Frauen mit Migrationshintergrund – eine besondere Risikogruppe?

Migrant/innen in Deutschland sind keine homogene Gruppe. Wie deutsche Frauen unterscheiden sie sich hinsichtlich aller denkbaren biographischen und soziostrukturellen Faktoren zuzüglich der unterschiedlichen Migrationsgeschichte ihrer Familie und der sich daraus ergebenden Form des Aufenthaltsstatus sowie des Grades ihrer erworbenen Deutschkenntnisse. Regelmäßig wird in der gesellschaftspolitischen Diskussion die Frage nach einer kulturell bedingten erhöhten Gewaltbereitschaft bei männlichen Zuwanderern, insbesondere aus islamischen Ländern, aufgegriffen. In Hinblick auf häusliche Gewalt fällt der Blick dabei auf möglicherweise kulturell ausgebildete Männlichkeitsbilder, welche Dominanz und Gewalt gegenüber Frauen legitimieren. Migrantinnen stellen in der von der Frauenhauskoordinierung e.V. jährlich herausgegebenen Statistik ca. die Hälfte der Bewohnerinnen von Frauenhäusern, was jedoch zunächst weniger eine Aussage über ein erhöhtes Ausmaß an Betroffenheit als vielmehr eine Aussage über mangelnde anderweitige Ressourcen ist. Nichtdeutsche Tatverdächtigte von Gewaltdelikten im Allgemeinen sind jedoch entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil in der polizeilichen Kriminalstatistik überproportional vertreten (vgl.: polizeiliche Kriminalstatistik 2010 des LKA Baden-Württemberg).

Weil es „die“ Migrantin nicht gibt, untersuchte die deutsche Prävalenzstudie die Gewaltbetroffenheit von Frauen aus jenen Ethnien, welche derzeit in Deutschland quantitativ am stärksten vertreten sind: Frauen mit einem türkischen Migrationshintergrund sowie Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion. In einer vergleichenden Sekundäranalyse konnte zudem der Zusammenhang zwischen Gesundheit, Gewalt und Migrationshintergrund vertieft werden (vgl.: Schröttle/Khelaifat 2007). Als Ergebnis ist zunächst die hohe Betroffenheit von häuslicher Gewalt von Frauen mit türkischem Migrationshintergrund festzuhalten: sie weisen mit 37 % eine signifikant höhere Gewaltbetroffenheit im Vergleich zu deutschen Frauen und jener aus der ehemaligen SU aus. Außerdem zeigte sich, dass sie auch häufiger unter schwereren Ausprägungen häuslicher Gewalt leiden. Die psychische Gewaltbetroffenheit, welche auch eine Erhebung des Dominanz und Machtgebarens des Mannes darstellt, wurde durch einen Fragenkatalog zu verschiedenen Verhaltensaspekten des Partners, wie Kontrolle, verbale Aggression, Unterdrückung, Einschüchterung u. a. ermittelt. Auch hier lag die Gewaltbetroffenheit türkischer Migrantinnen wieder mit 37 % deutlich höher als die der deutschen Vergleichsgruppe (16 %). Die Betroffenheit der Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion fiel mit 30 % ebenfalls erhöht aus (vgl.: Schröttle/Khelaifat 2007: 64ff).

Mehrere gewaltbegünstigende Einflussfaktoren traten in Erscheinung: Die türkischstämmigen Frauen befanden sich häufiger in einer schwierigen sozialen Lage, geprägt durch eine geringe Ausbildung, fehlende Erwerbstätigkeit, ein niedriges Haushaltseinkommen und einem Mangel an vertrauensvollen sozialen Beziehungen. Es zeigte sich zudem, dass sie in einem hohen Ausmaß in der Kindheit Zeuginnen von häuslicher Gewalt wurden. Beide Faktoren stehen in Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko, Opfer häuslicher Gewalt zu werden. Die hohe Rate an Gewaltbetroffenheit türkischer Frauen führen Schröttle und Khelaifat weniger auf den Migrationshintergrund als vielmehr auf eine ressourcenarme soziale Lage zurück, welche ihnen eine Lösung aus der Partnerschaft erschwere (vgl.: a. a. O.: 65). Die Autorinnen unterstreichen als Ergebnis ihrer Studie die Bedeutung einer schulischen und beruflichen Förderung von Frauen im Allgemeinen, von Einwanderinnen jedoch im Besonderen. Zur Verbesserung der Situation von Migrantinnen in Deutschland – so ihr Fazit – gehören Gesundheitsförderung, Gewaltprävention, soziale Integration und berufliche Förderung untrennbar zusammen (vgl.: a. a. O.: 90).

Hinsichtlich der höheren Gewaltbetroffenheit eines Teils von Migrantinnen dürften jedoch zusätzlich einige weitere stärker kulturund migrationstypische Aspekte dennoch eine Rolle spielen. Ohne ausreichende Deutschkenntnisse wird die soziale und berufliche Integration nicht gut gelingen, was sich wiederum negativ auf die soziale Lage der Familie auswirken kann. Auch stehen Sprachprobleme gewaltbetroffenen Migrantinnen dabei im Wege, an Informationen und Unterstützung zu gelangen, denn das Angebot an muttersprachlicher Hilfe ist in Deutschland eher begrenzt. Zudem kann ein eheabhängiger Aufenthaltsstatus Frauen zwingen, länger als gewollt bei ihrem gewalttätigen Partner auszuharren. Nicht zuletzt kann eine hohe kulturelle Bedeutung von Familie und ihres Zusammenhalts für Migrantinnen aus islamischen und osteuropäischen Kulturkreisen die Notwendigkeit zur Aufrechterhaltung einer gewaltbelasteten Ehe bedeuten. Helfferich betont, dass nicht die Gewalt gegen Frauen ein kulturspezifisches Element darstelle, sondern vielmehr der hohe Wert der Familie, welche oft in ein größeres, über nationale Grenzen hinweg wirkendes Verwandtschaftsnetz eingebunden ist. Eine Trennung würde für manche Migrantin den Verlust vieler enger Verwandtschaftsbeziehungen sowohl für sich selbst als auch für die Kinder bedeuten (vgl.: Helfferich 2004: 17ff).

Schröttle warnt in Bezug auf Gewalt und Migration sowohl vor Polarisierungen und Skandalisierungen als auch vor Verharmlosungen von bestehenden Problemlagen (vgl.: Schröttle 2006: 11). Trotz der erhöhten Vulnerabilität gilt in Bezug auf die in Deutschland lebenden Frauen mit türkischem Migrationshintergrund, dass die Mehrheit gewaltfrei lebt, über einen Schulabschluss verfügt und nicht auf finanzielle Unterstützung des Staates angewiesen ist.

 
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