Fazit und Implikationen für die Soziale Arbeit

Bevor aus den bisherigen Ausführungen ein Fazit für die Soziale Arbeit gezogen wird, erfolgt eine kurze Rückschau auf die zentralen Elemente und Erkenntnisse dieser Arbeit.

Zu Beginn wurde die Grenze zwischen Selbstund Fremdbestimmung aus juristischer Perspektive eruiert, indem die rechtlichen Grundlagen von Zwangsbetreuungen, Zwangseinweisungen, Fixierungen und Zwangsbehandlungen aufgezeigt wurden. Anschließend wurde versucht, die unbestimmten Rechtsbegriffe zu konkretisieren. Dabei wurde die Erkenntnis gewonnen, dass die Fähigkeit zur freien Willensbildung, die Einwilligungsfähigkeit und die Selbstbestimmungsfähigkeit im Grunde von denselben psychopathologischen Kriterien abhängen und im Kontext von Zwangsmaßnahmen das zentrale Element darstellen: Das Vorhandensein bzw. die Abwesenheit dieser Fähigkeiten entscheidet letztendlich darüber, ob ein selbstgefährdendes Verhalten als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts akzeptiert wird und damit sowohl rechtlich als auch ethisch legitimiert ist oder ob dasselbe Verhalten als krankheitsbedingt angesehen wird und infolgedessen die Fachkräfte sowohl rechtlich als auch ethisch zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen befugt. Im Anschluss an den theoretischen Teil wurde in Form von sieben leitfadengestützten Expertensowie problemzentrierten Interviews empirisch untersucht, wie die Betroffenen und die Fachleute in der Praxis persönlich mit der Grenze zwischen Selbstund Fremdbestimmung umgehen. Abschließend wurden die Ergebnisse vor dem Hintergrund bisheriger Forschungsergebnisse sowie einschlägiger Fachliteratur diskutiert.

Die Grenze zwischen Selbstund Fremdbestimmung verläuft entlang existenzieller Fragestellungen, geht mit einer emotionalen Belastung für alle Beteiligten einher und ist gekennzeichnet durch unscharfe Trennlinien, sodass es sich bei der Entscheidung, ob ein bestimmtes Verhalten noch gerade so als Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts zu tolerieren ist oder ob es eigentlich schon so eben die Schwelle zur Indikation und Legitimation von Zwangsmaßnahmen überschritten hat, in der Praxis häufig um Gratwanderungen handelt. Erschwerend kommt hinzu, dass konkrete Definitionen, einheitliche Beurteilungskriterien, allgemein anerkannte Leitlinien und standardisierte Instrumente für die sichere Feststellung einer zwangslegitimierenden Selbstbzw. Fremdgefährdung fehlen.

Die Fachleute stehen vor der schwierigen Aufgabe, sich von ihrem Bedürfnis, anderen Menschen zu helfen, und von ihren subjektiven Normvorstellungen zu distanzieren, um eine Abwägung im Sinne des Betroffenen vorzunehmen, den sie möglicherweise gar nicht gut kennen. Je nachdem, ob sich eine Fachkraft für oder gegen die Anwendung von Zwang entscheidet, besteht jeweils zum einen die Chance, dass sich die Entscheidung langfristig für den Betroffenen selbst als positiv erweist, entweder weil er auch ohne zwangsweise Intervention gut zurecht kommt, oder indem er nach einer erfolgten Zwangsmaßnahme hierfür dankbar ist. Zum anderen bestehen jeweils aber auch Gefahren, z.B. dass der Betroffene entweder durch die Zwangsmaßnahme traumatisiert wird, den Kontakt abbricht und dem psychiatrischen Versorgungssystem dauerhaft misstrauisch gegenübersteht, oder dass eine Maßnahme unterlassen wird, die dem Betroffenen möglicherweise tatsächlich geholfen und die Realisierung der befürchteten Selbstoder Fremdgefährdung verhindert hätte, die nun ohne die Zwangsmaßnahme eingetreten ist. Es gehen also sowohl mit dem Unterlassen als auch mit dem Durchführen von Zwangsmaßnahmen jeweils Chancen und Gefahren einher, die sich im Vorfeld umso schlechter abschätzen lassen, je weniger man die persönliche Haltung des Betroffenen kennt.

Eine Möglichkeit für Betroffene, um die Verantwortung über das eigene Leben auch während Zuständen der Selbstbestimmungsunfähigkeit bei sich zu behalten, liegt im Erstellen von Vorausverfügungen, wobei hier zu beachten ist, dass sich weder Zwangseinweisungen noch Fixierungen unterbinden lassen.

