Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung

In diesem Kapitel kann nicht die sehr umfangreiche und ausgefeilte Vorurteilsforschung stehen, sondern wir wollen nur auf die Aspekte verweisen, die für die Ergebnisse der Sachsen-Anhalter Untersuchung eine Interpretationsfolie bieten sowohl zur Genese von Vorurteilen als auch zum Zusammenhang von Vorurteilen und Handlungsbereitschaft. Zur Phänomenologie und Ätiologie von Stereotypen und Vorurteilen wurde schon frühzeitig und sehr umfassend geforscht (vgl. Stolz 2000). Das wird auf ein besonderes wissenschaftliches Interesse an der Aufklärung der Ursachen vor allem für die „destruktiven sozialen Konsequenzen von Stereotypen und Vorurteilen“ zurückgeführt (vgl. Stürmer und Siem 2013, S. 52). Wir konzentrieren uns wegen unserer Forschungsfragen auch ausschließlich auf negative Vorurteile, natürlich gibt es auch positive.

Die europäische sozialpsychologische Vorurteilsforschung kann als Teilbereich der Einstellungsforschung auf einen respektablen Forschungsstand zur Entstehung und den Folgen von Stereotypen und Vorurteilen verweisen. Daraus ist für uns der auf Henri Tajfel zurückgehende Forschungsansatz von besonderem Interesse, „Vorurteile als intergruppale Phänomene zu fassen und durch ein Zusammenspiel von Identifikationsund Kategorisierungsprozessen zu erklären (Stolz 2000, S. 33 bezugnehmend auf Tajfel; vgl. zur Vorurteilsforschung auch Petersen und Six 2008).

Sozialpsychologen sprechen von Intergruppenverhalten, wenn das Verhalten zwischen zwei oder mehreren Personen vollständig oder teilweise durch ihre jeweilige Gruppenzugehörigkeit determiniert wird. Während das Verhalten zwischen einzelnen Personen eher interindividuell variabel ist, kann das Intergruppenverhalten eher als uniform bezeichnet werden. Das betrifft die Wahrnehmungen, Einstellungen und auch die Verhaltensweisen der jeweiligen Gruppenmitglieder. Schon die Wahrnehmung von anderen Personen beruht auf Stereotypen über die Gruppe, zu der sie gehören. So wird etwa ein türkeistämmiger Bürger nicht als Individuum, sondern als austauschbares Mitglied seiner Gruppe, den Türken, wahrgenommen (vgl. Stürmer und Siem 2013, S. 49). Auf die Polizei übertragen wollen wir die intergruppalen Effekt in unserer Studie in zweifacher Hinsicht betrachten: nach außen, um die (kognitive und emotive Stereo-)Typisierung von Migranten, die Opfer geworden sind, zu rekonstruieren; nach innen, um die individuellen Meinungen und Überzeugungen im Kontext der Dienstgruppen zu analysieren. Des Weiteren steht im Mittelpunkt der Forschung die Frage nach möglichen Zusammenhängen von Vorurteilen und konkretem Verhalten (Bergmann 2009, S. 12). Vorurteile finden, obgleich vorhanden z. B. bei sozialer Unerwünschtheit, selten Ausdruck im Handeln. Bedeutenden Einfluss auf sozial erwünschte, politisch korrekte Einstellungen haben die „Stakeholder“ der Polizei, der Dienstherr, die Führungskräfte und mediatisiert über den Dienstherrn und die Vorgesetzten die veröffentlichte Meinung. Die vorhandenen Erkenntnisse der Vorurteilsforschung eröffnen Möglichkeiten, die Motive und situativen Gelegenheiten zu verstehen, die diskriminierendes Handeln zur Folge hat (vgl. z. B. das MODE-Modell von Olson und Fazio 200921). Die Implikationen, die sich aus diesen Erkenntnissen ergeben, können einseitige Untersuchungen ausschließen, etwa über die quantitative Verbreitung vorurteilsbasierter Einstellungen in der Polizei, ohne die Ursachen und Reproduktionsmechanismen der Vorurteile zu erforschen, welches das zentrale Forschungsinteresse unserer Forschung ist.

Sozialwissenschaftler befassen sich seit längerem mit Vorurteilen und deren Konsequenzen für das Verhalten, gerade auch im Zusammenhang mit Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und feindseligen Haltungen gegenüber anderen sozialen Minderheiten (z. B. Sinti und Roma, Juden u. a.) und Randgruppen (Obdachlose u. a.). Unter ihnen besteht Einigkeit hinsichtlich der zentralen Bedeutung von Formen sozialer Distanzierung und der Auswirkungen sozialer Diskriminierung in der Gesellschaft. Trotzdem existiert immer noch Uneinigkeit darüber, wie Vorurteile und Verhaltensintensionen theoretisch modelliert und empirisch erfasst werden können. Die Dissonanzen ranken sich insbesondere um die Dimensionalität der Erfassung von Vorurteilen. Viele Forscher kritisieren eine „psychologische Schlagseite“ der Vorurteilsforschung und halten die Fokussierung der Forschung Wenn ein Polizist in interkulturellen Begegnungssituationen sich z. B. von dem Vorurteil leiten lässt, dass Bürger mit Migrationshintergrund ein grundsätzlich höheres Kriminalitätspotenzial haben als einheimische Bürger, und ihn dieses Vorurteil dazu verleitet, Menschen mit Migrationshintergrund vorschnell zu verdächtigen, führt dies zu Fehlverhalten (vgl. Busse 2010, S. 24). auf die personale Dimension für verkürzt. Stattdessen verfolgen sie ein Konzept, das von der Existenz sozial geteilter und gesamtgesellschaftlicher Vorurteile (etwa manifestiert in Ideologien) ausgeht (vgl. dazu u. a. Barrabas 2013, S. 68–70; Ganter 1997; Stolz 2000; Petersen und Six 2008; Abels 2009).

Das polizeiliche Einsatzverhalten und -handeln in interkulturellen Situationen ist in Deutschland seit den 1990er Jahren ein häufiger, anlassbezogener Gegenstand der Polizeiforschung. Dabei steht immer die hypothetische Annahme sozialer Diskriminierung auf Grund von Vorurteilen über Ausländer und migrantischer Personen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. In dem Zeitraum von 20 Jahren wurden einige wissenschaftliche Studien durchgeführt, deren Befunde die Polizeipraxis mehr oder weniger konsequent angeregt hat, daraus Schlussfolgerungen zu ziehen, ohne dass die Kritik am polizeilichen Fehlverhalten verstummte. Es ist immer noch schwierig, wissenschaftlich fundierte Antworten darauf zu geben, was angesichts der immer wieder kursierenden Vorwürfe in der Polizei wirklich „im Argen liegt“, inwieweit die Kritik an der Polizei berechtigt ist oder was ggf. auch im gesellschaftlichen Umgang mit der Polizei falsch gemacht wird und schließlich, was die angemessenen Schlussfolgerungen für die Professionalisierung des polizeilichen Handelns in einer zunehmenden interkulturellen Gesellschaft sein müssen. Die Vorurteilsforschung stellt eine – wenn auch nicht ausschließliche – Möglichkeit dar, sowohl dem Phänomen sozialer Diskriminierung in der Polizei nachzugehen als auch die Vorurteile der Kritiker der Polizei zu erfassen.

 
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