Beratung – Darstellung der Untersuchungsergebnisse
Dieses Kapitel wendet sich nun den Ergebnissen der Auswertung der qualitativen Befragung der fünf Beraterinnen der Opferberatung im Rems-Murr-Kreis zu.
Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen die Erfahrungen und Einschätzungen der Expertinnen mit der Kontaktaufnahme, der Beratungsbeziehung, den wesentlichen Inhalten und Handlungsformen in der Opferberatung sowie ihre Sicht auf schwierige Beratungsprozesse. Dargestellt werden weiterhin die Erkenntnisse jener beiden Beraterinnen, welche ein Gruppenangebot für Frauen durchführten. Abschließend werden unterschiedliche Beratungsverläufe sowie die Handlungsorientierungen in der Beratung herausgearbeitet.
Das Startsignal Platzverweis – die Kontaktaufnahme in der Krise
Die Tätigkeit der Opferberatung beginnt mit der Zusendung der Kontaktdaten der Betroffenen durch die Polizei an die zuständige Beratungsstelle. In der Regel erhält sie keinerlei weitere Informationen außer Namen, Anschrift und Telefonnummer der Betroffenen sowie deren schriftliche Zustimmung zur Übermittlung ihrer Personendaten an die Beratungsstelle. Die Frauen selbst werden von der Polizei auf das Beratungsangebot hingewiesen und erhalten einen Flyer mit den wesentlichsten Informationen über das Angebot. Die einwilligenden Frauen wissen – zumindest theoretisch – dass die Beratungsstelle durch die Polizei über den häuslichen Gewaltvorfall informiert ist und mit ihnen in Kontakt treten wird. Um zu verstehen, wie die Kontaktaufnahme der Beraterinnen zu gewaltbetroffenen Frauen gestaltet und bewertet wird, sind sowohl konzeptionelle Grundlagen bedeutsam als auch Realitätskonstruktionen der Beraterinnen über die Situation gewaltbetroffener Frauen nach Wegweisung des Partners. Für alle fünf Beraterinnen bedeutete der pro-aktive Zugang zu Beginn des Projektes
Opferberatung Neuland.
• Die Kontaktaufnahme – pro-aktiv und zeitnah
Die Beraterinnen schätzten die zeitnahe, pro-aktive Kontaktaufnahme der Opferberatung zur Frau nach einem Platzverweis für den Partner als „sinnvoll“ (B 3, Abs. 39, 100; B 5, Abs. 25) und „positiv“ (B 1, Abs. 35; B 2 Abs. 53; B 4, Abs. 35) ein. Diese Bewertung fundiert auf zwei Aspekten: Zum Ersten auf der vorangegangene Erfahrung der Beratungsstellen, dass gewaltbetroffene Frauen nach einem Platzverweis nicht selbst bei den Einrichtungen um Unterstützung anfragen (vgl.: Lehmann 2004). Zwei der Befragten bezeichneten den proaktiven Beratungszugang vor diesem Hintergrund als „nötig“ (B 3, Abs. 39) beziehungsweise als den „einzig mögliche(n)“ (B 5, Abs. 25). Zu warten, bis eine gewaltbetroffene Frau sich bei einer Beratungsstelle selbst meldet, wäre „müßig“ (B 5, Abs. 25).
Zum Zweiten beruhte ihre positive Einschätzung des Zugangs auf ihrer Wahrnehmung der Reaktionen von Frauen auf ihre pro-aktive Kontaktaufnahme. Die Mehrheit der Frauen ist ihrem Eindruck nach „froh“ (B 3, Abs. 39) und „erleichtert“ (B 5, Abs. 25) über die Kontaktaufnahme durch die Beratungsstelle. Diese positive Reaktion der Frauen interpretierten die Interviewten dergestalt, dass angesichts der „enormen Anforderungen“ (B 4, Abs. 57), die während eines Platzverweises an Frauen gestellt werden, sie diesbezüglich nichts tun müssen. Sie müssen sich nicht selbst im vielfältigen Spektrum von Beratungseinrichtungen zurechtfinden, sondern können darauf vertrauen, dass sich eine Beraterin meldet, in deren Aufgabenund Kompetenzbereich häusliche Gewalt liegt. Eine andere geäußerte Interpretation ist die, dass Frauen die pro-aktive Kontaktaufnahme bereits als ein „ECHTES Interesse“ (B 2, Abs. 57) der Beraterin und als „Zuwendung“ (B 4, Abs. 29) und Sorge erleben können. Hier kommt das Vorstellungsbild der Interviewten von einer Lebenswelt gewaltbetroffener Frauen zum Ausdruck, nach der diese nicht unbedingt Aufmerksamkeit, Wertschätzung und Fürsorglichkeit von außen erfahren.
