Die Auslegung des Arbeitsauftrags der Ortspolizeibehörde im Platzverweisverfahren

Die Verwaltungsfachkräfte beschrieben in den Interviews ihren gesetzgeberischen Auftrag: Es ist in Platzverweisfällen die aktuelle Gefährdungslage zu prüfen, auf deren abschließender Prognose der Platzverweis als Maßnahme der Gefahrenabwehr fortgeführt bzw. beendet wird. Zwei Aspekte wurden diesbezüglich hauptsächlich diskutiert: erstens der Zeitdruck, in dem gehandelt und entschieden werden muss, und zweitens die Reichweite und Gestaltung ihres Auftrags.

Die Erzählungen zum Aspekt Zeitdruck verdeutlichen, dass die Expert/innen sich teilweise gezwungen fühlen, eine Entscheidung auf Grundlage einer ihres Erachtens ungenügenden Informationsbasis zu treffen. So beschrieb einer der Befragten, dass ihm durch die Dringlichkeit der anstehenden Entscheidung eine gründliche Beschäftigung mit dem Fall unmöglich sei. Für seine Entscheidung kann er keine weiteren Nachforschungen einholen und sich kein Bild vom Ort der Verweisung machen. Letzteres wäre seines Erachtens notwendig, um die Örtlichkeit, auf die sich das Betretungsverbot bezieht, „realistisch“ (OPB 5, Abs. 149) abzustecken. Erkennbar wird in diesen Ausführungen, dass sie ihren Auftrag mit einer hohen Verantwortung verbunden sehen.

Inwiefern sich das Handeln der Ortspolizeibehörde auf die Kernaufgabe Gefahrenabwehr beschränken oder weitere Aspekte einbeziehen sollte, wurde von den Interviewten äußerst kontrovers diskutiert. So plädierten insbesondere zwei der Verwaltungsfachkräfte dafür, dass die Aufgabe der Gefahrenabwehr von einer weiteren Intervention begleitet werden sollte. Es gilt ihres Erachtens, nicht nur die Berechtigung eines Platzverweises zu prüfen, sondern auch Veränderungen anzustoßen. Eingehende Meldungen vorläufiger Platzverweise sollten nach Ansicht dieser beiden Befragten nicht rein formal abgearbeitet werden. Notwendig sei vielmehr, „dass man ein bisschen tiefer einsteigt“ (OPB 4, Abs.

44) bzw. einen „persönlichen Blick auf die Verhältnisse“ (OPB 1, Abs. 54) legt, um den Beteiligten Handlungsempfehlungen zu geben. Dieser Zielformulierung einer präventiven einzelfallbezogenen Handlungspraxis liegen zwei unterschiedliche Intentionen zugrunde: Die eine Befragte möchte einen pädagogischen Impuls an die Beteiligten richten. Ihr obliegt die Leitung einer Ortspolizeibehörde. Sie berichtete, sich zukünftig für eine veränderte Verfahrenspraxis in ihrer Behörde einsetzen zu wollen, welche Änderungsprozesse bei den Beteiligten anzustoßen versucht:

„Platzverweise kommen zwischenrein zwischen Fälle, die abzuarbeiten sind. Dann ist es schon verständlich, dass man es auch als Verwaltungsakt [behandelt, Anm. Verf.], den man jetzt zügig als Vorgang abarbeiten muss, damit ich nicht in Verzug gerate. (...) Da ist auch meine Intention, mit der ich auch auf meine Mitarbeiter zugehen werde, trotzdem auch wenn

wir keine Sozialarbeiter sind, auch wenn es schnell gehen muss, (...) zu versuchen da noch ein bisschen eine konkretere Blickweise auf den speziellen Sachverhalt zu kriegen. Also nicht nur: okay es ist ein Verwaltungsakt Platzverweis, ich brauch die und die Voraussetzungen, wenn die vorliegen kann ich das und das machen, sondern trotz der Situation ein bisschen einen persönlicheren Blick auf die Verhältnisse zu werfen um vielleicht noch einfach mit der Intention oder der Idee noch in irgendeine Richtung vielleicht auch einen Schub zu geben. Einfach von dem her was man erkennt. Ich weiß das ist schwierig das so in einen Verwaltungsalltag, in dem jeden Tag so viele Entscheidungen und Verwaltungsakte getroffen werden müssen, dann in soo einem speziellen Thema, in dem so ein starker Eingriff in so persönliche Dinge vorliegt, da dann noch den Blick ein bisschen dann doch zu konkretisieren.“ (OPB 1, Abs. 54)

