Diskussion

Da aufgrund der Ergebnisdarstellung möglicherweise ein verzerrter Eindruck mit stigmatisierender Wirkung entstanden sein kann, sei ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich in dieser Untersuchung nicht generell mit psychischen Erkrankungen und den davon Betroffenen befasst wurde, sondern dass der Fokus auf Situationen lag, die für so akut befunden wurden, dass eine zwangsweise Intervention erwogen oder durchgeführt wurde. Weitaus nicht alle Menschen mit einer psychischen Erkrankung verhalten sich gegenüber ihren Mitmenschen fremdaggressiv oder sind potenziell unterbringungsbedürftig. Stattdessen ist „davon auszugehen, dass die Gefährlichkeit psychisch Kranker die Gefährlichkeit der strafmündigen Bevölkerung als Gesamtheit nicht wesentlich übersteigt“ (Marschner 2010a, S. 38). Dementsprechend handelt es sich im Rahmen dieser Untersuchung um Ausnahmesituationen, die für die Gesamtheit der Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht repräsentativ sind.

Außerdem soll angemerkt werden, dass die von den Fachkräften benannten Schwellenwerte und Entscheidungskriterien hinsichtlich einiger unbestimmter Rechtsbegriffe keinen Anspruch auf Rechtmäßigkeit erheben, sondern lediglich die subjektiven Anhaltspunkte der Befragten aufzeigen.

Grenzen des Selbstbestimmungsrechts

Es besteht sowohl bei den Befragten (S. 146) [1] als auch in der Literatur Einigkeit darüber, dass die Grenze des Selbstbestimmungsrechts eines Einzelnen bei den Rechten Dritter liegt und somit eine freie Persönlichkeitsentfaltung nur unter gegenseitiger Rücksichtnahme legitim ist (Dodegge und Zimmermann 2011, S. 207, 254; Hell 2013, S. 52).

Diese Haltung entspricht auch dem Gesetz, denn es heißt in Art.2 Abs.1 GG:

„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ (Stascheit 2014, S. 16).

Suizid

Die Frage, ob Menschen das Recht haben, sich selbst zu töten, berührt sowohl eine ethische als auch juristische Perspektive (Fenner 2008, S. 56-57), wobei sich die im Rahmen dieser Untersuchung erzielten Ergebnisse auf die ethische Ebene beziehen.

Die Ansicht der Befragten, dass jeder das Recht auf Suizid hat, sofern es dessen freier Wille ist (S. 150), wird bei Schobert (1989) bestätigt, der denjenigen die Freiheit zum Suizid zuspricht, deren Entscheidung bei klarem Verstand gefällt wird (Schobert 1989, S. 145-146). Auch Fenner (2010) bekräftigt die sogenannte individualethische Grenze des Suizids, indem sie postuliert,

„dass nur derjenige Suizid ethisch erlaubt ist, der auf einer rationalen Entscheidung nach einer sorgfältigen Abwägung [...] beruht“ (Fenner 2010,

S. 330). In der Literatur wurde keine dem widersprechende Haltung gefunden, mit Ausnahme der katholischen Kirche, wonach ein Suizid dem Tötungsverbot und der Heiligkeit des Lebens zuwiderläuft (Neitzke et al. 2013, S. 350; Fenner 2008, S. 400). Die religiöse Auffassung, dass nur Gott allein über Leben und Sterben entscheiden darf, geht mit „ein[em] absolute[n] Suizidverbot und eine[r] Lebenserhaltungspflicht“ (Fenner 2008, S. 400) einher.

Während die Ansicht der Interviewpartner, dass nur frei verantwortliche, bei klarem Verstand getroffene Suizidentscheidungen legitim sind (S. 150), auf der individualethischen Perspektive anzusiedeln ist, entsprechen ihre Äußerungen, dass die Grenzen des Rechtes auf Suizid auch bei der Schädigung Dritter erreicht sind (S. 151), der sozialethischen Perspektive (Fenner 2010,

