Persönliche Haltung zu psychopharmakotherapeutischer Zwangsbehandlung
Durch die persönlichen Gespräche mit den befragten Fachleuten entstand der Eindruck, dass sie alle das Wohlergehen von psychisch kranken Menschen sicherstellen wollen und aus menschlichen Motiven handeln, sich allerdings in der Vorstellung darüber unterscheiden, was sie primär als Gefährdung des Wohlergehens ansehen. Auf der einen Seite wird das Wohlergehen des Betroffenen in Gefahr gesehen, wenn in dessen Selbstbestimmungsrecht eingegriffen wird und er Zwangsmaßnahmen über sich ergehen lassen muss. Auf der anderen Seite wird sein Wohlergehen in Gefahr gesehen, wenn seine psychische Erkrankung mit einem hohen Leidensdruck einhergeht und seine Selbstbestimmungsfähigkeit aufhebt. (S. 135-136, 148-149, 154-157, 166-167). Auch in der Literatur wird von zwei verschiedenen Betrachtungsweisen gesprochen: Erstere Position geht davon aus, dass die persönliche Freiheit des Betroffenen von außen, d.h. durch die Zwangsmaßnahme, eingeschränkt wird, wohingegen der zweiten Position der Gedanke zugrunde liegt, dass die persönliche Freiheit des Betroffenen bereits von innen heraus durch die psychische Krankheit eingeschränkt wurde und die Zwangsmaßnahme demnach eine Maßnahme zu deren Wiedererlangung darstellt. (Friedrich und Heinrichs 2014, S. 320; Henking und Vollmann 2014, S. 13; Vollmann 2014b, S. 161-162;Müller et al. 2012, S. 1152-1153).
Diese zwei unterschiedlichen zugrunde liegenden Sichtweisen manifestieren sich auch in der Bewertung von psychopharmakologischen Zwangsbehandlungen im Allgemeinen. In dieser Untersuchung wurde geäußert, dass stationäre Psychiatrieaufenthalte erst dann Sinn ergeben, wenn dort auch eine Behandlung stattfindet. Zudem wurde die gute Wirksamkeit von Psychopharmaka genannt, die eine schnelle Symptomlinderung und somit eine Erlösung vom krankheitsbedingten Leidensdruck herbeiführen. Allerdings wurde auch auf die möglichen Nebenund Langzeitwirkungen von Psychopharmaka sowie auf die Tatsache, dass Krankheitsschübe nach einiger Zeit auch von alleine abklingen würden, hingewiesen. Zudem wurde ein Handeln gegen den geäußerten Patientenwillen, das ggf. auch die Anwendung von Gewalt mit einschließt, sowie das Eingreifen in die körperliche Unversehrtheit als negativ bewertet. Auch die mit Zwangsmaßnahmen verbundenen psychischen Belastungen für die Betroffenen sowie die möglicherweise negativen Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehung sprechen dagegen. (S. 155-158).
Damit entsprechen die Argumente dieser Stichprobe im Kern denen aus der Literatur, wonach für eine psychopharmakologische Zwangsbehandlung folgendes spricht:
- Befreiung von akuten psychotischen Zuständen
- schnelle Wiederherstellung des psychischen Wohlbefindens
- Wiederherstellung der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung
- einer Chronifizierung der psychischen Erkrankung wird entgegengewirkt
- kürzere bzw. weniger Fixierungsmaßnahmen
- kürzere Unterbringungsdauer wegen schnellerer Remission
- danach selbstbestimmte Alltagsbewältigung mit hoher Lebensqualität möglich (Müller et al. 2012; Müller et al. 2012, S. 1151; DGPPN et al. 2012, zitiert nach Graumann 2014, S. 143)
Gegen psychopharmakologische Zwangsbehandlungen werden in der Literatur die unten stehenden Aspekte aufgeführt:
- widerspricht dem Prinzip des Respekts vor der Patientenautonomie
- schwerer Grundrechtseingriff in die körperliche Unversehrtheit
- schwere, dauerhafte Nebenwirkungen durch Psychopharmaka möglich
- hohes Traumatisierungspotenzial durch Zwang
- Vertrauensverlust: Zukünftige therapeutische Maßnahmen werden erschwert
- langfristiger Behandlungserfolg fraglich
- Zwang wäre oft vermeidbar durch Einsatz personeller und zeitlicher Ressourcen
(Müller et al. 2012; Müller et al. 2012, S. 1151)
Trotz divergenter Standpunkte wurde in dieser Untersuchung übereinstimmend kritisch darauf hingewiesen, dass viele Betroffene ihre Psychopharmaka eigenmächtig wieder absetzen, entweder weil sie die Psychopharmaka mit zunehmender Symptombesserung für entbehrlich halten oder weil sie zu sehr unter den Nebenwirkungen leiden (S. 157-158). Ein abruptes Absetzen birgt jedoch die Gefahr von Absetzerscheinungen und erhöht die Rückfallgefahr. Auch Graumann (2014) schildert, dass viele Betroffene aufgrund der Nebenwirkungen ihre Tabletten, auch entgegen ärztlichen Rates, absetzen. In diesem Kontext weist sie auf Beratungsangebote von Psychiatrieerfahrenen-Gruppen zum verantwortungsvollen Ausschleichen der Psychopharmaka hin. (Graumann 2014, S. 144). „Gerade bei Patienten, die neuroleptische Medikamente häufig anund absetzen, scheinen psychotische Erkrankungen besonders ungünstig zu verlaufen“ (Zinkler 2013, S. 116), sodass bei dauerhaft behandlungsunwilligen Menschen, bei denen aufgrund früherer Versuche damit gerechnet werden kann, dass sie die Psychopharmaka nach der Entlassung sowieso wieder absetzen, eine Zwangsbehandlung besonders kritisch zu überdenken ist.