Diese Befragte will sich dafür einsetzen, dass ihre Mitarbeiter/innen nicht nur die notwendigen Voraussetzungen für einen Platzverweis prüfen. Sie sollen vielmehr ihren Blick „konkretisieren“. Interpretierend kann dies bedeuten, dass ihre Mitarbeiter/innen die Eigenheiten eines Falles häuslicher Gewalt, individuelle Hintergründe sowie Zusammenhänge erfassen sollen. Diese Erkenntnisse gilt es gegenüber den Beteiligten zu kommunizieren, um hierdurch einen „Schub“ in Richtung Veränderung zu leisten. Gleichzeitig benennt sie mehrere Aspekte, die ihrem Wunsch nach einer einzelfallbezogenen Handlungspraxis entgegenstehen: der volle Arbeitsalltag, der Zeitmangel, der Handlungsdruck, die fehlende sozialpädagogische Kompetenz sowie das sehr „spezielle Thema“ der häuslichen Gewalt. Mehr als eine kleine Anregung, so lässt sich interpretieren, ist nicht möglich, diese sollte ihres Erachtens jedoch nicht unterlassen werden.

Der zweite Befürworter der intensiveren Bearbeitung der Fälle geht noch weiter: Er legt grundsätzlich Wert darauf, mit Opfer wie Täter in ein „Vertrauensverhältnis“ (OPB 4, Abs. 44) zu treten. Er bewertet es als eine Entlastung für die Beteiligten, wenn sie sich aussprechen können, und lehnt es ab, Platzverweisfälle nach dem „Schema F“ (OPB 4, Abs. 52) abzuarbeiten. Er nimmt sich in den Einzelgesprächen mit den Beteiligten Zeit, versucht sich in die Menschen „hineinzuversetzen“ und ihnen zu „helfen“ (OPB 4, Abs. 112). Sein Bestreben ist, das Erleben von Opfer wie Täter zu verstehen. Eine Betrachtung seiner Fallbeschreibungen im Interview verdeutlichen, dass er unter einer helfenden Intervention eine Arbeitspraxis versteht, bei der das Ergebnis seiner Entscheidung für Opfer und Täter eine möglichst deeskalierende Wirkung und eine Chance zur Milderung der Konflikte beinhalten soll. Durch tiefere Einblicke in einen Fall ist es ihm seiner Beschreibung entsprechend gelegentlich möglich, „pragmatische“ Lösungen für die Beteiligten zu finden, welche ein „förmliches Verfahren mit Zustellungsurkunde und Pipapo“ (OPB 4, Abs. 4) – also den Platzverweis – unnötig machen. Insbesondere in Fällen, in denen er den Eindruck gewinnt, dass

„die Chance besteht, dass die Beziehung zu retten ist“ (OPB 4, Abs. 78), bevorzugt er einen Verzicht auf die Fortsetzung des Platzverweises. Dies kann seiner Darstellung nach jedoch nur dann der Fall sein, wenn der Vorfall ausschließlich verbale Angriffe oder leichte Gewaltformen umfasst und eine akute Gefährdung so ihm diese Einschätzung möglich ist – ausgeschlossen werden kann.

Dieser Befragte prüft, ob möglicherweise die polizeiliche Maßnahme Platzverweis durch andere, seines Erachtens günstigere Lösungen ersetzt werden kann. Hier kann man prinzipiell auf eine subjektive Sicht schließen, nach der individuelle Lösungen als hilfreicher erachtet werden als polizeirechtliche Maßnahmen – sofern die Gewalt nicht eine bestimmte Schwere erreicht hat. Diese Konstruktion beinhaltet zusätzlich den Gedanken, dass sich ein behördliches Verfahren von außen aufdrängt, denkbar potentielle eigene Bewältigungsmöglichkeiten der Partner untergräbt und den Konflikt, der zur Gewalt führte, eher noch verschärfen könnte. In der Praxis bedeutet diese Sichtweise, dass neben einer Gefahrenprognose auch eine zumindest vage Einschätzung der Beziehung erstellt wird. Für den Befragten stellt sich die Frage, ob eine Partnerschaft nach dem Gewaltvorfall noch Chancen hat und mit welchen Verfahrensweisen, Absprachen, und Empfehlungen diese unterstützt werden können.

