Selbstund Fremdsicht: Emotionales Erleben von Fachkräften
Die Betroffene und die Vertreterin der Antipsychiatrie vermuten, dass die Fachleute locker und anteilnahmslos mit Zwangsmaßnahmen umgehen und sich emotional davon distanzieren, zumal Zwang für sie zum Arbeitsalltag gehört.
„Also, die gehen ja ganz locker damit um. [...] dass die sich recht zwanglos unterhalten haben, [...] also schiens denen ja auch nicht schlecht zu gehen. Und das Personal sagte dann höchstens [...], wenn man kam, wenn man schonmal in der Psychiatrie war, [...] ‚Na, wieder Sie? Ists mal wieder soweit?' oder so. Also auch n ganz lockerer Umgang damit ne. Ist deren Tagesgeschäft. Also, da, Anteilnahme [...], nee glaub ich nicht. Ich glaub das ist einfach Tagesgeschäft.“ (Betroffene 2014, Z. 2349-2357)
„Ach, das lassen die jetzt auch meistens nicht so wirklich an sich heran.“ (Antipsychiatrie 2014, Z. 810)
Darüber hinaus wird von der Vertreterin der Antipsychiatrie der Verdacht geäußert, dass die Fachleute Spaß an der Durchführung von Zwangsmaßnahmen haben.
„also denen macht das auch Spaß, in so ner Horde da rumzurennen und [...] Menschen da zu überfallen, irgendwie da in irgendwelche Betten zu fesseln, ihnen sogenannte Betonspritzen zu geben“ (Antipsychiatrie 2014, Z. 680-683)
„Also du brauchst da, [...] um sowas [...] jahrelang, eh, mit dem gleichen Enthusiasmus durchführen zu können, [...] schon ne gewisse sadistische Anlage, [...] es muss dir ja Spaß machen“ (Antipsychiatrie 2014, Z. 829-832)
Diese Einschätzungen weichen deutlich von der Beschreibung der Fachkräfte bezüglich ihres emotionalen Erlebens bei der Durchführung bzw. Anordnung von Zwangsmaßnahmen ab, wie im Folgenden anhand mehrer Interviewaussagen gezeigt wird. Entgegen der Vermutungen der Betroffenen und der Vertreterin der Antipsychiatrie äußern alle Fachkräfte eine starke emotionale Betroffenheit und beschreiben durchweg negative Emotionen im Kontext von Zwangsmaßnahmen.
So erinnert sich der Psychiater an seine erste durchgeführte Zwangsbehand-
lung und betont, solche Situationen bis heute schrecklich zu finden.
„Also ganz schrecklich, schrecklich, ne. Also dass man da quasi so vergewaltigen muss ne, Menschen ne, zu deren vermeintlichen oder tatsächlichen Wohl, sag ich mal ne, es ist ja das tatsächliche Wohl ne. Aber es war mir trotzdem an sich die ganze Aktion natürlich unangenehm, ist sie mir auch heute noch, also auch noch nach vielen Jahren, nach Jahrzehnten, wenns zu solchen Situationen kommt, fürchterlich.“ (Psychiater 2014, Z. 719-724)
Die folgenden Beispiele zeigen ein ähnliches emotionales Erleben der Fachleute. Sie beschreiben ihre Gefühle mit den Worten „schrecklich, schlimm und furchtbar“, wobei die Anwendung von Gewalt als besonders schlimm empfunden wird.
