Die Überzeugung richtig zu handeln
Die Überzeugungen, die Einsätze gemäß der rechtlichen Normen und taktischen Regeln durchzuführen, erwächst aus verschiedenen Abgleichen der Polizeibeamtinnen und -beamten: Man hätte bei deutschen Opfern nicht anders gehandelt. Sie machen scheinbar nichts falsch und brauchen keine persönliche Verantwortung für die nichtbewältigte Opfersituation übernehmen. Sie nehmen die polizeiliche Dokumentation, in der kein Verstoß gegen Einsatzund Ermittlungsregeln ersichtlich ist, zum Wahrheitsbezug ihres Vorgehens, ohne zu problematisieren, dass sie von den operativ tätigen Kollegen selbst erstellt wurde. Die Kritik der Opfer wird durch deren Unverständnis polizeilichen Vorgehens erklärt.
Des Weiteren folge man nur Hinweisen von gegebenen oder unterlassenen Dienstanweisungen; implizit ein Hinweis, etwaige Fehler nicht unbedingt verantworten zu müssen. Überziehungen während der Ermittlungsarbeit, z. B. das Opfer wäre ja auch mal polizeiauffällig gewesen, werden im Sinne eines 360-GradBlicks als Ausdruck polizeilicher Objektivität und Neutralität in der Ermittlungsarbeit gedeutet.
Die zeitliche Stabilität der Überzeugungen
Die zeitliche Stabilität der Überzeugungen wird in den Kommunikationen auf den Dienststellen oder allgemein zwischen den statusgleichen Kolleginnen und Kollegen erzeugt. Dabei spielen Abgrenzungen zu anderen Kommunikationskreisen die entscheidende Rolle. In der Sachsen-Anhalter Untersuchung stellten sich folgende Muster bei den operativen Kräften heraus:
• Die Kritik der unmittelbaren Vorgesetzten wird als nicht verlässlich angesehen, weil sie sich in ihrer Vermittlungsposition zwischen „oben“ und „unten“ im Konfliktfall eher für „oben“ entscheiden und mit Sanktionen drohen.
• Die Kritik der Führungskräfte speist sich vom Leitbild her und erreicht nicht das Erleben und (Berufs)Verständnis der Einsatzund Ermittlungsbeamten in den interkulturellen Begegnungen. Zumal ihnen in der Regel genauere Informationen über das Einsatzgeschehen fehlen, und wenn sie solche besitzen, ist es offen, was daraus für die Beamtinnen und -beamten resultiert.
• Die politische und mediale Kritik wird als vorschnell, wenig fürsorglich und unfair wahrgenommen und arbeite mit Überziehungen und politischen Vermutungen wie „Rechtslastigkeit“ der Polizei, die – milde formuliert – die Ahnungslosigkeit von der Polizeiarbeit zeige oder als bösartiger Angriff erlebt wird.
Die Beamtinnen und Beamten reagieren auf die anderen Sichtweisen mit einem Rückzug auf sich selbst oder genauer auf ihre Gruppe. Sie bestärken und stabilisieren ihr Erleben und Wissen – auch das nur scheinbar richtige – in dem Kommunikationskreis der operativ tätigen Kolleginnen und Kollegen. Die eigenen Überzeugungen verfestigen sich zwischen ihnen zu fraglosen Selbstverständlichkeiten, bestärken ihre Berufsauffassung und ihr Selbstwertgefühl. Die anderen, als dominant empfundenen Kommunikationen werden durch die operativen Kräfte mit Abwehr, Frustration, Lethargie und Dulderpathos beantwortet. (Die von außen kommen, haben keine Ahnung und auf die von oben ist kein beständiger Verlass. Man muss halt damit leben). Generalisierend gesprochen wird mittels der Kommunikation untereinander die Umwelt strukturiert, der eigene Standort im sozialen Feld bestimmt und Erfolg versprechende Umweltanpassung festgelegt. Dabei handelt es sich nicht um eine einmalige Festlegung, sondern die eigene Sichtweise wird immer wieder anlassbezogen neu erzeugt.
Die Kommunikation in den anderen Gruppierungen der Polizei entwickelt sich nach deren für selbstverständlich gehaltenen Standards und Abgrenzungen. Die Führungskräfte z. B. sehen sich häufig hilflos in der Frage, ob sie mit ihrer leitbildorientierten Kritik eines inkriminierten Einsatzgeschehens die Mitarbeiter überhaupt erreichen. Die mediale Kritik wird von den operativen Kräften in der Regel als unisono und stigmatisierend erlebt, zumal sie üblicherweise von der Polizei schreibt und nicht von verschiedenen Polizisten und Polizistenkreisen. Die inkompatible Kommunikation der verschiedenen Gruppen erzeugt die zeitliche Stabilität der Überzeugungen der Polizeibeamtinnen und -beamten aller Hierarchieebenen aber auch die der externen Kritiker.
In seiner Auseinandersetzung mit der „Theorie der rationalen Wahl (rational choice theory)“, wie sie Hartmut Esser (1999 und an anderen Stellen) vertritt, geht Heinz Abels (2009, S. 251 ff.) auf den Nutzen und die Kosten von Vorurteilen ein. An dieser Erörterung kann man aus einer anderen theoretischen Perspektive nachvollziehen, warum sich die Voreinsteinstellungen (Vorurteile) der Einsatzbeamtinnen und -beamten von außen so schwer verändern lassen respektive, warum sie sich zeitlich als relativ stabil erweisen. Indem man an den Standards des polizeilichen Vorgehens festhält, erscheint es als unnütz, ein alternatives Einsatzhandeln auszuloten. Es ist in der Regel nicht nur normativ abgesichert, sondern auch relativ effizient. Die Haltung, „Das machen wir so und auch weiter so“, drückt sich in den nicht reflektierten Vorurteilen aus, „die von den Akteuren in ihrer Lebenswelt und primären Bezugsgruppen geteilt und durch Interaktionen immer neu bekräftigt werden“ (Abels 2009, S. 254 zitiert Esser 2000, S. 298). „Vorurteile sind kostengünstig, weil man nicht viel selbst denken muss und mit minimalem Einsatz (…) die Anerkennung der Gruppe gewinnt“ (Abels 2009, S. 254–255). Wie viel bedrohlicher ist die Situation, wenn die für richtig gehaltenen Überzeugungen von Führungskräften der (eigenen!) Polizei, von der Politik und der veröffentlichten Meinung in Frage gestellt werden? Unter diesen Bedingungen schließt man sich – wenn auch manchmal resignierend – fester zusammen. Man hat wenigstens die belohnende Zustimmung der primären Bezugsgruppe. Die Kritiker bieten keine kommunikativen Brücken an, die Kosten-Nutzen-Abwägung der bisherigen Überzeugungen neu zu überdenken. So scheinen die tradierten Überzeugungen und das übliche Vorgehen alternativlos.
Schlagwortartig soll noch einmal auf die Mechanismen der Verfestigung der vorgefundenen Einstellungen bei den operativen Kräften hingewiesen werden
• Die Kommunikation mit den Kolleginnen und Kollegen gleicher Organisationsteile verfestigt polizeiliche Haltungen den Migranten(opfern) gegenüber.
• In Abgrenzung zu internen und externen Kritikern bestärken die Kommunikationen untereinander das persönliche und berufliche Normalitätsund Selbstwertgefühl.
• Die Kosten einer Änderung der bisherigen Überzeugungen scheinen zu hoch,
der Nutzen zu gering.