Deutlich wird in den Ausführungen dieser beiden Interviewten, dass sie ihren Auftrag nicht allein auf die Abwehr einer akuten Gefährdungslage beschränken. Sie möchten den Beteiligten Lösungswege aufzeigen oder zumindest Denkanstöße mitgeben, mit deren Hilfe die mit der häuslichen Gewalt verbundenen Probleme möglicherweise beseitigt werden könnten. Die Konstruktion, dass häusliche Gewalt sich fortsetzt, wenn Beteiligte von außen keine Impulse zur Förderung einer Veränderung ihres Verhaltens erhalten, liegt dieser Intention zugrunde. Die Notwendigkeit psycho-sozialer Beratung für Opfer und Täter wird für sie durch diese erweiterte Handlungspraxis nicht in Frage gestellt.

Neben diesen beiden Interviewpartner/innen steht die Meinung einer anderen Befragten. Sie warnte vor einem zu großem Engagement und betonte, dass dies nicht Aufgabe der Ortspolizeibehörde sei. Verwaltungsfachkräfte – so ihre Argumentation – sind für psycho-soziale Hilfen nicht ausgebildet:

„Da sollte man auch nicht zu sehr denn da reingehen, weil das ist – das können wir auch nicht leisten, wir sind nicht ausgebildet dafür einfach, das muss man auch so sehen. Und hinterher läuft man dann sonst Gefahr, dass man da vielleicht Hoffnungen weckt, die man nicht erfüllen kann beim Täter als auch beim Opfer, und das darf nicht sein, es muss professionell sein.“ (OPB 2, Abs. 21)

Professionalität verbindet diese Befragte mit der Konzentration auf ihren Auftrag. Eine formalistische Vorgehensweise schützt sie ihrer Aussage nach vor möglichen Erwartungen der Beteiligten, denen sie letztendlich nicht nachkommen kann. Sie selbst beschrieb zwar an anderer Stelle im Interview eine persönliche Neugier, hinter die Verstrickungen von Menschen in Beziehungen zu schauen, wehrt diese Impulse jedoch ab. Um Menschen „Handlungsanleitungen“ (OPB 2, Abs. 57) für ihr Leben geben zu können, bedarf es ihres Erachtens einerspeziellen Ausbildung. Besitzt man diese nicht, besteht die Gefahr vieles „falsch“ (OPB 2, Abs. 57) zu machen. Als von hoher Bedeutung betrachtet sie stattdessen die Weitervermittlung der Beteiligten in Beratungsangebote und eine enge Vernetzung der Institutionen im Platzverweisverfahren. Lebenserfahrung und ein gesunder Menschenverstand allein reichen ihrer Ansicht nach nicht aus, um pädagogisch wirkungsvoll zu intervenieren.

Wieder ein anderer Interviewpartner sprach davon, als Mitarbeiter der Ortspolizeibehörde mit der „psychologischen Schiene“ (OPB 5, Abs. 91) überfordert zu sein. Eine direkte Verzahnung der Gespräche mit den Beteiligten auf dem Amt und einer psycho-sozialen Beratung wäre seines Erachtens ideal:

„Manchmal hab ich auch gedacht, ob wir nicht als sagen wir mal als Beamte des gehobenen, nicht technischen Dienstes damit nicht vielleicht sogar, was die soziale psychologische Schiene betrifft, wir irgendwo überfordert sind, uns in solche Fälle hineinzuversetzen, und ob es da nicht besser wäre, wenn in dem Moment, wenn man mit den Beteiligten dieses Gespräch führt, schon jemand dazuholen sollte. Vielleicht gerade die Person, die später dann auch die Beratung machen würde. (...) Weil, dann könnten wir uns in dem Sinn als Ortspolizeibehörde ausklinken, wenn der rechtliche Teil erledigt ist und sagen, „so – jetzt lassen wir euch allein oder geht jetzt ins Nebenzimmer, jetzt könnt ihr über die persönlichen Dinge reden“ wenn ´s gewünscht wird.“ (OPB 5, Abs. 91-95)

