Die polizeilichen Bewertungen des Einsatzgeschehens
Führungskräfte in höheren Leitungspositionen
Für die Polizeibeamtinnen und -beamten in höheren Leitungspositionen ist (mit einer Ausnahme) eine ausgeprägte kritische Sicht auf die inkriminierten Fälle typisch. Dabei wird die extern geäußerte Kritik an der mangelnden Sensibilität von Polizeibeamten im Umgang mit migrantischen Opfern im Wesentlichen mitgetragen. Kern der polizeiinternen Problemwahrnehmung ist, dass „zu wenig Opferorientierung ein polizeiliches Problem zu sein scheint“ (MAXQDA Interview 01/03/E 14). Die leitenden Beamten stimmen in ihrer großen Empathie für die Opfer überein und das nicht nur aus Menschlichkeit, sondern auch und besonders aus Gründen einer vernünftigen Polizeiarbeit:
Wenn ich jetzt sehe, den größten Ausschlag der Einzelkategorien hat Ignoranz gegenüber Opferbelangen und -gefühlen (meint die Bewertungen der Mobilen Opferberatung; Anm. Asmus/Enke). Das trifft eigentlich das, was ich gesagt habe. Es ist für uns absolut wichtig, mit dem Eintreffen gegenüber den Opfern das Gefühl zu vermitteln:
‚Wir sind da. Wir nehmen Euch ernst und wir helfen Euch.' Es ist nichts schlimmer, als wenn man ernst zu nehmende Sachverhalte bagatellisiert oder den Opfern eine Mitschuld zuweist. (MAXQDA Interview 13/01/E 80)
Grundsätzlich muss man versuchen, gerade was die Opferproblematik betrifft, sich auf die Ebene des Opfers zu stellen, um dann eben dieses Vertrauen zu schaffen, dass es sich erst mal öffnet. Also Vertrauen in die staatlichen Institutionen zu schaffen, das ist sehr wichtig. (MAXQDA Interview 09/01/E 365)
Es gibt keine zweite Chance; von Beginn an muss das Gefühl vermittelt werden, dass sie ernst genommen werden und die Polizei hilft. (MAXQDA Interview 13/01/E 24)
Das Verständnis für die Opfersituation ist gekoppelt mit der Selbstkritik, dass es nichts nutzt, diese Haltung selbst zu haben, wenn man sie nicht an die operativen Kräfte vermittelt:
Das Opfer erwartet bestimmte Dinge von uns und das müssen wir den Truppen klarmachen. (MAXQDA Interview 15/02/E 88)
Deutlich hervorgehoben wird die gesellschaftliche Brisanz von PMK rechts, die sich in der Wahrnehmung durch die Polizei spiegeln soll, auch weil sie für die Vorgangsbearbeitung wichtig ist:
So wie die meisten Fälle, die einen rechtsextremistischen Hintergrund haben, insbesondere nach den sogenannten Döner-Morden und dem NSU. Brisanz liegt immer dann vor, wenn Vorgänge, auch wenn sie auf den ersten Blick nicht so erscheinen mögen, möglicherweise eine Dimension entwickeln. Das ist auf den ersten Blick vielleicht nicht immer so erkennbar für jeden. Schwierig einzuschätzen, vor allem für diejenigen, die den ersten Kontakt zu Opfern haben. Deswegen ist es umso wichtiger, dass seitens von Notrufbeamten oder von handelnden Beamten kontinuierlich, sauber und empathisch mit den Opfern umgegangen wird. Weil ich als handelnder Beamter vor Ort nie genau wissen kann, welche Dimensionen bestimmte Sachverhalte im späteren Verlauf einmal bekommen könnten. (MAXQDA Interview 18/02/E 56)
Zugleich weisen die leitenden Beamtinnen und Beamten auf die Bedeutung von Opferorganisationen für die Polizeiarbeit hin und darauf (im Gegensatz zu den Polizeibeamtinnen und -beamten an der Basis), dass deren Kritik an der Polizei ernst genommen werden muss:
Ohne Frage, es ist natürlich so, dass in den Fällen, wenn Opfer, egal welche polizeilichen Sachverhalte es betrifft, jetzt Bürger mit Migrationshintergrund, sich an die Polizei wenden und deren Belange entweder nicht erkannt werden oder nicht ernst genommen werden. Dann kann da in einigen Fällen, das ist immer eine Frage, wie diejenigen vernetzt sind (meint Opfervertretung, Anm. Asmus/Enke), dann kann das natürlich zu Kritik führen und zu berechtigter Kritik, ohne Frage. (MAXQDA Interview 13/01/E 8) Die Kenntnis über Opferorganisationen ist wichtig, um mit der nötigen Sensibilität und wirklich die in der Sache angemessene und richtige Entscheidung treffen zu können. (MAXQDA Interview 09/01/E 16)
