Diverse Vorgehensweisen

In der hier durchgeführten Untersuchung wurden vonseiten der Fachkräfte sowohl transparente Vorgehensweisen als auch situationsbezogene Handlungsstrategien, bei denen den Betroffenen gegenüber bewusst intransparent gehandelt wird, geschildert (S. 100, 105-106). Von Betroffenenseite wurden intransparente Vorgehensweisen, unklare Abläufe und eine fehlende Aufklärung jedoch negativ bewertet (S. 100). Dass es offenbar auch anderen Betroffenen so geht, wird von Marschner (2008) bestätigt, indem er beschreibt, dass „[g]erade im psychiatrischen Bereich [...] von Betroffenen [...] beklagt [wird], dass die gebotene Aufklärung nicht, unzureichend oder erst auf gezielte Nachfrage erfolgt“ (Marschner 2008, S. 25). Außerdem ergaben Studien, dass sich von Zwangsmaßnahmen Betroffene unzureichend informiert und zu wenig miteinbezogen fühlen (Lincoln et al. 2014, S. 28). Zudem bemängelten 60% der Patienten in Studien zur ärztlichen Aufklärung, dass sie unzureichend über die Medikamente, vor allem deren Nebenwirkungen, aufgeklärt wurden (Vollmann 2008, S. 18, 46).

Nicht nur die Betroffenen wünschen sich mehr Aufklärung und Transparenz, sondern auch die Fachöffentlichkeit äußert entsprechende Forderungen. So wird in einschlägiger Literatur dazu geraten, die Betroffenen bei einer Zwangseinweisung angemessen zu informieren und über das Handeln der Fachleute aufzuklären, um Gefühle der Hilflosigkeit, Ohnmacht, Orientierungslosigkeit sowie des Ausgeliefertseins nicht noch durch ein intransparentes Vorgehen zusätzlich zu verstärken (Eink und Haltenhof 2009, S. 116; Armgart et al. 2013, S. 283). Bei Fixierungen sollten der Grund für die Fixierung erklärt sowie die Voraussetzungen, damit diese wieder aufgehoben wird, benannt werden (Kallert 2014, S. 197). Was Zwangsbehandlungen angeht, wird ebenfalls eine transparente Kommunikationsund Vorgehensweise gefordert (Bundesärztekammer 2013, S. 382; Graumann 2014, S. 134). Es gab sogar Forderungen, für die Aufklärung bei Zwangsmaßnahmen „Standards gesetzlich vor[zu]geben“ (Crefeld 2013b, S. 26).

Hinsichtlich der Ausstellung eines ärztlichen Zeugnisses bzgl. der Unterbringungsbedürftigkeit wurde in dieser Untersuchung erwähnt, dass es von einigen Ärzten nach telefonischer Beschreibung der Betreuerin ausgestellt wird (S. 105). Ein solches Vorgehen ist eigentlich rechtswidrig, denn „[d]er Arzt hat den Betroffenen persönlich zu untersuchen oder zu befragen (§321 Abs.1

S.2 FamFG). Nur telefonische Befragungen oder eine Begutachtung nach Aktenlage genügen nicht“ (Brinckmann und Gräbsch 2013, S. 32).

Außerdem wurde geschildert, dass bei betreuungsrechtlichen Zwangseinweisungen regelmäßig die Betreuungsbehörde zur Unterstützung hinzugezogen wird (S. 106-107). Diese Möglichkeit ist gemäß §326 Abs.1 FamFG gesetzlich vorgesehen, wird aber in der Praxis nur in 5% der Fälle genutzt (Dodegge und Zimmermann 2011, S. 137-138). Das in dieser Untersuchung beschriebene Vorgehen erweist sich demnach als nicht repräsentativ, da dieses Unterstützungsangebot der Betreuungsbehörde ansonsten nur sehr selten in Anspruch genommen wird.

Davon abgesehen wurde in dieser Untersuchung darauf hingewiesen, dass in akuten Notsituationen einmalig und kurzfristig gegen den Willen verabreichte beruhigende Psychopharmaka nicht unter ‚Zwangsbehandlungen' im eigentlichen Sinne fallen, sondern über den rechtfertigenden Notstand bzw. Nothilfe legitimiert werden (S. 120). Dies entspricht der in der Literatur überwiegend geäußerten Auffassung (von Bernstorff 2013, S. 27; Müller et al. 2012; Pardey 2013, S. 91). Zwar äußert Henking (2014) Bedenken hinsichtlich der Legitimität eines Rückgriffs auf allgemeine Rechtfertigungsgründe wie Notwehr, Nothilfe und Notstand, um in Notsituationen Zwang anwenden zu können, aber sie räumt ein, dass die herrschende Meinung die Anwendbarkeit dieser Rechtfertigungsgründe bejaht (Henking 2014, S. 114-118). Wenn also in Notsituationen gegen den Willen Medikamente gegeben werden, ist „[d]iese ‚Behandlung' [...] dann aber keine Behandlung im eigentlichen Sinne, da sie nicht auf die Heilung des Patienten zielt. Die Maßnahme dient vielmehr der Abwendung einer (akuten) Gefahr für sich oder einen anderen“ (Henking 2014, S. 114). Dementsprechend gelten die strengen Vorschriften für eine betreuungsrechtliche Zwangsbehandlung auch „nur für Zwangsbehandlungen ‚außerhalb akuter Notfälle'“ (Koller 2014b).

 
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