In diesem Zitat wird deutlich, dass in einer Anhörung von Täter und Opfer auf der Ortspolizeibehörde das innere Erleben zur Sprache kommt – und zwar ganz unabhängig von der Intention der Professionellen. Nicht selten erhalten diese Expert/innen in den Anhörungen der Beteiligten Kenntnis von persönlicher Not, unabhängig davon, ob sie hierfür einen Erzählraum anbieten wollen oder nicht. Die Beamt/innen können sich diesen Aspekten nicht vollständig entziehen und geraten geradezu zwangsläufig in eine Situation der Überforderung. Der obig zitierte Interviewpartner sieht ein „Hineinversetzen“ in diese „persönlichen Dinge“, ein gewisses Verstehen und Nachvollziehen gefordert. Eine Reaktion auf emotionale Inhalte in der direkten Situation einer Anhörung erscheint ihm unumgänglich, er kann sich nicht „ausklinken“. Eine rein formalistische Bearbeitungspraxis ist seiner Auffassung entsprechend gar nicht möglich.

Angesichts der unterschiedlichen Auslegung des Arbeitsauftrages wurden von den Interviewten unterschiedliche notwendige Kompetenzen für das professionelle Handeln hervorgehoben: Der Befragte, der besonderen Wert auf die Herstellung eines vertrauensvollen Kontakt legt und versucht, möglicherweise andere Lösungen anstelle polizeilicher Maßnahmen zu finden, benennt als wichtige Voraussetzungen für diese Arbeit „Menschenkenntnis“ (OPB 4, Abs. 4) und „Einfühlungsvermögen“ (OPB 4, Abs. 52). Dagegen betonte eine andere die Bedeutung der Fähigkeit, sich abzugrenzen:

„Ich betone auch immer: ICH berate Nicht. Ich kläre diesen Sachverhalt, weil ich würde mir nie zutrauen, eine Beratung durchzuführen, da bin ich der falsche Ansprechpartner.“ (OPB 3, Abs. 37)

Nicht nur diese Juristin, sondern alle Interviewpartner/innen beschäftigten sich im Interview mit der Abgrenzung ihrer behördlichen Intervention von psychosozialer Beratung. Diese Ausführungen lassen darauf schließen, dass sie einen Bedarf an Anteilnahme und Unterstützung bei den Beteiligten wahrnehmen. Sie machen die Erfahrung, dass manche Beteiligte sie als Gesprächspartner betrachten und sich Verständnis, Rat und Hilfe von Seiten des Amtes erhoffen. Sie lassen auch erkennen, dass die Verpflichtung zur Anhörung und die Aufforderung zur Stellungnahme diese Hoffnung möglicherweise noch verstärken kann. Den Aussagen zufolge vertritt ein Teil der Befragten die Ansicht, dass die Ortspolizeibehörde solchen Wünschen nicht nachkommen darf und auf die Beratungsangebote weiterverweisen muss. Wie oben bereits ausgeführt, findet sich jedoch auch in den Interviews die Auffassung, dass persönliche Aspekte nicht ignoriert werden können: stehen sie einmal im Raum bedarf es einer angemessenen Reaktion. Außerdem wurde auch die Meinung vertreten, dass genau hier eine präventive Intervention ansetzen kann.

In diesen kontroversen Standpunkten – die Interviewpartner/innen wussten zum Teil von den unterschiedlichen Auffassungen ihrer Kolleg/innen – spiegelt sich auch die zum Zeitpunkt der Befragung hierzulande kontroverse Debatte über mögliche problematische Auftragsüberschreitungen der Ortspolizeibehörde wider. Von Seiten der Opferberatung wurde in den Vernetzungsgremien im Landkreis die kritische Einschätzung geäußert, Mitarbeiter/innen der Ortspolizeibehörden wagten sich zu weit in beratendes Handeln hinein, wozu ihnen die angemessene Qualifikation fehle. Auch wurde die Befürchtung geäußert, dass diese „Beratung“ auf dem Amt der Opferberatungseinrichtung den Zugang zu den Frauen erschwere: Weil sich die Frauen schon auf der Ortspolizeibehörde aussprechen konnten, Rat und Informationen bekamen, bestünde kein weiterer Bedarf mehr und das Angebot der pro-aktiven Opferberatung würde abgelehnt. Mit dieser Kritik, welche von ihnen eine Positionierung erforderte, sahen sich die Interviewpartner/innen zum Zeitpunkt der Befragung konfrontiert.

 
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