Die Beraterinnen berichteten davon, einen unterschiedlichen Grad an Präsenz und Gewichtung des Beratungsangebots bei den Frauen beim ersten telefonischen Kontakt wahrzunehmen. Einige Interviewte äußerten die Einschätzung, dass beim Gros der Frauen das Wissen über die Opferberatung und deren proaktive Kontaktaufnahme nach Unterzeichnen der Einwilligungserklärung beim Polizeieinsatz in den Hintergrund rückt. Vermutet wird, dass diese Frauen die Information über das Angebot durch die Polizei zur Kenntnis nehmen, die Einwilligungserklärung unterschreiben und das Angebot danach sofort wieder „vergessen“ (B 5, Abs. 5). Sie erklären sich dieses Vergessen damit, dass gewaltbetroffene Frauen viele Informationen aufnehmen müssen und diesbezüglich schwierige Entscheidungen verlangt werden. In diesem Prozess scheint der Blick auf Beratung als ein möglicher Weg zur Bewältigung genau jener Anforderungen (noch) verstellt, und das Beratungsangebot gerät in Vergessenheit. Erfolgt aber der Anruf der Beraterin, ist ihnen das Angebot nach Einschätzung der Interviewten sofort wieder präsent. Bis auf wenige Ausnahmen nehmen sie das Beratungsangebot an. Es wurde auch von Frauen berichtet, die auf den Anruf der Opferberaterin warten. Gab es vereinzelt Verzögerungen in der Interventionskette, und die Kontaktaufnahme der Beraterin konnte nicht sofort, sondern erst einige Tage nach dem Polizeieinsatz erfolgen, wurde von Frauen berichtet, die auf diese Hinausschiebung „fast ungehalten“ (B 4, Abs. 37) reagierten. Hier handelt es sich den Erzählungen der Befragten zufolge um Frauen, welche sich bereits entschieden haben, den Weg der Interventionskette zu gehen. Der Zeitdruck dabei ist ihnen bewusst, und es besteht ein gewisser Ärger darüber, dass das Angebot an Unterstützung nicht rasch erfolgte.
Die Vorstellung der Frauen über das Angebot der Opferberatung geht nach Aussage der Interviewten selten über die Informationen des Faltblatts hinaus. Sie bezieht sich ihrer Wahrnehmung nach darauf, dass die Beraterin sie berät, was sie in ihrer Situation machen kann, welche Hilfen und Handlungsmöglichkeiten es gibt und wie das Platzverweisverfahren verläuft. Mit dem vielfältigen „Spektrum“ (B 4, Abs. 43), von der Möglichkeit konkreter Tipps bis hin zu einer Auseinandersetzung mit dem Gewaltgeschehen, der Partnerschaft, ihrer persönlichen Lebensund Gesundheitssituation im Allgemeinen, rechnen sie nach Einschätzung der Beraterinnen in der Regel nicht. Die Hoffnungen, die an die Opferberatung geknüpft werden, scheinen, wie oben dargelegt, unterschiedlich auszufallen. Zumindest bei den Frauen, die auf den Anruf warten, bestehen Hoffnungen, dass dieses Angebot ihnen weiterhelfen könnte.