In Anbetracht der durchgehend reflektierenden Haltung der leitenden Beamtinnen und Beamten müssen die in der Literatur aufgezeigten Rechtfertigungsmuster der Polizei, insbesondere die von Führungskräften, gegenüber öffentlichen Vorwürfen der Fremdenfeindlichkeit (vgl. JASCHKE 1997) differenzierter betrachtet werden. Typisch für diese Beamtinnen und Beamten ist ihre Offenheit für Kritik an der Polizei:
Weil wir diejenigen, die uns um Hilfe bitten, diejenigen, die über Sachverhalte informieren, nicht einteilen nach Hautfarbe, nach Herkunft oder sexueller Orientierung, sondern es gibt einen Auftrag für uns und der wird abgearbeitet. Dass es dabei vielleicht manchmal an Empathie mangelt oder dass es vielleicht manchmal nicht so ist, wie man sich das als Opfer vorstellt, das will ich nicht in Abrede stellen. (MAXQDA Interview 13/01/E 144)
Von daher stellt sich die Frage, woran es liegt, dass solche Maßstäbe die Polizeistrukturen nicht durchdringen? Nach unseren Erkenntnissen kann die Frage beantwortet werden, wenn man die jeweilige Strukturlogik des Denkens und Handelns der Polizeiführung und der Polizeibasis sowie deren Differenzen resp. Spannungen ins Blickfeld der wissenschaftlichen Betrachtung rückt. Die leitenden Beamten, die sich und ihren Unterstellten „das Leitbild der Polizei als Grundlage des menschlichen Miteinanders vor Augen halten“ (MAXQDA Interview 14/02/E 80), stehen vor einer großen Herausforderung. Einige von ihnen haben erkannt, dass sie mit für selbstverständlich gehaltenen und daher wenig hinterfragten, gruppenspezifischen Denkund Handlungsweisen von Einsatzbeamtinnen/Einsatzbeamten und Sachbearbeiterinnen/Sachbearbeitern konfrontiert werden, die nicht leicht durch Kritik und schon gar nicht per Anweisungen, zumindest nicht dauerhaft, veränderbar sind. Die Führungskräfte sprechen in diesem Zusammenhang von einer „verschworenen Gemeinschaft“ von Polizeibeamten oder von „Korpsgeist“ und sehen sich hilflos, damit umzugehen. Wie schwierig es ist, solche eingelebten Denkmuster zu öffnen, veranschaulicht das folgende Beispiel:
Wir machen zweimal im Jahr Thema Rechtsextremismus, zweimal Stereotypveranstaltung. (…) Also da fällt es mir auch als Vorgesetzter schwer, das Ganze so rüberzubringen, dass die Leute merken, wie wichtig das ist. Das ist extrem schwer. (…) Das Problem ist, wir sozialisieren unsere Polizeibeamten nach Kategorien. Wir trichtern denen von Beginn an ein, jeden unter einer bestimmten Rubrik zu erfassen, in eine Schublade zu packen und das ganze Ding abzuarbeiten. Wir sehen den Menschen, weil es uns damit leichter fällt im Beruf, wir sehen den Menschen hinter dieser ganzen Geschichte nicht. Das ist, da habe ich auch keine Patentlösung, wie man da rauskommt. Weil das hilft schon, dass man so hart wird, dass man bestimmte Dinge nicht an sich ranlässt. Das ist schon Selbstschutz. Aber je höher man in der Hierarchie kommt, ist meine Erfahrung, ist es hilfreich, wenn man das wieder ein bisschen zulässt, weil man dann eben in der Lage ist, bestimmte Handlungsweisen nachzuvollziehen und auch noch die Chance hat, an Mitarbeiter ranzukommen als Vorgesetzter. Weil, das ist dann schlimm, wenn der Vorgesetzte nicht mehr rankommt und eben nur noch sagt: ‚Gemäß Paragraf, Absatz sowieso, habt Ihr das und das zu machen.' Und da kenne ich halt eine Reihe von Vorgesetzten, die so sind (…). Die erreichen keinen mehr. Die verändern auch nichts. Das ist ja das Schlimme. Wir wollen ja, dass wir unsere Kultur innerhalb unserer Polizei verändern, in positiver Hinsicht und das setzt ein positives Menschenbild voraus. (…) Ein typisches Beispiel: Der (unterstellte
Beamte; Anm. Asmus/Enke) hat sich getraut zu sagen: ‚Ich glaube Euch sowieso nicht, egal was Ihr mir erzählt. Ich gucke mir erst meine Zahlen an und die bewerte ich dann. Und wenn ich sie bewertet habe, dann…. Ihr belügt mich alle.' Das war sein Menschenbild. Das passt nicht. (MAXQDA Interview 15/02/E 276–280)
