Funktionen der Mythologie für den Rechtsextremismus

Die Motive für den rechtsextremen Rückgriff auf die Mythologie weisen eine große Bandbreite auf. Oftmals wirken mehrere von ihnen zusammen. Als einzelne Funktionen lassen sich die folgenden identifizieren, wobei hier nicht der Anspruch erhoben wird, dass die Aufzählung vollständig ist:

Eine sehr allgemeine Funktion, die der Rückgriff auf die germanische Mythologie für rechtsextreme Gruppen besitzt, besteht in der bloßen Identitätsstiftung. Erkennbar wird dies beispielsweise daran, dass teilweise eine geschlechtsspezifische Vereinnahmung von Gottheiten erfolgt: So ist die Berufung auf die weiblichen Gottheiten Freyja, Skadi oder auch auf die im Dienste der Götter stehenden Walküren im Wesentlichen Frauen der rechten Szene vorbehalten. Die Identifizierung durch den Bezug zu Odin beziehungsweise Thor impliziert in vielen Fällen deutlich sichtbar auch die Übertragung der Eigenschaften dieser Gottheiten auf diejenigen, die sich mit ihnen identifizieren. Hier sind es gerade Merkmale von besonderer Männlichkeit, wie Kraft, Gewalt, Macht und Überlegenheit, die besonders herausgestrichen werden und durch die Dedikation den einzelnen Gruppenmitgliedern zukommen sollen.

Dabei ist darauf hinzuweisen, dass die germanischen Gottheiten in ihrer Wahrnehmung auf einige passende Aspekte verengt werden. So erfährt beispielsweise Odins Charakterisierung als Gott der Dichtkunst, die in der mythologischen Tradition durchaus präsent ist, in der Rezeption durch die rechtsextreme Szene de facto keine Beachtung. Die Gottheit wird weitgehend nur als Gott des Krieges und der Gewalt wahrgenommen – oder wie ihn die Gruppe Landser (2000) betitelte – als Lenker der Schlachten. Thor wird gleichfalls primär rezipiert als Gott der rohen, ungezügelten Gewalt, wie beispielsweise T-Shirt-Beschriftungen wie Thor Donnergott oder auch der Bandname Donnertyrann, der offenkundig auf Thor/Donar bezogen ist, zeigen.

Die Gewalttätigkeit als Spezifikum der eigenen Gruppe wird in Namen wie Lokis Horden deutlich, wobei Horde eben nicht irgendeine Konfiguration von Personen bezeichnet, sondern die Konnotation von Wildheit und zügelloser Respektlosigkeit besitzt. Indem diese Gruppe sich zudem Loki weiht, werden auch dessen Attribute der Gewalttätigkeit, Verschlagenheit und List auf die Mitglieder übertragen.

Auch für die Bezugnahme auf die Berserker, so im Namen der Kameradschaft Berserker Kirtorf, ist wohl die Schaffung einer eigenen Identität, die sich wesentlich auf dem Gewalttätigen gründet, ausschlaggebend. Das Bekenntnis zur Gewalt ist hier umso eindeutiger und für die Allgemeinheit umso deutlicher erkennbar, als die Redewendung wüten wie ein Berserker sehr allgemein bekannt ist und zu den wenigen Phraseologismen gehört, in denen heute noch Spuren germanischer Mythologie nachzuweisen sind.

Dingsymbolisch für die manifeste Gewalt steht auch der Thorshammer Mjöllnir. Der Name impliziert unmäßige Macht und Gewalt und zugleich Unbesiegbarkeit – Eigenschaften, die die betreffenden Personen sich und ihrer politischen Sendung gerne selbst zuschreiben.

Analoges kann für die Referenz auf Gungnir, den Wotansspeer, gelten. Gleichfalls proklamiert die Berufung auf Sleipnir – als achtbeiniges Pferd durch besondere Schnelligkeit ausgezeichnet – beziehungsweise auf die weisen Raben Huginn und Muninn Überlegenheit (und im letzteren Falle auch höheres Wissen).

Selbst der einzige nennenswerte Fall einer Bezugnahme auf ein Motiv aus der "niederen Mythologie", nämlich auf den Werwolf, ist aus der Glorifizierung von Gewalt zu erklären: Werwölfe gelten als Inbegriff des Gefährlichen, Unberechenbaren und Gewalttätigen, wobei die von ihnen ausgehende Gefahr dadurch verstärkt wird, dass ihr Wirken im Dunklen, Verborgenen erfolgt. Hierdurch ist eine Verbindung zu den Idealen rechtsextremer Gruppen deutlich gegeben, wobei der vermeintlich heroische Kampf im Untergrund in der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges noch ein weiteres Vorbild darstellt – parallel zum heutigen Kampf rechter Gruppen gegen das demokratische "System". Wenn also Sympathisanten oder Angehörige der rechtsextremen Szene Kleidungsstücke mit der Aufschrift Werwolf tragen oder ihre Autos mit entsprechenden Aufklebern schmücken, so soll die Aufschrift die zugehörige Person charakterisieren, die Eigenschaften des Mythos sollen sich auf den Kleidungsträger beziehungsweise den Autofahrer übertragen – eine Translatio, die bereits seit frühesten Kulturstufen in analogen Formen bekannt ist. Zusätzlich expliziert wird die Intention des gewaltbereiten Handelns durch die falsche Schreibung Wehrwolf, in der das erste Wortglied noch einen Anklang an Wehrmacht bieten und somit den Rückbezug auch auf das Dritte Reich herstellen soll.

 
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