass die meisten Personen versuchen, ihre Unfähigkeit zur freien Willensbestimmung zu überspielen, indem sie sich um eine gute Fassade bemühen.
„er kann seine eigene Entscheidungsunfähigkeit überspielen und das versuchen auch die meisten, natürlich, keiner lässt sich gerne fremdbestimmen. [...] da versuchen fast alle Betroffenen [...] erstmal eine gute Fassade aufrechtzuerhalten.“ (Richterin 2014, Z. 486-492)
Diesbezüglich gesteht sie ein, dass es zu Fehlentscheidungen kommen kann, entweder aufgrund einer gelungenen Simulation des Betroffenen oder weil die Fachkraft dem Betroffenen aus einem Schutzund Fürsorgegedanken heraus den freien Willen voreilig abspricht. Daher betont sie, dass es wichtig ist, sich für die Beurteilung des freien Willens Zeit zu nehmen.
„Und meiner Meinung nach gibt es bestimmt Fälle, wo sie es schaffen, wo man mir vielleicht vormacht, man kann die Konsequenzen absehen, tatsächlich ist es nicht so. Da gibts bestimmt Fälle, die durchs Raster fallen. Und umgekehrt ist das dann vielleicht aus diesem Fürsorgegedanken heraus, dass man jemanden vor negativen Konsequenzen schützen will, dass man voreilig die freie Willensbildungsfähigkeit jemandem abspricht. Klar, da wirds Fehlentscheidung geben, da kann man nicht mehr machen, als sein Bestes zu geben und da ist es meiner Meinung nach unerlässlich, dass man sich einfach Zeit nimmt“ (Richterin 2014, Z. 492-499)
Wie bereits im Theorieteil erläutert, ist die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung die Voraussetzung für einen Bilanzsuizid, den Fachleute nicht verhindern dürfen. Was die Beurteilung des freien Willens im Hinblick auf einen Suizid angeht, äußert die Richterin, dass es ihr schwer fällt, einem Betroffenen gewissermaßen die Erlaubnis zu geben, sich zu töten. Von daher spricht sie an, dass seitens der Fachkräfte möglicherweise versucht wird, doch noch eine dahinterliegende Krankheit zu finden, in der Hoffnung, den Suizid durch die dann legitimierten Zwangsmaßnahmen abzuwenden.
„Ist aber in der Praxis ganz schwer, wenn ich n Unterbringungsantrag habe für jemanden, der suizidal ist, dann zu sagen ‚ja, ich sehe die Gefahr, dass der sich umbringen will, aber es ist n Bilanzsuizid, das darf er und dann lass ich ihn mal machen.' [...] Das kann ich nicht leugnen, dass man da versucht zu gucken, ob das nicht doch irgendne Krankheit ist, aufgrund dessen er sich umbringen will, dass man die Gelegenheit hat, ihn noch n bisschen in der Klinik zu lassen, vielleicht Medikamente zu geben, in der Hoffnung, dass er es sich [...] anders überlegt.“ (Richterin 2014, Z. 878-887)
Hinsichtlich des Umganges mit potenzieller Bilanzsuizidalität in der Psychiatrie schildert der Psychiater, dass bei Suizidalität zunächst pauschal eine Krankheitsbedingtheit unterstellt und dann während des Klinikaufenthalts genauer eruiert wird, was tatsächlich hinter der Suizidalität steckt.
„ich sag mal, wir sind so ganz böse und unterstellen bei jedem, der uns vorgestellt wird, oder der sich vorstellt, und der Suizidabsichten hat, dass das [...] erstmal aus einem krankhaften Erleben heraus passiert. Davon gehen wir erstmal aus. Und, eh, die weitere Beobachtung oder auch Behandlung wird dann zeigen, eh, was dahinter steckt wirklich [...]. Also als, im Akutfall sozusagen [...] müssen wir ja im Grunde davon ausgehen, dass das nicht auf einem freien Willen beruht, wenn jemand uns von irgendwelchen Suizidplänen erzählt ne [...]. Also dass wir dann jemandem eine freie Willensbestimmung attestieren [...] das ist noch nicht vorgekommen und das kann ich mir eigentlich auch nicht vorstellen ne.“ (Psychiater 2014, Z. 602-613)
Wenn sich dann allerdings herausstellt, dass die Suizidalität nicht krankheitsbedingt im klinischen Sinne ist, stecken nach Auskunft des Psychiaters möglicherweise andere belastende Lebensumstände hinter der Suizidabsicht, sodass Fachleute zunächst versuchen sollten, mit dem Betroffenen nach Lösungswegen zu suchen.
„Das ist natürlich die Frage, was man unter Krankheit versteht ne, ich meine, wenn jemand sehr viele Belastungen im Leben hat und, eh, so verzweifelt ist, dass er nicht mehr weiterleben will, weil er denkt, er kann die Probleme nicht lösen, dann ist das auch ne Art Krankheitszustand, auch wenn derjenige jetzt nicht unbedingt im engeren Sinne psychisch krank ist, aber dann ist es, denke ich mal, Aufgabe zu gucken, ob nicht doch tatsächlich Lösungswege da eröffnet werden können ne.“ (Psychiater 2014, Z. 619-624)
Von der Suizidalität als Aufnahmegrund einmal abgesehen, wird im Übrigen auch bezüglich selbstoder fremdgefährdenden Verhaltens von Patienten während ihres Klinikaufenthalts davon ausgegangen, dass es krankheitsbedingt erfolgt und nicht auf einem freien Willen beruht.
„natürlich stellen wir schon [...] bei Aufnahme fest, ist die Krankheit sozusagen im Moment akut, oder, eh, ist sie überhaupt vorhanden oder nicht, ne. Und alles, was dann passiert, da unterstellen wir schon, dass das Ausdruck [...] der Krankheit ist, ne, das Verhalten. Das kann man auch in 99% ne. Ehm, und nehmen das praktisch als [...] besonderen Ausdruck [...] der Erkrankung, das wären solche Aggressionen oder auch Selbstgefährdungen ne [...] Also wir behandeln nur Kranke und nicht Gesunde ne. Deswegen unterstellen wir jegliches Verhalten im Grunde als krankheitsbedingt.“ (Psychiater 2014, Z. 292-303)