S. 329-330). Aus sozialethischer Sicht, der das Prinzip gegenseitiger Rücksichtnahme zugrunde liegt, ist ein Suizid nur dann legitim, wenn dadurch kein anderer Mensch in Mitleidenschaft gezogen wird (Fenner 2010, S. 329). Als mögliche Schädigungen anderer Menschen wurden in dieser Untersuchung die direkte Beteiligung Dritter an der Suizidhandlung sowie die psychischen Belastungen der hinterbliebenen Angehörigen herausgestellt (S. 151). In der Literatur wird zwar nicht die Beteiligung am Suizid genannt, dafür aber neben psychischen Belastungen auch materielle Nachteile für die Hinterbliebenen erwähnt. Sozialethisch gesehen ist bei den Überlegungen über einen Suizid demzufolge der eigene Leidensdruck gegen die mit dem Suizid einhergehenden Beeinträchtigungen für das soziale Umfeld abzuwägen. (Fenner 2010, S. 329; Neitzke et al. 2013, S. 356; Fenner 2008, S. 400).

Hinsichtlich des Rechts auf Suizid gibt es aus ethischer Perspektive also sowohl individualethische als auch sozialethische Grenzen, die in dieser Untersuchung gleichermaßen benannt wurden wie in der Literatur. Das, was individualethisch als legitimer Suizid angesehen wird, wird im Übrigen als Bilanzsuizid bezeichnet.

Generell handelt es sich beim Bilanzsuizid um ein umstrittenes Thema (Strnad et al. 1999, S. 647). Die Frage nach der Existenz von Bilanzsuiziden wurde von den Befragten überwiegend bejaht (S. 151-152). In aktueller Fachliteratur zeigt sich die Tendenz, Suizide auf psychische Krankheiten zurückzuführen. So wird in der Literatur im Kontext von Bilanzsuiziden die hohe Korrelation zwischen psychischer Krankheit und Suizidalität betont. Es wird beispielsweise angeführt, dass im Rahmen von psychologischen Autopsien bei ca. 90% der Suizidenten eine psychische Störung nachgewiesen werden konnte (Cording und Saß 2009, S. 1071, 1077; Teismann und Dorrmann 2013,

S. 297, 300; Fenner 2008, S. 114) sowie dass bei einem Großteil der Suizidenten eine Depression vorgelegen hat (Lamberz 2013, S. 43; Neitzke et al. 2013, S. 357). Zudem kam eine Studie über 125 Suizide zu dem Ergebnis, dass nur bei einem von 125 keine psychobiologische Störung gefunden werden konnte (Mitterauer 1997, S. 11). Allerdings erlaubt diese nachgewiesenermaßen hohe Korrelation zwischen Suizidalität und psychischer Erkrankung keine Rückschlüsse auf eine Kausalität. Nur weil die meisten Suizidenten psychisch krank waren, heißt das nicht, dass diese Suizide krankheitsbedingt erfolgt sein müssen, denn, wie bereits im Theorieteil erläutert, schließt das Vorhandensein einer psychischen Erkrankung die Fähigkeit zur freien Willensbildung nicht automatisch aus. Es gibt auch Menschen, die trotz einer psychischen Erkrankung einen freien Willen bilden können, sodass sich prinzipiell auch psychisch Kranke freiverantwortlich für einen Suizid entscheiden können. Dementsprechend kann den oben genannten Studienergebnissen nicht entnommen werden, wie viel Prozent der Suizide tatsächlich im Zustand freier Willensbestimmung erfolgten und somit als Bilanzsuizide eingeordnet werden können. (Cording und Saß 2009, S. 1071; Fenner 2008, S. 115-116, 386, 390; Eink und Haltenhof 2009, S. 23).

Des Weiteren wird als Argument gegen die Existenz von Bilanzsuiziden angeführt, „dass sich nur ein Prozent aller Patienten, die einen Suizidversuch überleben, im Laufe des ersten Jahres nach solch einem Ereignis tötet“ (Bahro und Strnad 2000, S. 259). Demgegenüber betont Schobert (1989), dass Bilanzsuizidenten zumeist eine todsichere Suizidmethode wählen (Schobert 1989, S. 50-51); demnach wäre die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass Bilanzsuizidenten zu der von Bahro und Strnad angesprochenen Gruppe der Überlebenden zählen.

