Umgang mit unklaren Unterbringungskriterien

Aber auch hinsichtlich anderer unbestimmter Rechtsbegriffe im Kontext von Zwangsmaßnahmen besteht Ungewissheit, da es für die einzelnen Begriffe keine operationalen Definitionen gibt, z.B. was das Ausmaß der Gefährdung sowie die Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts angeht (Dreßing und Salize 2004, S. 57, 59, 141-142; Lamberz 2013, S. 60-61). Auch Erläuterungen der Begriffe, z.B. in Gesetzeskommentaren, lassen zahlreiche Fragen offen, den „[d]iese Formulierungen verbleiben [...] durchweg im Allgemeinen und gestatten in der konkreten Situation einen erheblichen Interpretationsspielraum“ (Dreßing und Salize 2004, S. 142). Auch für Lamberz (2013) sind derartige Begriffsbeschreibungen weder aussagekräftig noch konkret genug, sodass er konstatiert: „[W]as hierunter zu verstehen ist, bleibt offen“ (Lamberz 2013, S. 61). Damit geht einher, dass es keine festgelegten Schwellenwerte gibt, ab wann die Grenze zur Fremdbestimmung als überschritten gilt (Lammel 2013, S. 49-52; Dreßing und Salize 2004, S. 35; Lamberz 2013, S. 59-60). Erschwerend kommt hinzu, dass die Grenzen zwischen zu tolerierendem und zwangslegitimierendem Verhalten, zwischen psychischer Krankheit und Gesundheit sowie zwischen einwilligungsfähig und -unfähig fließend sind (von Bernstorff 2013, S. 28; Marschner 2010a, S. 12; Lamberz 2013, S. 63, 218). Von daher stellen „Abgrenzungen in der Praxis Gratwanderungen dar[ ]“ (Mittag 2014, S. 50). Dementsprechend gibt es auch keine „routinemäßig [benutzten] oder aufgrund gesetzlicher Vorschrift standardisierte[n] Instrumente zur Einschätzung der Unterbringungskriterien“ (Dreßing und Salize 2004, S. 76).

Dass es keine klaren, allgemeingültigen Kriterien und Grenzwerte und auch keine standardisierten Erhebungsinstrumente für die relevanten Rechtsbegriffe gibt, führt in der Praxis zu einer unterschiedlichen Handhabung, die von Entscheidungsträger zu Entscheidungsträger variieren kann (Lamberz 2013, S. 59-60, 63, 218; Steinert et al. 2001, S. 701). So wird beispielsweise

„in der Praxis [...] unterschiedlich gehandhabt [...], was als selbstoder fremdgefährdendes Verhalten angesehen wird“ (Dreßing und Salize 2004, S. 29). Auch im Hinblick auf die Beurteilung der Selbstbestimmungsfähigkeit einer Person passiert es oft, dass mehrere Psychiater zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen (Vollmann 2008, S. 122, 221).

Diese divergierende Handhabung wird unterstrichen, indem in der Literatur mehrfach auf die großen Unterschiede im Umgang mit Zwangsmaßnahmen verwiesen wird, die nicht nur zwischen verschiedenen Bundesländern, sondern auch zwischen einzelnen Gerichten oder Kliniken bestehen (Lamberz 2013, S. 60, 218; Marschner 2010a, S. 27-29, 38, 41; Brieger et al. 2014, S. 608, 612; Dreßing und Salize 2004, S. 26, 140).

Das Fehlen von Leitlinien, konkreten Kriterien, Überschreitungsschwellen und standardisierten Erhebungsinstrumenten zur Erfassung relevanter Rechtsbegriffe (z.B. Selbst-/Fremdgefährdung, freier Wille) spiegelt sich auch in dieser Untersuchung wider. Es konnte herausgestellt werden, dass einzelfallbezogen auf Grundlage von persönlichen Schwellenwerten bzw. Kriterien, (Bauch-) Gefühl, Erfahrung und ggf. der Kenntnis der Vorgeschichte des Betroffenen entschieden wird, ob sich das Verhalten eines Menschen unter die unbestimmten Rechtsbegriffe subsumieren lässt, die die Anwendung von Zwang sowohl indizieren als auch legitimieren (S. 112, 122-128). Dabei unterschieden sich die persönlichen Kriterien/Schwellenwerte zum Teil erheblich voneinander,