Entsprechend der Einschätzung der Beraterinnen gibt es keine Gruppe von Frauen, für die der pro-aktive und zeitnahe Beratungszugang nicht geeignet wäre. Er scheint ihnen für alle gewaltbetroffenen Frauen passend; gleichgültig, ob sie auf den Anruf warten, ihn vergessen haben oder Beratung nachträglich ablehnen. Bei letzteren besteht die Möglichkeit, so die Befragten, das Angebot der Opferberatung noch kurz zu erläutern und der Frau zu signalisieren, dass sie bei Bedarf selbst auf die Beratungsstelle zukommen könne. Der zeitnahe und pro-aktive Zugang wird außerdem aus einem noch ganz anderen Grund als notwendig erachtet. Eine Beraterin beschrieb:
„Also ich glaub schon, dass die Gefahr eines Rückfalls in das alte Muster und die Gefahr ALLes wieder zuzudecken, weil es so unbekannt bedrohlich und so völlig neu ist für die Frauen, also die Gefahr des Rückfalls ist durchaus gegeben. Und pro-aktives, auch im Verlauf pro-aktives Zugehen auf die Frau hindert // auch diese – diese Gefahr, das vorschnell zuzudecken.“ (B 5, Abs. 27)
Diesem Zitat liegt eine Konstruktion von häuslicher Gewalt zugrunde, welche die Gewalt gegen die Frau in ein beständiges Beziehungsmuster einbettet. Beziehungsmuster zeichnen sich demnach dadurch aus, dass man in sie stark eingebunden ist, eine Tendenz zur Aufrechterhaltung besteht und eine Veränderung nur schwer vorstellbar ist. Gewaltbetroffene Frauen sind durch diese bindenden Muster einer fortlaufenden Gefährdung ausgesetzt. Zur Sprache kommt auch die Sicht der Interviewten, dass die Gewalteskalation und die Platzverweisung des Partners die Bindung der Frau in das „alte Muster“ kurzzeitig aufbricht: Sie hat demnach nun die Chance, die Gefährdung zu erkennen, zu bekennen und sich die Frage nach Möglichkeiten der Veränderung ihrer Beziehung oder ihrer Auflösung zu stellen. Für Beratung ist dies ein günstiger Zeitpunkt. Frauen neigen aber im Bild der Beraterin zu einer baldigen Verleugnung der Gewaltproblematik. Sie erklärt dies damit, dass den Frauen der Gedanke an eine Lösung aus Beziehungsmustern als absolut „unbekannt bedrohlich und so völlig neu“ erscheint. Die diesem Zitat zugrunde liegende Konstruktion gewaltbetroffener Frauen zeigt sie als ängstliche Wesen, welche Veränderung als gefährlich wahrnehmen und wenig Zutrauen in die eigene Handlungsmächtigkeit besitzen. Ein wiederholt pro-aktiver Zugang kann Klientinnen nach Einschätzung der Beraterin daran hindern, die Gewaltproblematik „wieder zuzudecken“ und zu verdrängen. Und dies kann auch als Aspekt ihres Verständnisses von Opferberatung gelesen werden: Die Beraterin will durch den zeitnahen, pro-aktiven Zugangsweg der Gefahr der Verdrängung der Gewaltproblematik entgegenarbeiten.
• Die Kontaktaufnahme – sensibel und klientinnenorientiert
Mehrere der Beraterinnen betonten die Notwendigkeit, die pro-aktive Kontaktaufnahme „hell-hörig und sensibel“ (B 4, Abs. 41) zu gestalten. Eine Beraterin versucht beim ersten Telefonkontakt zu erkennen, ob das pro-aktive Beratungsangebot auf eine Frau eher entlastend oder belastend wirkt und ob Befürchtungen oder Barrieren demgegenüber vorhanden sind:
„Also das ist eine gewisse Herausforderung, ja, einerseits ein Angebot zu machen, aber dieses Angebot auch nicht zu forcieren, ja, sondern den Frauen immer dieses Gefühl zu vermitteln, sie bestimmen auch und sie haben (...) auch das Zepter in der Hand. Also mich zur Verfügung zu stellen ohne jetzt Grenzen zu verletzen oder zu zu zu, ich sag mal aufdringlich zu werden. Das darf ´s in keinem Fall.“ (B 4, Abs. 41)
In dieser Passage wird die pro-aktive Kontaktaufnahme als eine „Herausforderung“ an die Beraterin formuliert, die von ihr eine gewisse Feinfühligkeit fordert: Es gilt für sie, ein Angebot zu unterbreiten ohne die Frau zur Inanspruchnahme des Angebots zu drängen. Dass ihr dies als nicht einfach erscheint, weist auf einen schmalen Grat zwischen einer ermutigend vertrauensbildenden und einer zudringlich grenzverletzenden Form der Angebotsunterbreitung hin. Letzteres will sie vermeiden, indem sie der Frau vermittelt, dass es alleinig ihre Entscheidung ist, ob sie Beratung nutzen möchte oder nicht.
Ein weiterer Punkt, der in den Interviews der Beraterinnen als wichtig herausgestrichen wurde, ist die Flexibilität der Kontaktaufnahme und des Beratungsangebots hinsichtlich der Wünsche der Betroffenen. So berichtete eine von ihnen, dass sie die Frau gleich zu Beginn des Telefongesprächs fragt, ob der Anruf gerade gelegen kommt. Flexibilität der Beraterin bei der Vereinbarung eines Beratungstermins hinsichtlich der Tageszeit und des Beratungsortes werden ihrer Erfahrung nach ebenfalls positiv aufgenommen:
„Also ich frage normalerweise immer zuerst, ob ´s grad geht oder ob ich stör, schon das allein, das erleben sie als positiv, dass da jemand das berücksichtigt, und dass ich dann sage „wir können einen Termin ausmachen, wobei ich relativ flexibel bin ob es morgens ist oder nachmittags oder auch mal abends“, und dieses Angebot „ich kann vorbeikommen, aber Sie können auch nach Schorndorf* in neutrale Räume kommen“ als positiv.“ (B 1, Abs. 35)
Dieses Zitat bringt zum Ausdruck, dass gewaltbetroffene Frauen als solche konstruiert werden, die es nicht gewohnt sind, dass ihre Wünsche bei Anderen Berücksichtigung finden könnten. Ihnen ist vertraut, dass sie nicht nach ihrer Befindlichkeit und ihren Bedürfnissen gefragt werden, sondern im Gegenteil, dass über diese hinweggegangen wird. Die Frauen reagieren entsprechend diesem Bild bereits auf kleine Aufmerksamkeiten der Beraterin positiv überrascht.