In der Literatur wird nur selten geäußert, dass Bilanzsuizide für gänzlich unmöglich gehalten werden (Dörner et al. 2012, S. 327), ebenso wie es nur wenige vorbehaltlose Zustimmungen gibt (Eink und Haltenhof 2009, S. 14, 23; Finzen 2013, S. 73). Die überwiegend vertretene Meinung ist, dass Bilanzsuizide zwar prinzipiell möglich sind, in der Realität aber eine absolute Ausnahme darstellen (Fenner 2008, S. 112). Während Bahner (2013) vermutet, dass es sich bei 5% aller Suizide um Bilanzsuizide handelt (Bahner 2013, S. 183-184), werden diese von anderen Autoren lediglich für sehr selten gehalten, ohne jedoch diese ‚Seltenheit' zu beziffern (Lamberz 2013, S. 74-75; Sahm 2010, S. 232; Neitzke et al. 2013, S. 352).

Die Vermutung, dass insbesondere Psychiater die Existenz von Bilanzsuiziden abstreiten, da sie Suizidalität grundsätzlich auf psychische Störungen zurückführen (Vollmann 2008, S. 199; Finzen 2013, S. 73; Friedrich und Heinrichs 2014, S. 320; Lamberz 2013, S. 116), widerspricht den Ergebnissen dieser Untersuchung, da sich der hier befragte Psychiater bezüglich der Möglichkeit, dass sich jemand frei verantwortlich zu einem Suizid entschließt, tendenziell bejahend äußerte (S. 152).

Dass in der klinischen Praxis mit suizidalen Menschen so umgegangen wird, als wäre jede Suizidalität krankheitsbedingt (Vollmann 2008, S. 199), konnte in dieser Untersuchung allerdings bestätigt werden, indem geschildert wurde, dass im klinischen Alltag bei suizidalen Menschen zunächst einmal pauschal eine psychische Erkrankung und eine auf unfreiem Willen beruhende Suizidalität unterstellt werden (S. 132). In zweifelhaften Grenzfällen wird also nicht nach dem ansonsten im Kontext von Zwangsmaßnahmen geltenden Grundsatz ‚in dubio pro libertate' entschieden, sondern gemäß ‚in dubio pro vita' (Lamberz 2013, S. 74-75). Diese Vorgehensweise findet in der Literatur sowohl Ablehnung als auch Zustimmung. Lamberz (2013) vertritt die Ansicht: „[W]enn Zweifel vorhanden sind, ob der Betroffene überhaupt krank ist, muss es bei dem Grundsatz ‚in dubio pro libertate' bleiben“ (Lamberz 2013, S. 75). Dagegen wird von anderen Autoren ein Handeln gemäß ‚in dubio pro vita' für richtig befunden, zum einen, weil die Wahrscheinlichkeit eines Bilanzsuizides sehr gering ist, und zum anderen, weil ein erfolgter Suizid irreversibel ist, eine ‚Rettung' im Falle eines frei verantwortlichen Suizidvorhabens jedoch nur eine hinauszögernde Wirkung hätte und demjenigen die

Option nach der Entlassung wieder offen stünde. Zudem spricht die Erfahrung, dass die meisten Geretteten im Nachhinein dankbar sind, vom Suizid abgehalten worden zu sein, dafür, als Fachkraft im Zweifel für das Leben zu handeln, notfalls auch gegen den Willen des Betroffen (Fenner 2008, S. 403; Eink und Haltenhof 2009, S. 69). Sobald jedoch eindeutig ist bzw. sich mit der Zeit herausstellt, dass die Suizidentscheidung auf einem freien Willen beruht, darf derjenige weder von der Umsetzung abgehalten noch gegen seinen Willen in einer Psychiatrie festgehalten werden (Lamberz 2013, S. 115-116; Dodegge und Zimmermann 2011, S. 216-217). Diesbezüglich betont Lamberz (2013) die Notwendigkeit, aber auch die Schwierigkeit, einzelfallbezogen festzustellen, welche Motivation hinter der Suizidalität steckt (Lamberz 2013, S. 116). Die von Stein (2009) aufgeworfene Frage, „ob ein Mensch, der – in welcher Form auch immer – leidet, in seinem Willen vollkommen frei sein kann“ (Stein 2009, S. 106), tauchte auch in einem der Interviews auf (S. 132), kann aber hier nicht abschließend beantwortet werden, zumal es im Hinblick auf Zwangsmaßnahmen letztendlich ‚nur' darauf ankommt, ob der Wille des Betroffenen wegen einer psychischen Erkrankung oder einer geistigen oder seelischen Behinderung unfrei ist.