z.B. reichten die genannten Schwellen für eine zwangslegitimierende Fremdgefährdung von der ‚Androhung von Gewalt' bis hin zur ‚Lebensgefahr für Dritte' (S. 125-126). In der Literatur wird ebenfalls erwähnt, dass die Fachleute persönliche, zum Teil auch unterschiedliche Schwellen für die Anordnung bzw. Durchführung von Zwangsmaßnahmen haben (Brieger et al. 2014, S. 612). Auch dass bei der Entscheidungsfindung auf Erfahrung zurückgegriffen wird, entspricht den Angaben in der Literatur (Vollmann 2008, S. 73, 106, 122). Des Weiteren wurden in dieser Untersuchung das eigene (Bauch-) Gefühl und die Kenntnis der individuellen Vorgeschichte des Klienten als zentrale Faktoren bei der Entscheidungsfindung benannt. Diese Aussagen lassen sich in der Literatur nicht wiederfinden, stattdessen wird dort von subjektivem / persönlichem Ermessen (Vollmann 2008, S. 106, 122; Steinert et al. 2001, S. 701) oder von persönlicher Einschätzung und subjektiver Beurteilung (Vollmann 2008, S. 73, 177) gesprochen.

Während die befragten Fachkräfte diese Art der Entscheidungsfindung wertungsfrei darstellten (S. 123-127), wird sie in der Literatur heftig kritisiert. Es wird bemängelt, dass „[v]iele der in den Gesetzen verwendeten Begriffe [...] nicht eng definiert und deshalb Gegenstand von Auslegung und Interpretation [sind]“ (Dreßing und Salize 2004, S. 154). Es wird ein gewisser Entscheidungsspielraum festgestellt, der von den Entscheidungsträgern unterschiedlich ausgestaltet werden kann. Dabei erwecken diese subjektiven Ermessensentscheidungen manchmal den Eindruck von Willkür. (Lamberz 2013, S. 68, 75; Lammel 2013, S. 53). Unter Rückbezug auf die unterschiedliche Unterbringungspraxis innerhalb Deutschlands „kann [...] nur der Eindruck einer völlig willkürlichen Handhabung des Unterbringungsrechts entstehen. Dies betrifft die regionalen Unterschiede bei den Unterbringungszahlen ebenso wie die Handhabung der Unterbringung im Einzelnen“ (Marschner 2010a, S. 40).

Um Subjektivität und Willkür entgegenzuwirken, werden in der Literatur einige Forderungen geäußert. Es wird verlangt, die im Kontext von Zwangsmaßnahmen relevanten unbestimmten Rechtsbegriffe empirisch fundiert zu operationalisieren, indem z.B. klare Kriterien dafür festgelegt werden, was unter eine unterbringungsbedürftige Selbstoder Fremdgefährdung fällt (Dreßing und Salize 2004, S. 142; Lammel 2013, S. 53, 58), und auch entsprechende Grenzwerte bestimmt werden (Vollmann 2008, S. 222). Darauf aufbauend wird vorgeschlagen, operationalisierte, standardisierte Erhebungsinstrumente zu entwickeln und in der Praxis einzusetzen, z.B. für die Risikoabschätzung (Dreßing und Salize 2004, S. 36, 155). Zudem werden Handlungsanweisungen und Leitlinien gewünscht (Lammel 2013, S. 45; Frajo-Apor et al. 2013, S. 90). Insgesamt soll dadurch die Rechtsund Handlungssicherheit der Fachleute sowie die Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit von Entscheidungen bezüglich Zwangsmaßnahmen erhöht werden. Außerdem könnten die großen regionalen Unterschiede in Bezug auf den Umgang mit Zwangsmaßnahmen durch eine einheitliche Vorgehensweise abgebaut werden. (Dreßing und Salize 2004, S. 142, 155, 176-177; Frajo-Apor et al. 2013, S. 90; Brieger et al. 2014, S. 608, 612; Lamberz 2013, S. 222). Untermauert werden die Forderungen damit, dass in der psychologisch-psychiatrischen Diagnostik ja auch sonst großer Wert auf Objektivität, Reliabilität und Validität gelegt wird und dann bei einer so heiklen Thematik wie psychiatrischen Zwangsmaßnahmen erst recht nicht auf Grundlage von unklaren, verschieden interpretierbaren und subjektiv auslegbaren Kriterien gearbeitet werden sollte (Vollmann 2008, S. 222; Dreßing und Salize 2004, S. 36; 176-177).

Im Gegensatz zur Literatur wurden in dieser Untersuchung keine Forderungen nach einheitlichen Standards oder einer Operationalisierung von unbestimmten Rechtsbegriffen ausgesprochen. Zwar wurde in den Interviews deutlich genannt, wie schwierig sich die Grenzziehung zwischen Selbstbestimmung und fürsorglichem Zwang sowie die Beurteilung der Willensbestimmungsfähigkeit gestaltet und dass es häufig uneindeutige Grenzfälle gibt (S. 123, 129-130, 145-146, 157), aber konkrete Forderungen nach Operationalisierung oder Ärger über nicht bestehende Standards wurden nicht geäußert.

 
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