In der Einleitung dieser Arbeit wurde bereits das bei der Erwägung von Zwangsmaßnahmen immanente Spannungsfeld zwischen Selbstund Fremdbestimmung aufgezeigt, das insbesondere in der Sozialen Arbeit mit einem hohen Konfliktpotenzial einhergeht, denn die Förderung der Klientenautonomie ist in dieser Profession von höchster Relevanz. Von daher müssten Zwangsmaßnahmen mit dem Selbstverständnis der Sozialen Arbeit theoretisch schwer vereinbar sein.

In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass sich Zwangsmaßnahmen aus zwei konträren Perspektiven betrachten lassen können. Die eine Auffassung geht davon aus, dass die Autonomie eines von Zwangsmaßnahmen Betroffenen bereits durch dessen psychische Erkrankung aufgehoben wurde, da diese die Fähigkeit zur Selbstbestimmung bzw. die Fähigkeit zur freien Willensbestimmung beeinträchtigt. Da mit der Zwangsmaßnahme das Ziel verfolgt wird, diese Fähigkeit wiederherzustellen, wird die Anwendung von Zwang als Intervention zur Befreiung aus dem krankheitsbedingten Autonomieverlust aufgefasst. Unter Zugrundelegung dieser Sichtweise löst sich der anfangs postulierte Konflikt zwischen Zwangsmaßnahmen und Sozialer Arbeit auf: Auch wenn Zwangsmaßnahmen auf den ersten Blick wie die Verkörperung von Fremdbestimmung wirken und in dem Moment auch so erlebt werden, dienen sie letztendlich der Autonomieförderung. Von daher wäre es kontraproduktiv, einem Betroffenen diese Hilfe vorzuenthalten, auch wenn er dies krankheitsbedingt zunächst nicht einsehen kann. Für die Soziale Arbeit entstünde hier die Aufgabe, im Vorfeld darauf hinzuwirken, dass es nicht so weit kommt, dass Zwang zur letzten Möglichkeit wird, sondern dass der Betroffene schon frühzeitig psychosoziale Unterstützungsangebote annimmt und sich in ambulante psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung begibt, damit die psychische Erkrankung remittieren und analog dazu die Selbstbestimmungsfähigkeit des Betroffenen wieder zunehmen kann.

Der anderen Perspektive zufolge ist es nicht die psychische Krankheit, sondern die Zwangsmaßnahme, die den Betroffenen seiner Selbstbestimmung beraubt. Indem gegen seinen Willen gehandelt und über ihn und seinen Körper fremdbestimmt wird, wird seine Autonomie missachtet und in zahlreiche Grundrechte eingegriffen. Nur weil jemand psychisch krank ist, hat diese Person trotzdem ein Recht auf Selbstbestimmung und freie Persönlichkeitsentfaltung, auch wenn Außenstehende manches vielleicht für unvernünftig halten. Bei dieser Sichtweise ist eine Zwangsmaßnahme mit einem großen Konflikt für die Soziale Arbeit verbunden. Dementsprechend wäre es die Aufgabe, für das Recht der Betroffenen auf die ‚Freiheit zur Krankheit' einzutreten und unter allen Umständen zu verhindern, dass Zwang angewandt wird.

Aus den Interviews wurde ersichtlich, dass diese zwei extremen Sichtweisen wahrscheinlich selten in Reinform vertreten werden und es zusätzlich zur persönlichen Grundtendenz auf den konkreten Einzelfall ankommt, ob man in der jeweiligen Situation eher zur einen oder zur anderen Auffassung neigt.

Davon abgesehen stellt sich die Beratung über Vorausverfügungen als geeignetes Handlungsfeld für Sozialarbeiter heraus: Da Vorausverfügungen wie beispielsweise Patientenverfügungen als Instrument der Selbstbestimmung gelten, sind sie mit dem auf Klientenautonomie bedachten Selbstverständnis der Sozialen Arbeit sehr gut vereinbar. Sowohl in dieser Untersuchung als auch in einschlägiger Fachliteratur wurde deutlich, dass Patientenverfügungen im psychiatrischen Bereich derzeit kaum genutzt werden. Zudem wurde für eine vorherige professionelle Beratung plädiert, allerdings gibt es noch zu wenig qualifizierte Beratungsangebote. Diese Versorgungslücke könnte durch die Soziale Arbeit geschlossen werden, denn hier käme es neben Beratungskompetenzen insbesondere auf gesundheitsbezogenes und rechtliches Fachwissen an, worüber Sozialarbeiter in der Regel verfügen.

