Kontext der vorliegenden Untersuchung
Die vorliegende Forschungsarbeit entstand vor dem Hintergrund meiner eigenen beruflichen Erfahrung in der Sozialen Arbeit mit gewaltbetroffenen Frauen in den Arbeitsfeldern Frauenhaus und Frauenberatung. Mit Spannung erwarteten und beobachteten wir – die parteilichen Unterstützerinnen gewaltbetroffener Frauen – die Einführung des Platzverweisverfahrens, wurde doch mit dieser neuen staatlichen Interventionsstrategie die Hoffnung verknüpft, dass Opfern häuslicher Gewalt mehr Gerechtigkeit widerfahren könne: Sie sind nicht mehr unbedingt genötigt, ihr Lebensfeld aufgeben und Schutz in der Enge eines Frauenhauses finden zu müssen, sondern können mit ihren Kindern in ihrem Zuhause bleiben – möglicherweise über einen längeren Zeitraum, sofern sie das Gewaltschutzgesetz nutzen und die Gerichtsbarkeit ihren Anträgen nachkommt. Gleichzeitig bestanden Bedenken, dass von außen hohe Erwartungen an verletzte Frauen gestellt werden würden, deren Druck sie möglicherweise nicht standhalten könnten: dem Druck, rasch gegen ihren Partner vor Gericht zu ziehen und damit Anforderungen meistern zu sollen, die nicht immer in ihrem Interesse liegen und für die sie nicht unbedingt gerüstet sind. Der Platzverweis – so die Argumentation – kann für eine Gruppe gewaltbetroffener Frauen sehr gewinnbringend sein; für andere, insbesondere hoch gefährdete, ressourcenarme oder traumatisierte Frauen, ist sein Potential an Schutz und Unterstützung zu schwach, um ihnen einen Weg aus der Gewalt zu bieten. Der Ruf nach zeitnaher Beratung für Opfer im Platzverweisverfahren wurde von Seiten der Frauenhausbewegung gestellt, wohl wissend, dass hierdurch der Druck nicht genommen, allenfalls gemindert werden kann.
Das dieser Forschungsarbeit zugrunde liegende Interesse basiert zudem auf beruflichen Erfahrungen in den Feldern Forschung und Praxisbegleitung in den Anfängen des Platzverweisverfahrens. Im Jahr 2002 wurde ich von der Poli zeidirektion Waiblingen mit einer Untersuchung des Bedarfs an Hilfe für Frauen im Rems-Murr-Kreis, zu deren Schutz ein Platzverweis ausgesprochen wurde, beauftragt (vgl.: Lehmann 2004). Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wurde im Landkreis ein Beratungsmodell für Opfer häuslicher Gewalt entworfen, mit dessen fachlicher Begleitung ich in den Jahren 2005 – 2009 betraut war. Hierbei stieß ich auf einige Irritationen meinerseits, welche Ausgangspunkt für diese Forschungsarbeit waren: So irritierte mich insbesondere die deutlich unterschiedliche Quote von ausgesprochenen Platzverweisen bei Einsätzen häuslicher Gewalt in den einzelnen Polizeirevieren des Rems-Murr-Kreises. [1]
Anfängliche Vermutungen wie regionale Startschwierigkeiten, fehlende Routine und Rechtsunsicherheit aufgrund einer fehlenden speziellen Gesetzgebung im Polizeigesetz musste ich im Laufe der Zeit jedoch immer stärker in Zweifel ziehen, denn die Diskrepanz an Fallzahlen hielt und hält sich hartnäckig. Hier stellte sich die Frage nach inoffiziellen Kriterien, die dem Ausspruch eines Platzverweises zugrunde gelegt werden.