Viele Betroffene stehen einer psychopharmakologischen Behandlung ablehnend gegenüber, da sie „einen von ihnen nicht kontrollierbaren Eingriff in ihre Persönlichkeit“ (Vollmann 2008, S. 101) befürchten, während die psychiatrische Perspektive davon ausgeht, dass nicht die Psychopharmaka den Kern der Persönlichkeit verändern, sondern dass bereits die psychische Krankheit zu einer Persönlichkeitsveränderung geführt hat, sodass die Psychopharmaka lediglich den Sinn erfüllen, die prämorbide Persönlichkeit wiederherzustellen (Lammel 2013, S. 41-42; Müller et al. 2012).
In dieser Untersuchung wurde es für sinnvoll befunden, Betroffene, vor allem Ersterkrankte, in den Zustand freier Willensbestimmung zu versetzen, notfalls auch gegen ihren aktuell geäußerten Willen, um ihnen die Möglichkeit zu geben, einmal frei und ohne krankheitsbedingte Beeinflussung entscheiden zu können, wie sie mit ihrer Erkrankung weiter umgehen wollen, also ob sie zukünftig Krankheitsschübe durchleben möchten oder die Einnahme von Psychopharmaka bevorzugen und bereit sind, mögliche Nebenwirkungen in Kauf zu nehmen (S. 153). Auch in der Literatur wird es als „[l]egitimes Behandlungsziel [angesehen], dass die tatsächlichen Voraussetzungen freier Selbstbestimmung des Untergebrachten wiederhergestellt werden“ (Brosey 2012, S. 12).
Sowohl in dieser Untersuchung (S. 157) als auch in der Literatur wird die Haltung vertreten, dass man die vom Betroffenen frei getroffene Entscheidung zu respektieren hat; zudem wird Verständnis dafür aufgebracht, wenn sich jemand dazu entschließt, lieber Krankheitsschübe in Kauf zu nehmen, als dauerhaft mit den Nebenwirkungen der Psychopharmaka zu leben (Graumann 2014, S. 145). Diese individuelle Abwägungsfrage hängt natürlich davon ab, wie stark die Beeinträchtigungen zum einen durch die psychische Krankheit und zum anderen durch die Psychopharmaka erlebt werden. So wie sich bei jedem eine psychische Erkrankung anders auswirkt, ist es auch individuell verschieden, ob überhaupt, und wenn ja, welche Nebenwirkungen auftreten.
In einer anderen Studie sollten Probanden verschiedener Berufsgruppen Fallbeispiele im Hinblick darauf beurteilen, ob eine Zwangsweinweisung und -behandlung angemessen sind oder nicht. Dabei kam heraus, dass sich Sozialarbeiter im Vergleich zu anderen Berufsgruppen und Laien häufiger gegen Zwang aussprachen. (Steinert et al. 2001, S. 700, 706). Dieses Ergebnis wurde in der hier durchgeführten Untersuchung nicht bestätigt, denn von allen Fachkräften war die Sozialarbeiterin nicht diejenige, die Zwangsmaßnahmen am stärksten ablehnte (S. 154-157). Allerdings ist eine Stichprobe bestehend aus sieben Personen, davon einer Sozialarbeiterin, natürlich auch kein guter Vergleich.
Sowohl in dieser Untersuchung (S. 154-155) als auch in der Literatur wird überwiegend die Ansicht vertreten, dass Zwangsmaßnahmen zwar so wenig wie möglich durchgeführt werden sollten, es aber realistisch gesehen immer Situationen geben wird, in denen sie unabdingbar sind (Graumann 2014, S. 123; Steinert 2014, S. 222). Dagegen vertritt Zinkler (2013) die Ansicht, man käme sehr wohl gänzlich ohne Zwang aus, wenn man sich denn ernsthaft um Alternativen bemühen würde (Zinkler 2013, S. 115-116).