„Es ist schrecklich. Es ist das Schlimmste an der Arbeit. Also es ist ganz furchtbar. [...] Naja, ich muss ja was gegen deren, erstmal, es ist ja irgendwie gegen deren Willen. Und wenn die Polizei dann mitkommt und die da Gewalt anwenden muss, das find ich schon schrecklich, ne. Also, so schrecklich, dass ich das auch gar nicht alles hier erzählen kann, was ich da schon gesehen habe.“ (Gesetzliche Betreuerin 2014, Z. 232-332)
„wenn da Gewalt angewendet wird, das find ich ganz schlimm.“ (Gesetzliche
Betreuerin 2014, Z. 344-345)
„Das find ich furchtbar. Das find ich ganz furchtbar. Also [...] das ist wirklich, für
mich ist das das letzte Mittel“ (Psychologin BeWo 2014, Z. 271-272)
Das folgende Beispiel macht deutlich, dass eine Zwangseinweisung nach Ausschöpfung aller anderen Möglichkeiten allerdings auch als eine Befreiung des Betroffenen von seinem Leidensdruck wahrgenommen werden kann.
„In den allermeisten Fällen [...] habe ich kein schlechtes Gefühl, wenn ich jemanden unterbringe, weil [...] das ist ja nur die Spitze des Eisbergs, also wenn es überhaupt zu ner Unterbringungssituation kommt, dann ist schon vorher viel passiert. Man kommt ja erst zu Unterbringungen, wenn es ganz kurz davor ist, zu spät zu sein. Vorher denkt man ja über andere Möglichkeiten nach. Und insofern ist es schon häufig auch das Gefühl, dass wir den Betroffenen jetzt von einem Leidensdruck befreien, auch wenn er vielleicht verbal äußert, das nicht zu wollen.“ (Richterin 2014, Z. 671-679)
Offensichtlich hängt das emotionale Erleben der Fachkräfte auch davon ab, an welchem Punkt der Zwangsmaßnahme sie involviert sind. So weist die Richterin beispielsweise darauf hin, dass sie die Situation der Zuführung zur Unterbringung, bei der sie nicht dabei ist, für schlimmer hält als ihre richterliche Anhörung in der Klinik.
„Und zudem ist natürlich, das darf man nicht klein reden, ne Unterbringung manchmal sogar n traumatisches Erlebnis, oft ist es aber das Schlimmste, die Situation in die Unterbringung reinzukommen, also der Transport, das Herausholen aus der Wohnung und das Hingebracht werden mit Polizei, eventuell mit Fixierung und die ist dann ja schon vorbei in der Anhörungssituation, wenn ich es in der Klinik mache.“ (Richterin 2014, Z. 691-696)
In den folgenden Interviewaussagen wird eine Diskrepanz zwischen Vernunft und Gefühl deutlich. Während die Zwangsmaßnahme emotional als aversiv erlebt wird, wird sie rational als richtig und hilfreich bewertet, wie folgende Beispiele zeigen.
„Wenn wir sagen ‚[...] der ist so aggressiv, den müssen wir jetzt fixieren, [...] damit nicht noch mehr passiert.' Klar, das wird gesagt, ist auch alles vernünftig, aber der Vorgang an sich ist schrecklich ne.“ (Psychiater 2014, Z. 730-733)
„also meistens geht es mir da nicht sonderlich gut, wenn ich Fixierungen genehmige [...]. Einerseits genehmige ich sie natürlich, weil ich keine bessere Lösung habe, sonst würde ich sie ja nicht genehmigen, sodass ich unterm Strich die Entscheidung dann schon für richtig halte, aber in dem Thema bin ich so fest drin, dass ich das meistens als eine Art persönliches Scheitern empfinde, dass ich kein milderes Mittel gefunden habe“ (Richterin 2014, Z. 605-611)
„Obwohl ich weiß, das muss sein, dass sie in die Klinik kommen, da steh ich auch hinter, ne, eh, aber, nee, das finde ich furchtbar.“ (Gesetzliche Betreuerin 2014, Z. 345-346)
Ein Rückgriff auf rationale Überzeugungen kann zu einer inneren Rechtfertigung der Zwangsmaßnahme und zu einer Kompensation des eigenen Unbehagens führen, was aus den folgenden beiden Aussagen abgeleitet werden kann.