Eine zweite Irritation betraf die unterschiedliche Dauer von Beratung für Opfer im Zuge eines Platzverweises innerhalb der Opferberatung im Landkreis. So wurden bei einzelnen Beraterinnen in der jährlichen Statistik vornehmlich einmalige Beratungsgespräche, bei anderen häufig länger währende Beratungsverläufe vermerkt. Hilfe durch Beratung wurde großteils nicht in dem von mir angenommenen Ausmaß genutzt, und es stellte sich mir die Frage nach dem Warum: Welche Haltungen in der Beratungspraxis lassen Frauen auf eine Fortsetzung von Beratung verzichten, welche ermutigen sie, Beratung längerfristig in Anspruch zu nehmen? Ist der Unterstützungsbedarf im Allgemeinen weniger hoch als von mir vorab vermutet? Gilt es das eigene Vor-Wissen zu korrigieren oder die Beratungspraxis zu überprüfen?
Mein Forschungsinteresse vor diesem Erfahrungshintergrund richtete sich somit zum einen auf die professionelle Praxis der handelnden Institutionen im Platzverweisverfahren: Zum Zweiten stellte sich mir die Frage, wie gewaltbetroffene Frauen den Platzverweis und das professionelle Handeln erleben. Und abschließend: Wo finden sich in diesen beiden Sichtweisen auf den Platzverweis und seine Intention, häusliche Gewalt zu beenden, Übereinstimmungen bzw. Divergenzen?
Aufbau der Arbeit
Im Anschluss an dieses einleitende Kapitel greift Kapitel 2 den aktuellen Forschungsstand zu „Häuslicher Gewalt gegen Frauen“ auf. Hier werden zentrale Erkenntnissen über Formen, Einflussfaktoren und Folgen häuslicher Gewalt sowie über Bewältigungsversuche von Frauen dargelegt. Darüber hinaus werden Ergebnisse der baden-württembergischen Studie „Platzverweis – Beratung und Hilfen“ dargelegt. Kapitel 3 erörtert die Fragestellung der Untersuchung und legt die gewählten Forschungsmethoden sowie die Vorgehensweise der Untersuchung dar. Das polizeiliche Handeln steht im Mittelpunkt von Kapitel 4. Zu Beginn steht eine theoretische Einführung in die Organisation Polizei, in die für den Platzverweis relevanten Rechtsgrundlagen sowie in die Kultur der Polizei. Im zweiten Abschnitt des Kapitels werden die Ergebnisse der Befragung des Polizeivollzugsdienstes abgebildet. Darauf folgen im dritten Abschnitt die Ergebnisse der Befragung der Verwaltungsfachkräfte auf den Ortspolizeibehörden. Die Beratung für Opfer nach einem Platzverweis wird im Kapitel 5 dargestellt. Auch dieses Kapitel beginnt mit einer theoretischen Einführung in die Entstehung und die allgemeinen Grundlagen der neuen Beratungspraxis. Im folgenden Abschnitt wird das spezielle Beratungsangebot vorgestellt, auf das sich die Untersuchung in diesem Feld bezieht. Anschließend folgt die Darstellung der Ergebnisse der Befragung der Beraterinnen. Bei allen drei Berufsfeldern wird in der Auswertung der Blick der Expert/innen auf den Platzverweis, auf ihr professionelles Handeln sowie auf ihren Kontakt zu den Frauen gerichtet. Abschließend werden Handlungsorientierungen herausgearbeitet. Kapitel 6 wendet sich nun der Perspektive der Frauen zu. Es beschreibt das professionelle Handeln von Polizeivollzugsdienst, Ortspolizeibehörde und Beratung aus der Sicht der Betroffenen. In Kapitel 7 werden die Perspektiven auf den Platzverweis und das professionelle Handeln der Expert/innen sowie der Frauen zusammengeführt.
- [1] als auch darüber hinaus in den unterschiedlichen Polizeidirektionen Baden-Württembergs (vgl.: Stellungnahme des Innenministeriums Baden-Württemberg zur Anfrage der FDP/DVU zur Umsetzung des Platzverweises in den Landkreisen vom 23.12.2005.