Ursachen und mögliche Gegenstrategien
Vereinnahmung und Missbrauch germanischer Mythologie im Rechtsextremismus leben davon, dass diese Thematik bis heute im öffentlichen Bewusstsein kaum präsent oder gar tabuisiert ist. Fehlende Kenntnisse in einer breiten Öffentlichkeit ermöglichen es Rechtsextremisten insbesondere, ohne nennenswerten Widerspruch Gehalte der germanischen Mythologie für ihre Ziele entsprechend ausbeziehungsweise umzudeuten.
Sieht man von wenigen Ausnahmen ab, spielt die germanische Mythologie als Thema in Schulen oder auch an Universitäten keine Rolle. Erwähnungen in Lehrplänen (so z. B. in Sachsen) sind de facto rein proklamatorischer Natur. Weder im Bereich der Germanistik noch in der Religionswissenschaft oder auch in der Geschichtswissenschaft wird in nennenswertem Maße Wissen über germanische Mythologie vermittelt. Die Vereinnahmung von germanischer Mythologie im Nationalsozialismus wird auch in der Ausbildung angehender Lehrkräfte an allgemein bildenden Schulen nicht thematisiert. Dies gilt sowohl für deren akademische Ausbildung als auch für Weiterbildungsangebote. Insofern stehen Lehrerinnen und Lehrer der rechtsextremen Rezeption germanischer Mythologie weitgehend kenntnisund somit hilflos gegenüber. Dies beginnt bei Aufschriften auf Kleidungsstücken und gilt ebenso für Publikationen oder für Musik, die von Schülern gehört wird. Eine Diskussion mit Jugendlichen, die Umdeutungen, selektiven Ausdeutungen oder Vereinnahmungen der germanischen Mythologie fundiert entgegentreten kann, ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Dies gibt rechtsextremen Ideologen die Deutungshoheit über diesen Bereich des kulturgeschichtlichen Erbes.
Mangelnde Kenntnisse und auch Berührungsängste aufgrund der gesellschaftlichen Tabuisierung der Thematik stellen aber auch außerhalb des Bildungswesens, so z. B. in der Jugendarbeit oder in der politischen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus, Ursachen dafür dar, dass eine dezidierte und engagierte Befassung mit germanischer Mythologie kontrastiv zu deren Ausdeutung im Rechtsextremismus nirgends erfolgt.
Eine aktive Gegenstrategie, die nicht allein auf bloße Repression und Tabuisierung setzt, bedarf aber gerade der intensiven, auch fachlich fundierten Auseinandersetzung mit der Thematik der germanischen Mythologie. Dies bedeutet, dass Kenntnisse über die Kultur der Germanen, zu der auch die Mythologie als ein zentraler Aspekt gehört, in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen verstärkt vermittelt werden müssten. Wesentlicher Bestandteil sollte dabei die Aufklärung über den Missbrauch der Thematik im Nationalsozialismus und im rezenten Rechtsextremismus sein, ohne jedoch einer Beschäftigung mit dem Germanentum und der germanischen Kultur per se eine negative moralische Konnotation zu geben.
Vielmehr erscheint es sinnvoll, darüber aufzuklären, dass in der Tat germanische Volksstämme und deren Kultur einen Bestandteil der deutschen (Früh-)Geschichte darstellen, sie jedoch nur eine kulturelle Wurzel neben vielen weiteren (keltischen, slawischen, griechisch-römischen, christlich-jüdischen) Einflussfaktoren bilden, die zur Ausprägung unserer heutigen Kultur beitrugen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch auf die problematische Annahme einer (im Rechtsextremismus heute in der Regel ebenso wie bereits im Nationalsozialismus unhinterfragt vorausgesetzten) Identität von germanischer Mythologie und Kultur im Allgemeinen und nordgermanischer Überlieferung im Besonderen hinzuweisen.
Vor dem Hintergrund fundierteren Wissens ließe sich recht leicht nachweisen, dass die rechtsextreme Rezeption von Mythen, speziell von germanischer Mythologie, aber auch von germanischem Kulturerbe insgesamt, lediglich sehr selektiv ist und wesentliche Aspekte ausblendet (vgl. auch Scholz 2010: 23 f.). Hierzu gehören insbesondere die historischen Kontextbedingungen, unter denen die betreffenden Mythen entstanden. Die Betonung von Stärke, Kraft und Gewalt ist im Übrigen nichts Spezifisches für die Germanen, sondern vielen frühen Kulturen eigen und zumindest zu einem guten Teil aus deren prekären Lebensumständen zu erklären.
Ebenso wäre es auf einer solchen Basis möglich, zahlreiche inhärente Widersprüche im ideologischen Konglomerat der extremen Rechten aufzudecken, von denen hier nur einige wenige genannt seien: Zwar kann die Ethnisierung sozialer Beziehungen als wesentliches Element rechtsextremer Weltanschauung gelten, und sie gehört ohne Zweifel zu den Hauptstoßrichtungen rechtsextremer politischer Propaganda (z. B. gegen Ausländer, Asylanten etc.), solche ethnischen Aspekte lassen sich aus der historisch überlieferten germanischen Mythologie jedoch nicht ableiten. Ethnische Fragen spielten hier nämlich überhaupt keine Rolle. Vergleichbares gilt für eine vermeintliche Ausdeutbarkeit der germanischen Mythologie im Sinne sozialdarwinistischer Prinzipien. Wenngleich Kraft, Stärke und Männlichkeit ebenso wie Kampf und Krieg in der germanischen Mythologie große Bedeutung besitzen, so ist doch eine Fokussierung der germanischen Mythen-Überlieferung allein auf diese Aspekte eine Verkürzung, bleiben auf diese Weise Gestalten wie Balder oder auch die Tatsache ausgeblendet, dass der Krieg zwischen den Göttergeschlechtern der Asen und Vanen nicht mit Sieg und Niederlage, insbesondere nicht mit dem Untergang des Schwächeren, endet, sondern vielmehr mit einem Ausgleich und Friedensschluss.
Eine dezidierte Auseinandersetzung mit der Traditionsaneignung im heutigen Rechtsextremismus böte überdies auch die Chance, generell über Erberezeption und die Konstruktion von Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart sowie speziell in der Politik nachzudenken. Dies ermöglichte einen kritischeren und kompetenteren Blick auf derartige Phänomene, auch im Sinne einer aufgeklärteren Sicht auf Politik und Ideologien insgesamt.