In diesen Ausführungen hinsichtlich der Gestaltung der Kontaktaufnahme wird zweierlei deutlich: Zum einen lässt sich aus den Beschreibungen der Beraterinnen schließen, dass es nicht selbstverständlich ist, dass Beratung nach Unterzeichnen der Einwilligungserklärung zur Datenübermittlung beim Polizeieinsatz zustande kommt. Die Gestaltung der ersten telefonischen Kontaktaufnahme durch die Beraterin scheint für die Entscheidung der Frau eine zentrale Rolle zu spielen. Der Einschätzung der Beraterinnen nach muss sie pro-aktiv erfolgen, weil vielen Frauen professionelle Hilfen fremd sind und sie der Ermutigung bedürfen, Beratung anzunehmen. Sie muss zudem zeitnah erfolgen, weil direkt nach einem Gewaltvorfall Barrieren durch bindende Beziehungsmuster aufgebrochen sind und damit die Chancen, Wege zu Veränderung einzuschlagen, hoch sind. Und es bedarf dieses Minimums an persönlicher Ansprache, welches in einem Telefonat möglich ist. Die Beraterinnen berichteten, dass Frauen, welchen sie schriftlich ein Beratungsangebot unterbreiten mussten, weil sie telefonisch nicht erreichbar waren, regelmäßig nicht reagierten. Zum Zweiten taucht in den Erzählpassagen der Beraterinnen immer wieder das Thema Achtsamkeit vor den Wünschen und Bedürfnissen der Frauen auf. Die Interviewten betonten mehrfach die Notwendigkeit eines respektvollen und entgegenkommenden Verhaltens und die Gefahr, unbeabsichtigt grenzverletzend oder unachtsam zu handeln. Diese ethischen Prinzipien mögen für Beratung im Allgemeinen selbstverständlich sein, auffällig ist jedoch die Betonung dieser Werte in den Interviews. Sie zeigt eine hohe Sensibilität der Beraterinnen für die Viktimisierung der Klientinnen. Es gilt, in diesem Kontakt unbedingt zu vermeiden, die Frau erneut zur Leidtragenden von Grenzverletzungen werden zu lassen – und seien diese, verglichen mit denen von Gewalt, noch so klein.
• Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme
Schwierigkeiten bei der Kontaktaufnahme ergeben sich den Befragten zufolge nur in seltenen Fällen. Drei problematische Situationen wurden hier genannt: Sie bestehen zum einen bei Frauen mit geringen Deutschkenntnissen, welche dazu führen können, dass sie das Beratungsangebot nicht erfassen. Manche Frauen lösen den Beschreibungen der Interviewten entsprechend das Problem selbst, indem sie eine Person aus ihrem privaten Umfeld zur Übersetzung einbinden. In anderen Fällen versucht die Beraterin durch eine Dolmetscherin den Kontakt herzustellen. Ein zweites Hindernis, einen Kontakt zu der Frau herzustellen, besteht ihrer Beschreibung nach dann, wenn der Mann sich am Telefon meldet und den Kontakt zur Frau verweigert. Die Beraterinnen gaben an, sich gegenüber dem Mann weder als Opferberatung noch allgemein als Beratungsstelle vorzustellen. Gelingt es ihnen nicht, mit der Frau am Telefon zu sprechen, versuchen sie einen Kontakt über die zuständige Polizeidienststelle herzustellen: Erscheint die Frau zur Vernehmung bei der Polizei, kann von dort aus ein Telefonkontakt zur Beraterin hergestellt werden. Die dritte Schwierigkeit besteht dann, wenn die Frau über die angegebene Telefonnummer nicht erreicht werden kann. Auch hier kann die Polizei gelegentlich weiterhelfen, wenn sie weitere Kontaktmöglichkeiten der Frau kennt. In einzelnen Fällen bleibt nur die Möglichkeit eines Anschreibens, welches, wie bereits erwähnt, selten dazu führt, dass ein Kontakt zustande kommt.