Emotionales Erleben und Auswirkungen von Zwangsmaßnahmen

Auch wenn hinsichtlich des emotionalen Erlebens von Fachkräften bisher keine empirische Untersuchung durchgeführt wurde (Armgart et al. 2013, S. 282; Steinert et al. 2001, S. 705-706), lassen sich diesbezüglich Aussagen und Vermutungen in der Literatur finden. Zum einen wird angenommen, dass die Fachleute, die Zwang anordnen oder selbst durchführen, kein ausreichendes Bewusstsein für die Schwere des damit verbundenen Grundrechtseingriffs haben (Bundesärztekammer 2013, S. 380). Zum anderen wird geschildert, dass die Fachleute die Anwendung von Zwang und Gewalt schuldhaft verarbeiten, tabuisieren oder unreflektiert rechtfertigen, weil derartige Maßnahmen eigentlich ihrem berufsethischen Selbstverständnis zuwiderlaufen (Meise und Frajo-Apor 2011, S. 162). Beide Hypothesen konnten in dieser Untersuchung nicht bestätigt werden, denn die Fachkräfte äußerten glaubhaft, dass die Durchführung von Zwangsmaßnahmen für sie selbst mit großer emotionaler Betroffenheit einhergeht (S. 138-140). Zudem wurde deutlich, dass ihnen die Belastungen und die Grundrechtseingriffe der Betroffenen durchaus bewusst sind, denn als sie gebeten wurden, sich in die Situation der Betroffenen hineinzuversetzen, machten die Fachkräfte Angaben, die mit den Äußerungen der Betroffenen weitestgehend übereinstimmten (S. 135-136).

Die Aussage, dass „Vereinigungen psychiatrieerfahrener Patienten dem Behandler prinzipiell das Ausspielen von Macht, den Wunsch nach Bestrafung des Patienten und die Anmaßung der Omnipotenz unterstellen“ (Armgart et al. 2013, S. 282), geht in eine ähnliche Richtung wie die im Rahmen der Interviews ausgesprochene Vermutung, dass die Fachleute bei der Anwendung von Zwang Spaß empfinden und eine sadistische Neigung ausleben (Antipsychiatrie 2014, Z. 680-683, 829-832). Hieran wird deutlich, dass eine große Diskrepanz zwischen dem Selbsterleben der Fachkräfte und den diesbezüglichen Vermutungen der Betroffenen besteht. Auch Graumann (2014) berichtet von ihren Gesprächen mit Psychiatrieerfahrenen und Psychiatern, dass sie „oft erschrocken darüber [war], wie zum Teil die jeweiligen Positionen der anderen Seite wahrgenommen und kommentiert werden“ (Graumann 2014, S. 124).

Aus den Interviews wurde deutlich, wie schwierig es für die Fachkräfte zu ertragen ist, entgegen des Bedürfnisses nach Intervention die verfügbaren Hilfen aufgrund rechtlicher Beschränkungen unterlassen zu müssen und Menschen ihrem offenbar leidvollen Schicksal zu überlassen (S. 140-142). Dies entspricht Pardeys (2013) Ausführungen, denn er stellt heraus: „Im Alltag fällt es Praktikern schwer, auszuhalten, ‚offensichtlich' nötige Hilfen nicht geben zu können“ (Pardey 2013, S. 87). Er führt weiter aus, dass das Unterlassen einer für notwendig befundenen Maßnahme von den Fachleuten so erlebt wird, als würden sie einem hilfsbedürftigen Menschen wirksame Hilfe vorenthalten, ihn seinem Schicksal überlassen und somit zu dessen sozialer Ausgrenzung beitragen (DGPPN, zitiert nach Pardey 2013, S. 87).

In den Interviews wurde angegeben, dass es dem Selbstverständnis als Mensch in einem helfenden Beruf zuwiderläuft, einen anderen Menschen in einer menschenunwürdigen Lebenslage zu belassen (S. 141). Diese Problematik entsteht, wenn die Situation des Betroffenen unter Zugrundelegung der persönlichen Bewertungsmaßstäbe für ein menschenwürdiges Leben eingeschätzt wird. Allerdings wird im Gesetz gefordert, dass sich die Fachkräfte an den subjektiven Bewertungsmaßstäben und Lebensvorstellungen des Betroffenen orientieren müssen statt an eigenen Vorstellungen oder objektiv vernünftigen gesellschaftlichen Normen (Jürgens 2014b, S. 264-266; Bundesärztekammer 2013, S. 381), zumal angesichts der postmodernen Vielfalt an Lebensformen eigentlich sowieso keine allgemeingültigen Maßstäbe für ein ‚gutes Leben' existieren (von Bernstorff 2013, S. 30). Die Auswertung der Interviews ergab, dass es für die Fachkräfte im beruflichen Alltag schwierig umzusetzen ist, sich gänzlich von den eigenen Bewertungsmaßstäben zu distanzieren (S. 140-142). Dieser Aspekt wird auch in der Literatur aufgegriffen (Graumann 2014, S. 130, 143; Brosey 2012, S. 10; Finzen 2013, S. 79).

