Freier Wille

Der freie Wille wurde in dieser Untersuchung als Drehund Angelpunkt bezeichnet, da es von seinem (Nicht-)Vorhandensein abhängt, ob sich jemand selbst gefährden, Medikamente ablehnen, suizidieren oder gegen das Einrichten einer gesetzlichen Betreuung entscheiden darf (S. 129). Dies entspricht der Ansicht, die in der Literatur und von der Rechtsprechung einstimmig vertreten wird: Gegen den freien Willen darf weder eine Zwangseinweisung (Marschner 2014b, S. 345-346; Brinckmann und Gräbsch 2013, S. 10; Dodegge und Zimmermann 2011, S. 25, 121-122, 216) noch eine Zwangsbehandlung (Pollmächer 2014, S. 169-171, 183; Hell 2013, S. 312-313; Mittag 2014, S. 50) erfolgen noch eine gesetzliche Betreuung (Lipp 2014, S. 76-77; Jürgens 2014b, S. 225; Hell 2013, S. 295) eingerichtet werden. Ebenso darf ein Überlebender eines Bilanzsuizidversuchs nicht zwangseingewiesen werden (Marschner 2014b, S. 346; Dodegge und Zimmermann 2011, S. 122, 217). Generell kann festgehalten werden, „dass Zwangsmaßnahmen bei selbstbestimmungsfähigen Patienten in der Praxis rechtlich nie zulässig sind“ (Vollmann 2014b, S. 158) und auch „Entscheidungen eines selbstbestimmungsfähigen Patienten, die [...] ‚unvernünftig' oder ‚irrational' sind, zu respektieren“ (Vollmann 2014a, S. 614) sind.

Auch wenn letztendlich alle psychiatrischen Zwangsmaßnahmen davon abhängen, ob jemand dazu fähig ist, einen freien Willen zu bilden, herrschen insgesamt enorme Unklarheiten und Probleme im Umgang mit dem freien Willen. In den Interviews wurde der freie Wille als ‚äußerst schwierig' und als ‚eine der schwierigsten Fragestellungen' bezeichnet (S. 129). Dieses Ergebnis findet sich ebenfalls in der Literatur. Es wird bemängelt, dass große Unklarheit hinsichtlich des Begriffs des freien Willens und dessen Feststellung herrscht (Scheulen 2010, S. 10-11, 18, 20; Pardey 2013, S. 93; Böhm 2010, S. 49). Für eine offizielle Abklärung wird vorrangig der Gesetzgeber in der Verantwortung gesehen (Scheulen 2010, S. 20; Schwedler 2013, S. 655; Beneker 2013), aber auch die Rechtsprechung (Rosenow 2009, S. 8). Die Definition, dass es bei der Fähigkeit zur freien Willensbestimmung darum geht, „seinen Willen frei und unbeeinflusst von der vorliegenden Geistesstörung zu bilden und nach zutreffend gewonnenen Einsichten zu handeln. Es kommt darauf an, ob eine freie Entscheidung auf Grund einer Abwägung des Für und Wider bei sachlicher Prüfung der in Betracht kommenden Gesichtspunkte möglich ist“ (Jürgens 2014a, S. 4), stimmt inhaltlich mit der im Rahmen dieser Untersuchung benannten Definition überein, dass eine Person die Vorund Nachteile sowie die Konsequenzen ihrer Entscheidung abschätzen können und über einen adäquaten Realitätsbezug verfügen muss (S. 130). Angesichts der Tatsache, dass sowohl in dieser Untersuchung als auch in der Literatur große Schwierigkeiten hinsichtlich des freien Willens geäußert wurden, scheinen diese Definitionen weder dafür auszureichen, um in der Theorie alle Unklarheiten zu beseitigen, noch um in der Praxis sicher beurteilen zu können, ob jemand einen freien Willen bilden kann.

 
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