Die freie Willensbestimmung eines Suizidenten ist auch juristisch relevant. Auf das Recht auf Suizid aus juristischer Perspektive wurden im Rahmen dieser Untersuchung keine Ergebnisse erzielt, sodass hier gänzlich auf die Literatur zurückgegriffen werden muss. Zum einen stellt sich die Frage nach der Strafbarkeit im Kontext von Suizidhandlungen und zum anderen, ob es juristisch ein Recht auf Suizid gibt.

Selbstverletzung und Suizid sind in Deutschland straffrei. Unter der Voraussetzung, dass der Suizid im Zustand freier Willensbestimmung begangen wird, ist auch die Beihilfe zum Suizid straffrei. (Bahner 2013, S. 183-184; Hell 2013, S. 156, 167; Eink und Haltenhof 2009, S. 15; Neitzke et al. 2013, S. 353). Unter Beihilfe zum Suizid fallen Handlungen eines Dritten, die den Suizidenten bei seinen Suizidvorbereitungen unterstützen, z.B. das Beschaffen einer tödlichen Substanz. Im Unterschied zur strafbaren Tötung auf Verlangen beschränkt sich bei der Beihilfe zum Suizid die Aktivität des ‚Helfers' auf die Vorbereitungen, sodass die Tatherrschaft während der eigentlichen Tötung bei dem Suizidenten bleibt, indem er den letztendlich todbringenden Schritt selbst ausführt. Dementsprechend darf die Beihilfe zum Suizid auch nur so weit gehen, dass der Suizident nach der Unterstützungsleistung noch die freie Wahl zwischen Weiterleben und Suizid hat. (Bahner 2013, S. 173, 183-184; Neitzke et al. 2013, S. 353; Eink und Haltenhof 2009, S. 15; Hell 2013, S. 167, 204).

Was die Rolle von Fachleuten angeht, steht angesichts ihrer Garantenstellung häufig bei der Nichtverhinderung eines Suizides die Frage nach Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung im Raum. Diese steht und fällt mit dem (Nicht-)Vorhandensein des freien Willens eines Suizidenten. Wenn ein Suizident unfähig zur freien Willensbestimmung ist und eine Fachkraft nichts zur Verhinderung des Suizides unternimmt, macht sie sich wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar (Eink und Haltenhof 2009, S. 16; Hell 2013, S. 168). Wenn der Suizident jedoch auf Grundlage eines freien Willens den Entschluss zum Suizid trifft und die Fachkraft „nichts zur Verhinderung [des] freiverantwortlich begangenen Selbstmordes unternimmt, macht [sie] sich nicht strafbar. [...] Wesentlich ist [...] das Vorhandensein des freien Willens des Suizidenten“ (Deutsch und Spickhoff 2014, S. 793). Diesbezüglich bekräftigen Neitzke et al. (2013), dass auch die Hilfeleistungspflicht im Sinne einer Lebensrettung aufseiten der Fachkräfte mit Garantenstellung dann entfällt, wenn der Suizid freiverantwortlich erfolgt (Neitzke et al. 2013, S. 353-354).

Die alleinige Tatsache, dass Suizide straffrei sind, heißt aber noch nicht, dass sie rechtmäßig sind oder man darauf einen Rechtsanspruch hat, sondern es bedarf einer entsprechenden Rechtsgrundlage: Das Recht auf Suizid ergibt sich aus dem Grundrecht auf Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit, findet dementsprechend aber auch dort seine Grenzen, wo durch die Suizidhandlung die Rechte Dritter verletzt werden (Fenner 2008, S. 58, 62, 64, 66, 69). Dabei liegt die Voraussetzung dafür, dass „vom ‚Recht auf Selbstbestimmung' [...] Gebrauch gemacht werden kann“ (Fenner 2008, S. 63), in der Selbstbestimmungsfähigkeit, sodass das Recht auf Suizid dann eingeschränkt wird, wenn jemand unfähig zur Selbstbestimmung ist (Fenner 2008, S. 401).

Insgesamt betrachtet hängt die Legitimität eines Suizides sowohl ethisch als auch juristisch gesehen von der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung und von der Nichtschädigung Dritter ab.

  • [1] Die Seitenangaben stehen für die Seitenzahlen in dieser Arbeit.
 
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