„Unsere Leitgedanken und Werte übertragen wir wie selbstverständlich auf andere Menschen. Der gedachte Unwert des eigenen Lebens unter psychotischen Lebensbedingungen wird so bewusst oder unbewusst zum Maßstab für den Wert des Lebens der anderen“ (Finzen 2013, S. 79), allerdings impliziert ‚selbstverständlich', dass diese Übertragung unreflektiert erfolgt, was jedoch in den Interviews widerlegt wurde: Die Einsicht, die Maßstäbe des Betroffenen statt der eigenen anlegen zu müssen, ist durchaus vorhanden, aber trotzdem wird das entsprechende Handeln im beruflichen Alltag als schwierig erlebt (S. 140-142).

In dieser Untersuchung berichteten die Fachleute sowohl von Patienten, die die erfolgte Zwangsmaßnahme retrospektiv für angemessen halten, als auch von Betroffenen, die sie nach wie vor ablehnen (S. 143-144). Anderen Studien zufolge werden Zwangsmaßnahmen im Nachhinein von ca. 30-50% der Betroffenen als gerechtfertigt bewertet (Lincoln et al. 2014, S. 22, 27; Graumann 2014, S. 128; Armgart et al. 2013, S. 281).

Zudem schilderten die Fachkräfte, dass sich die Durchführung einer Zwangsmaßnahme unterschiedlich auf die Arbeitsbeziehung auswirken kann und von Dankbarkeit über eine gestörte Arbeitsbeziehung und Vertrauensverlust bis hin zum Kontaktabbruch reicht (S. 143-144). In der Literatur wird in Ergänzung dazu darauf hingewiesen, dass durch Zwangsmaßnahmen nicht nur das Vertrauen des Betroffenen zu den konkret beteiligten Fachkräften zerstört werden kann, sondern dessen Vertrauen in psychosoziale bzw. psychiatrische Hilfsund Behandlungsangebote im Allgemeinen, sodass die Gefahr besteht, dass der Betroffene in Zukunft erst recht keine professionelle Hilfe mehr aufsuchen wird (Graumann 2014, S. 145).

Was das emotionale Erleben angeht, wurde von Betroffenenseite konkret geäußert, sich in Zwangssituationen ohnmächtig (Betroffene 2014, Z. 1969), fassungslos (Betroffene 2014, Z. 1883-1884) und verraten (Betroffene 2014,

Z. 1365) gefühlt zu haben. Darüber hinaus lassen sich den Aussagen weitere Gefühlszustände wie Resignation (Betroffene 2014, Z. 1494-1506), Verzweiflung (Antipsychiatrie 2014, Z. 791-793) und Entmenschlichung (Antipsychiatrie 2014, Z. 775-785) entnehmen. Diese Emotionen finden sich in der Literatur wieder, in der die folgenden Gefühle aufseiten der Betroffenen in Zwangssituationen benannt werden: Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Ausgeliefertsein, Scham, Demütigung, Erniedrigung, Hass, Ärger und Wut (Lincoln et al. 2014, S. 22; Pollmächer 2014, S. 180; Graumann 2014, S. 145; Armgart et al. 2013, S. 278-281), wobei der Bereich ‚Hass, Ärger und Wut' in dieser Untersuchung nicht angesprochen wurde. Dass insbesondere Fixierungen häufig mit einem Gefühl von Erniedrigung einhergehen (Armgart et al. 2013, S. 279), konnte bestätigt werden, allerdings bezog sich die beschriebene erniedrigende Situation nicht auf die Fixierung als solche, sondern auf den Umstand, nicht für den Gang zur Toilette entfixiert worden zu sein (Betroffene 2014, Z. 828-893). Außerdem gab es einen Hinweis auf das Erleben von Scham, indem betont wurde, dass die Zuführung zur Unterbringung bei geöffneter Wohnungstür stattgefunden hat, sodass die Nachbarn alles mitbekommen konnten (Betroffene 2014, Z. 1294-1306).

Die von den Fachkräften geäußerten Vorstellungen über das emotionale Erleben der Betroffenen entsprechen weitestgehend den Schilderungen der Betroffenen selbst sowie den Angaben in der Literatur, denn sie benannten Angst, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Machtlosigkeit und Wut (S. 135-136). Zudem verglichen die Fachkräfte das vermutete Erleben einer Zwangsbehandlung mit dem einer Vergewaltigung (S. 135-136), was sich in derselben Formulierung in der Literatur finden lässt (Steinert 2014, S. 21). Auch die in dieser Untersuchung vonseiten der Fachkräfte erwähnte Sichtweise, eine Zwangsbehandlung als Segen aufzufassen (S. 156), findet in der Literatur Entsprechung, indem von Erlösung die Rede ist (Steinert 2014, S. 219), jedoch wurde diese Ansicht in dieser Untersuchung von Betroffenenseite nicht geteilt. Zusätzlich wurde vonseiten der Fachleute darauf hingewiesen, dass mit Zwangsmaßnahmen die Gefahr einhergeht, dass sich bestehende Ängste verstärken und es zu Langzeitfolgen kommen kann (S. 135-136), was von Betroffenenseite unter Berufung auf ein Unwohlsein bis hin zur Angst in geschlossenen Räumen bestätigt wurde (Betroffene 2014, Z. 2157-2186). Sowohl in der Literatur als auch in dieser Untersuchung (S. 136) wurde auf eine mit Zwangsmaßnahmen verbundene Traumatisierungsgefahr hingewiesen (Brosey und Osterfeld 2013, S. 165; Graumann 2014, S. 145; Lincoln et al. 2014, S. 22; Pollmächer 2014, S. 180).

 
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