Da psychiatrische Zwangsbehandlungen mit einer Patientenverfügung unterbunden werden können, sollte dies in der Beratung auf jeden Fall thematisiert werden. Dabei sind eine ausgewogene Informationsvermittlung und eine unvoreingenommene Haltung wichtig: Es sollte sowohl über die möglichen Auswirkungen einer Behandlung als auch einer Nichtbehandlung aufgeklärt werden. Hierbei sollte ebenso auf Nebenwirkungen von Psychopharmaka eingegangen werden wie auf die möglichen Folgen einer Nichtbehandlung, indem z.B. die Symptomatik einer psychotischen Episode erläutert und darauf hingewiesen wird, dass eine Nichtbehandlung zu einer längeren Unterbringungsdauer führen kann. So wird derjenige befähigt, sich nach umfassender Aufklärung frei zu entscheiden, was er lieber in Kauf nehmen würde: von der psychotischen Episode befreit zu werden, dafür aber möglicherweise unter den Nebenwirkungen der Psychopharmaka zu leiden, oder auf Psychopharmaka zu verzichten, dafür aber die Psychose in vollen Zügen zu durchleben. Diese Fragen sollte grundsätzlich jeder für sich selbst klären. Fachleute können hier lediglich durch Aufklärungsarbeit und Psychoedukation zu einer differenzierten Abwägung beitragen.

Durch das Aufstellen von Vorausverfügungen wird die Selbstbestimmung des Betroffenen vorab auch für Situationen gesichert, in denen sein Wille für unfrei befunden wird. So bleibt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gewahrt und die Fachkräfte wissen, ‚woran sie bei ihm sind.' Die Entscheidung, was für denjenigen besser wäre, liegt dann nicht mehr in der Fremdverantwortung der Fachleute, sondern in der Selbstverantwortung des Betroffenen. Wenn z.B. aus einer Patientenverfügung ersichtlich wird, dass es dem freien Willen des Betroffenen entspricht, während einer psychotischen Episode Psychopharmaka abzulehnen, fällt die Last der Entscheidung von den Fachleuten, wodurch sie das Gefühl, einem vermeintlich leidenden Menschen nicht zu helfen, möglicherweise auch besser ertragen können, da sie wissen, dass der Betroffene es wirklich nicht anders wollte.

Im Handlungsfeld von Zwangsmaßnahmen könnte die Soziale Arbeit also ihrem Selbstverständnis, die Klientenautonomie zu erhöhen, in Form einer ergebnisoffenen Beratung über psychiatrische Patientenverfügungen nachkommen. Dies könnte beispielsweise beim Sozialpsychiatrischen Dienst unter den vorsorgenden Hilfen laufen, zumal dort auch ein Psychiater vor Ort ist, der die Einwilligungsfähigkeit begutachten könnte, sodass die Gültigkeit der Patientenverfügung später nicht angezweifelt werden kann.

Je nach Arbeitsfeld sind Sozialarbeiter durch einen regelmäßigen, langfristigen Kontakt zu ihren Klienten in der günstigen Position, dass sie diese persönlich gut kennen. Das hat zum einen den Vorteil, dass sie erste Anzeichen einer Zustandsverschlechterung erfassen und infolgedessen ein frühzeitiges Aufsuchen von ambulanten Behandlungsangeboten initiieren können, und darüber hinaus kennen sie die persönliche Haltung und Lebenseinstellung ihrer Klienten vermutlich besser als ein Krankenhausarzt oder Richter, der den Menschen zum ersten Mal sieht.

Davon abgesehen ergeben sich im Handlungsfeld von Zwangsmaßnahmen weitere Möglichkeiten für die Soziale Arbeit, sich konstruktiv einzubringen. In psychiatrischen Kliniken können die Sozialarbeiter des Sozialdienstes zu einer höheren Transparenz beitragen, indem sie untergebrachte Patienten über das Prozedere, die weiteren Abläufe und ihre Rechte aufklären und sie beispielsweise bei der Beantragung von gerichtlichen Entscheidungen unterstützen. Darüber hinaus können Sozialarbeiter in allen Arbeitsfeldern, in denen sie mit psychisch kranken Menschen zusammenarbeiten, Psychoedukation durchführen, den Umgang mit Frühwarnmerkmalen besprechen sowie Krisenpläne erstellen und im Falle einer erfolgten Zwangsmaßnahme diese nachbesprechen. Im Hinblick auf mildere Alternativmaßnahmen bietet sich für Sozialarbeiter eine Tätigkeit bei mobilen Krisendiensten oder dem Home Treatment an.

Abschließend konnte also gezeigt werden, dass es für die Soziale Arbeit, deren Selbstverständnis auf den ersten Blick mit dem Handlungsfeld von Zwangsmaßnahmen unvereinbar zu sein schien, durchaus Möglichkeiten gibt, das Spannungsfeld zwischen Selbstund Fremdbestimmung zu entlasten und die Klientenautonomie zu erhöhen.

 
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