„Das ist mir nicht angenehm. Also das war mir noch nie angenehm. Ich finds wirklich furchtbar, wenn man da jemanden überwältigen muss und irgendwie was spritzen ne. Aber ich hab eben im Hinterkopf, [...] dass der Mensch davon profitiert, und [...] diese Erkenntnis steht dann über dem emotional Unangenehmen des eigentlichen Handelns“ (Psychiater 2014, Z. 704-708) „es ist einfach schrecklich zu sehen, wenn man Menschen so Gewalt antun muss, aber die sind so krank, es geht einfach nicht anders.“ (Sozialarbeiterin SpDi 2014, Z. 139-140)
Während es oben um das emotionale Erleben der Fachleute während der Anordnung bzw. Durchführung von Zwangsmaßnahmen ging, wird im nächsten Abschnitt ihr emotionales Erleben in Bezug auf das Unterlassen-Müssen von Zwangsmaßnahmen thematisiert.
Die gesetzliche Betreuerin erwähnt, die Lebenssituation eines Betreuten an ihrem persönlichen Maßstab für ein menschenwürdiges Leben zu bemessen und infolgedessen das Gefühl zu entwickeln, einschreiten zu müssen, sobald die Lebenssituation des Betreuten ihre Grenze von einem menschenwürdigen Zustand unterschreitet. Dementsprechend äußert sie, es schade zu finden, wenn sie in Situationen, in denen sie Handlungsbedarf sieht, keine rechtliche Handhabe dafür hat, tätig zu werden, und stattdessen den Zustand bzw. das Verhalten des Betreuten unverrichteter Dinge so hinnehmen muss. Weiterhin erklärt sie sich die Diskrepanz zwischen ihren Lebensvorstellungen und denen des Betreuten dadurch, dass der Betroffene eigentlich auch nicht so leben will und im Grunde selbst unter seinen Lebensumständen leidet.
„da hab ich auch Grenzen, was menschenwürdig ist oder was nicht. [...] es gibt Betreute, die leben völlig im Müll, und registrieren das nicht, dass sie im Müll leben, oder es stört sie nicht, ich weiß es nicht. [...] Aber [...] ich hab rechtlich keine Handhabe, ich hab rechtlich nur ne Handhabe, gegen sowas in der Wohnung was zu tun, wenn, wenn sich da Ungeziefer bilden. Ich kann keine Müllwohnung leer räumen lassen. Das find ich schade, also ich glaube, [...] der Betreute leidet da trotzdem drunter, ich darf aber nichts wegwerfen, und ich fänds besser, wenn da mehr Spielraum wäre, dass man es trotzdem machen könnte.“ (Gesetzliche Betreuerin 2014, Z. 745-753)
Kognitiv ist der Richterin bewusst, dass es verschiedene Arten der Lebensgestaltung gibt und dass man sich mit seinen eigenen Maßstäben zurückhalten sollte.
„man muss sich schon [...] immer wieder bewusst machen, dass man eigene Erfahrungen und Hintergründe hat, und dass man die nicht auf andere projizieren kann, weil es nunmal sehr unterschiedliche Lebenswege und Lebenspläne gibt. Und, Leute haben dann auch ein Recht, ein Leben zu führen, das ich selber als nicht lebenswert, [...] nicht alltagswert halten würde, eh, wo ich Änderungsbedarf sehen würde. Da muss man einfach auch zurücktreten und sagen, es ist trotzdem ein Weg.“ (Richterin 2014, Z. 854-860)
Trotzdem fällt es ihr emotional schwer, dieser Einsicht entsprechend zu handeln. Das folgende Beispiel verdeutlicht die emotionale Betroffenheit der Richterin über eine für leidvoll befundene Lebenssituation eines Menschen und ihr daraus resultierendes Bedürfnis, einzuschreiten, um das vermutete Leid des Betroffenen zu lindern.