Nach unseren Erkenntnissen haben einige – wie übrigens auch die Opferberater – kein hinreichendes Wissen über die Strukturlogik des Phänomens der Gruppenkultur der Polizisten. Mit Begriffen wie „verschworener Gemeinschaft“ oder „Korpsgeist“ wird das Phänomen einer Gruppenkultur der Polizisten nicht hinreichend erklärt. Für manche Führungskräfte trägt die Polizistenkultur keineswegs nur negative Züge, sondern ist auch durch „Solidarität“, „Gemeinschaft“ und „Orientierung“ gekennzeichnet. Auf den hybriden Charakter der Gruppenkultur verweisen folgende Beispiele:
Diesen Korpsgeist, ja, den halte ich schon für sehr wahrscheinlich und der ist manchmal auch notwendig. Also der Korpsgeist: Ich gehöre dazu, wir gehören zusammen, wir helfen uns. Das ist eine unantastbar notwendige Geschichte für die Polizei, für polizeiliches Handeln, für geschlossenes Handeln vor allen Dingen. Nicht für ausgeschlossen halte ich allerdings, dass dieser Korpsgeist zu, ich sage mal in Anführungsstrichen, in Einzelfällen Zusammenrottung von Polizeibeamten zur Erfüllung von Zielen dienen kann, die nicht in Ordnung sind. Als Beispiel sehe ich da nicht mal das Handeln von Polizeibeamten gegenüber Ausländern an, sondern ich sehe mal Fußballeinsätze mit gewalttätigem Hintergrund, oder ich sehe auch das Versammlungsgeschehen teilweise mit einem gewalttätigen Hintergrund. Und wenn es dort nicht diesen Korpsgeist gäbe, wäre der Einzelne auf sich gestellt und das würde möglicherweise zu großen Problemen kommen. Die Frage ist nur, und da schließe ich nicht aus, dass so etwas vorkommt, wann hat man das Maß überschritten, wo man sich mit Hilfe dieses Korpsgeistes in Situationen begibt, wo das Handeln unrechtmäßig, unangemessen einer kleineren oder größeren Gruppe gegenüber ist und tatsächlich ganz schwierig wird bis hin zu möglichem Straftatverdacht. Ich kann dies auch nicht ganz für das Handeln gegenüber ausländischen Mitbürgern ausschließen, habe aber dafür momentan kaum Belege. Ich schließe das aber auch nicht aus, dass man sich zusammenfindet, um Belange ausländischer Mitbürger nicht nur nicht zu achten, sondern auch gegen sie mit unverhältnismäßigen Mitteln vorzugehen. Ist mir aber eher aus dem Versammlungsgeschehen und bei gewaltgeneigten Fußballeinsätzen bekannt. (MAXQDA Interview 01/03/E 130)
Das ist schon irgendwo auch eine verschworene Gemeinschaft und soll es ja auch sein und das ist ja auch gut so, also den Gemeinschaftssinn fördern und miteinander an die Aufgaben rangehen, dass sich der eine blind auf den anderen verlassen kann. Das gehört alles mit dazu und ist aus meiner Sicht auch sehr wichtig. Das findet seine Grenzen da, wenn strafrechtliche Grenzen überschritten werden oder wo man einfach im Auftreten in bestimmten Situationen daneben liegt. Dann ist es falsch verstandene Freundschaft, wenn ich meinen Kollegen nicht wieder auf den rechten Pfad zurückführe. (MAXQDA Interview 09/01/E 470)
Ein Einblick in die Reproduktionsmechanismen der Gruppenkultur, mittels denen Grenzziehungen, Sichtweisen und Bewertungen gegenüber anderen, hier den Migranten, erzeugt werden, können wir den Interviewtexten nicht entnehmen. Dieser „blinde Fleck“ führt dazu, dass die Führungskräfte bei allem Wollen keinen
„Hebel“ finden, verfestigten Haltungen zu begegnen und diese zu verändern. Die Kommunikation zwischen den Organisationsebenen ist gestört und führt zumindest bei dieser Thematik zu keiner Verständigung.
Bezogen auf das vorliegende Forschungsprojekt erhoffen die leitenden Beamten, dass es „insbesondere zur Reflexion unseres polizeilichen Handelns“ beiträgt (MAXQDA Interview 09/01/E 482), womit das pädagogische (Vermittlungs-)Problem externalisiert wird oder –im besseren Fall – als Hilfe für ihre Personalführung angesehen wird.
Resümierend kann festgehalten werden: Von den Führungskräften werden die Ursachen mangelnder Sensibilität von Einsatzbeamten in Persönlichkeitsstrukturen (character traits) und im Korpsgeist gesehen. Dessen Reproduktionsmechanismus wird kaum erkannt. Von daher werden die Veränderungsmöglichkeiten der Gruppenkultur(en) als gering eingeschätzt bzw. verkannt. Ihre Hilflosigkeit in der Vermittlung des humanistischen Leitbilds der Polizei schwächt ihre Überzeugungskraft in (Nach-)Besprechungen von Einsätzen mit Migrantenopfern.