Gesetzliche Neuregelung von Zwangsbehandlungen

In den Interviews wurde angemerkt, dass die gesetzliche Neuregelung von betreuungsrechtlichen Zwangsbehandlungen bloß zu geringfügigen juristischen Veränderungen geführt hat, da die bisherige Vorgehensweise durch die Neuformulierung lediglich offiziell gemacht und somit legitimiert wurde (S. 161), was in der Literatur Bestätigung findet (Mittag 2014, S. 47; Henking 2014,

S. 110; Lincoln et al. 2014, S. 23). Selbst der Deutsche Bundestag äußerte, die bisherige Praxis eigentlich fortführen zu wollen: „Der [Gesetzese]ntwurf zielt darauf ab, unter Achtung der verfassungsgerichtlichen Anforderungen die Fortführung der bis zu den jüngsten Beschlüssen des Bundesgerichtshofs geübten Praxis zu ermöglichen.“ (Deutscher Bundestag 2013).

Dennoch zeichnen sich in der Praxis deutliche Veränderungen ab. In den Interviews wurde angegeben, dass so gut wie keine betreuungsrechtlichen Zwangsbehandlungen mehr stattfinden, während zuvor ziemlich schnell und unkompliziert zwangsbehandelt wurde (S. 161-163). Auch Marschner (2014) verzeichnet einen wesentlichen Rückgang von Zwangsbehandlungen (Marschner 2014b, S. 354). Dass nach alter Rechtslage ein extensiverer Umgang mit Zwangsbehandlungen in der Psychiatrie üblich war, wird von Rissing-van Saan (2014) bestätigt (Rissing-van Saan 2014, S. 5).

Als Erklärung für den im Vergleich zu früher restriktiveren Umgang mit Zwangsmaßnahmen wurde in der hier durchgeführten Untersuchung auf die heutzutage vorherrschende Selbstbestimmungs-Mentalität verwiesen, die sich zunehmend auch in Rechtsprechung und professionellem Handeln niederschlägt (S. 165). Dass die Neuregelung von Zwangsbehandlungen die Patientenautonomie deutlich stärkt (Müller et al. 2013, S. 365), spricht dafür, dass sich dieser Zeitgeist auch in der Gesetzgebung manifestiert. Dafür spricht auch die Aussage, dass „mit den Entscheidungen eine Linie fortgeführt [wurde], die sich bereits seit längerem in der Rechtsprechung und der Gesetzgebung zeigt: Eine starke Hervorhebung des Selbstbestimmungsrechts“ (Henking 2014, S. 104). Dieser Trend hin zur Stärkung der Selbstbestimmung und Autonomie von Patienten wurde von mehreren Autoren im Zeitraum der letzten Jahre für die Bereiche Medizinethik und Recht festgestellt (Proft 2010, S. 105; Müller et al. 2012, S. 1152; Lammel 2013, S. 39), was offenbar nicht nur auf Deutschland beschränkt ist, sondern sich auf westliche Gesellschaften im Allgemeinen bezieht (Brüggemann 2007, S. 91; Fenner 2008, S. 57). So wird von einer Verschiebung von Prioritäten (Brüggemann 2007, S. 91) bzw. einem Paradigmenwechsel (von Bernstorff 2013, S. 32) weg von Fürsorge und hin zur Selbstbestimmung (Proft 2010, S. 105) gesprochen. Die Neuregelung von Zwangsbehandlungen hat diese Entwicklung weiter verstärkt und das Problembewusstsein der Praktiker hinsichtlich Zwangsmaßnahmen erhöht (Henking und Vollmann 2014, S. 12; Mittag 2014, S. 65).

Allerdings muss diese Entwicklung nicht unbedingt positiv bewertet werden. Da die Meinung zur neuen betreuungsrechtlichen Regelung von Zwangsbehandlungen innerhalb der Stichprobe heterogen war, entstand insgesamt ein differenziertes Bild. Die Tatsache, dass die Kriterien für eine Zwangsbehandlung strenger wurden, wurde sowohl positiv als auch negativ bewertet (S. 166-167).

Die Befürworter hießen Folgendes gut: Es gibt weniger voreilige Zwangsbehandlungen, die Missbrauchsgefahr ist eingedämmt und es werden mehr Zeit und Mühe in die Überzeugungsversuche zur freiwilligen Behandlung investiert, sodass insgesamt weniger Menschen von Zwangsbehandlungen betroffen sind (S. 166).

Die negative Bewertung der strengeren Kriterien beinhaltete folgende Aspekte: Die Hürden sind so hoch geworden, dass viele psychisch kranke, denen eine Behandlung helfen würde, unbehandelt bleiben, sodass das strenge Gesetz im Endeffekt für die Betroffenen nachteilig ist. Davon abgesehen wurden der bürokratische Aufwand und der zeitliche Vorlauf, bis eine Zwangsbehandlung dann tatsächlich stattfinden kann, für zu hoch befunden (S. 167).

Ähnliche Argumente finden sich auch in der Literatur wieder. Folgende Aspekte werden an der gesetzlichen Neuregelung befürwortet:

- Balance zwischen dem Schutz der Persönlichkeitsrechte und der Möglichkeit zur Behandlung bei dringender Behandlungsindikation

- transparentes, überprüfbares und praxistaugliches Vorgehen

- multiprofessionelle Entscheidung und gegenseitige Kontrolle

- nur als letztes Mittel nach Ausschöpfen milderer Alternativmaßnahmen

- Chance auf mehr freiwillige Behandlungen durch Überzeugungsgespräche (DGPPN 2013)

Der zentral vorgebrachte Kritikpunkt, dass die hohen Hürden verhindern, dem Hilfebedarf gerecht zu werden (S. 167), findet sich ebenfalls in der Literatur wieder:

- Vorenthalten von erfolgversprechenden Behandlungsmöglichkeiten

- Betroffene werden ihrem Schicksal überlassen

- Unterlassen von Hilfeleistungen widerspricht berufsethischem Selbstverständnis

- Gefahr der Chronifizierung durch Nichtbehandlung

- Folgen wie z.B. gesellschaftliche Desintegration

- Überforderung von Angehörigen

- reine Verwahrung von behandlungsunwilligen Untergebrachten

- längere Unterbringungsdauer

- mehr Übergriffe auf Mitpatienten und Personal

- längere bzw. mehr Fixierungen erforderlich

(Müller et al. 2013, S. 366; Beneker 2013; DGPPN, zitiert nach Lincoln et al. 2014, S. 23; DGPPN 2012, zitiert nach Graumann 2014, S. 124; Graumann 2014, S. 123).

Allerdings wurden die letzten vier Punkte in dieser Untersuchung nicht bestätigt, da sich die Patienten / Betreuten / Klienten der befragten Fachkräfte bislang entweder von einer freiwilligen Behandlung überzeugen ließen oder entlassen werden konnten (S. 116, 163).

Im Hinblick auf die Überzeugungsgespräche wurde in dieser Untersuchung herausgestellt, dass insbesondere vertrauensbildend und psychoedukativ vorgegangen wird, wodurch im Patienten gewissermaßen eine Restvernunft reaktiviert wird, was zu großen Erfolgen führt (S. 116-117). Dies widerlegt die Aussage Vollmanns (2014), dass der „Fokus dieses Gesprächs [...] nicht auf einer rationalen Information und Argumentation liegen [kann], da ein selbstbestimmungsunfähiger Patient hierzu aufgrund der Schwere seiner psychischen Erkrankung nicht in der Lage ist“ (Vollmann 2014b, S. 162).

 
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