„Das ist dann so schwer für mich zu ertragen, [...] das ist so ein, ein leidvolles Leben, dass ich den Eindruck hab, ich muss da einschreiten“ (Richterin 2014, Z. 983-985)
Die Aussage des Psychiaters geht in eine ähnliche Richtung, indem er äußert, dass es ihm schwer fällt, jemandem, der offensichtlich unter seinen Krankheitssymptomen leidet, keine Medikamente zu geben, trotz der Überzeugung, dass sie ihm helfen würden. Zudem widerspricht es seinem Selbstverständnis als Arzt, Menschen trotz verfügbarer Behandlungsmöglichkeiten leiden zu lassen, statt ihnen zu helfen.
„es würde mir allerdings auch schwer fallen, wenn man sieht, wie sich jemand rumquält aufgrund von Krankheitssymptomen, und man will aber keine Medikamente, eh, man wüsste genau, das würde ihm sehr helfen, und kanns dann nicht geben [...], ich meine, als Arzt will man ja auch irgendwie eine Gesundung herbeiführen oder Leuten helfen ne.“ (Psychiater 2014, Z. 766-770)
Auch die Richterin sieht sich in einem helfenden Beruf und möchte Leid lindern.
„Ich glaub, das Motiv ist [...], das uns Richter dann [...] treibt, dass man manchmal Leiden von Menschen nicht ertragen kann oder möchte und es lindern möchte“ (Richterin 2014, Z. 1170-1172)
Zudem empfindet die Richterin es als schwierig, sich an das Gesetz zu halten und den Betroffenen gewähren zu lassen, wenn dessen freier Wille ihrer persönlichen Auffassung von Wohlbefinden zuwiderläuft. Sie verweist damit auf einen inneren Konflikt, der entsteht, wenn sie eigentlich aus einem Fürsorgegedanken heraus einschreiten will, es aber aufgrund rechtlicher Beschränkungen unterlassen muss.
„ich versuche mich da streng ans Gesetz zu halten, das ist manchmal nicht so leicht, weil manchmal möchte man einfach, dass es den Leuten gut geht und dann muss man sich schon sehr zwingen, den freien Willen zu respektieren, wenn der seiner eigenen Meinung nach total irrational ist und Leute drohen sich selbst sehr zu schaden“ (Richterin 2014, Z. 588-592)
„ich versuche mich daran zu halten. Ich muss es, aber das fällt schwer.“ (Richterin 2014, Z. 900-901)
Aus den Aussagen der Fachkräfte wird deutlich, wie schwierig es ist, jemanden ‚machen lassen' zu müssen, obwohl man dessen Situation für leidvoll erachtet und das Bedürfnis hat, ihm zu mehr Wohlbefinden zu verhelfen. Allerdings wurden bei der Bewertung, dass dessen aktuelle Situation leidvoll ist, nicht die subjektiven Bewertungsmaßstäbe des Betroffenen angelegt, sondern die eigenen. Es erweist sich als sehr schwierig, sich von seinen subjektiven Bewertungsmaßstäben zu distanzieren und stattdessen die Perspektive des Betroffenen gelten zu lassen. Wenn man denjenigen rechtlich nun tatsächlich gewähren lassen muss, wirkt es so, als würde man das Leid des Betroffenen billigend in Kauf nehmen. Das wiederum widerspricht dem Selbstverständnis eines Menschen in einem helfenden Beruf. So stellt es sich für einen fürsorglichen Menschen in einem helfenden Beruf als schwer zu ertragen heraus, Menschen offenbar leiden zu lassen und eine Intervention zu unterlassen.
Insgesamt wurde deutlich, dass Zwangsmaßnahmen für alle Beteiligten, sowohl für Betroffene als auch für Fachleute, emotional sehr belastend sind und mit aversiven Gefühlen einhergehen. Hinsichtlich der Fremdeinschätzung lässt sich konstatieren, dass die Vermutungen der Fachkräfte über das emotionale Erleben der Betroffenen zutreffender waren als vice versa. Aber auch das Unterlassen-Müssen von Zwangsmaßnahmen aufgrund rechtlicher Beschränkungen wird von den Fachkräften als schwierig empfunden, wenn sie den Eindruck haben, die Maßnahmen würden dem Betroffenen eigentlich helfen.