Inhalte der Opferberatung

Die Analyse der dem Aspekt der Inhalte zugeordneten Interviewpassagen zeigt, dass es hier zentrale Schwerpunkte gibt, welche in einem prozessartigen Verlauf eng miteinander verbunden sind und fließend ineinander übergehen: das Erzählen über die Gewalt, die Auseinandersetzung mit der Partnerschaft, insbesondere mit der Frage des Bleibens oder Gehens sowie die Erarbeitung von Möglichkeiten, die Frauen für eine Verbesserung ihrer Sicherheit und ihrer Lebenssituation ergreifen können. Darüber wurden weitere Themen benannt, die im Einzelfall ihre Bedeutung erhalten können: die Situation der Kinder, der Gesundheitszustand der Frau, Psychotherapie und eine mögliche finanzielle Notlage während des Platzverweises. Bei diesen letztgenannten steht weniger die Bearbeitung als die Bedarfsermittlung und Weitervermittlung im Vordergrund. Im Folgenden werden die einzelnen Beratungsinhalte, wie sie die Befragten zum Ausdruck brachten, dargestellt:

• „am Anfang nimmt immer erst mal dieses Erzählen einen großen Raum ein“ (B 1, Abs. 63)

Zu Beginn des ersten Beratungsgesprächs werden die Klientinnen eingeladen zu erzählen. Die Beraterinnen berichteten einvernehmlich, dass die große Mehrheit der Frauen diesen Erzählraum „dankbar“ (B 2, Abs. 128) annimmt. Die Klientinnen erzählen von dem aktuellen Gewaltvorfall sowie den Problematiken innerhalb der Beziehung im Allgemeinen und ihrem damit verbundenen emotionalen Erleben. Häufig – so wird berichtet – ziehen die Erzählungen im Verlauf des Gesprächs weite Kreise, beispielsweise zu der Geschichte der Partnerschaft, der Haltung der Herkunftsfamilie zum Partner, zur Situation der Kinder, zu aktuellen Belastungen sowohl im Zusammenhang mit der Gewaltproblematik – als auch unabhängig von dieser – bis hin zu einschneidenden Ereignissen in der Lebensgeschichte der Frau.

Einige Beraterinnen äußerten ihre Einschätzung, dass viele Frauen in der Opferberatung erstmalig über die Gewalt sprechen und/oder hier erstmalig die Erfahrung machen, dass man sie ernst nimmt und ihnen „einfach zuhört ohne irgendwie jetzt irgendwas zu wollen“ (B 1, Abs. 29). In der Opferberatung soll mit diesem Erzählraum der Frau eine Möglichkeit zur eigenen Entlastung eröffnet werden, was der Einschätzung der Befragten zufolge auch gelingt. Außerdem dient er der Beraterin dazu, sich ein Bild über die Lebenssituation, die Wünsche und den Unterstützungsbedarf der Frau zu machen.

• „Die Auseinandersetzung mit der Partnerschaftssituation ist sicher ein Schwerpunktthema“ (B 4, Abs. 51)

Der Aspekt der Auseinandersetzung mit der Partnerschaft nach dem Gewaltvorfall als ein zentraler Inhalt von Beratung wird von allen Beraterinnen hervorgehoben. Im Mittelpunkt steht dabei die zentrale Frage der Auflösung oder Fortsetzung der Partnerschaft angesichts der erlittenen und möglicherweise sich wiederholenden Gewalt. In den Ausführungen hierzu zeigt sich wiederholt die Konstruktion einer Entscheidungssituation: Die Frauen sind durch die Gewalt und den Platzverweis zwangsläufig an einem Punkt angekommen, bei dem sie entscheiden müssen, ob sie weiterhin mit ihrem Mann leben möchten oder nicht. Vor dieser Anforderung gibt es kein Entrinnen, sie können ihr nicht ausweichen. Häusliche Gewalt stellt dieser Konstruktion entsprechend eine Partnerschaft automatisch in Frage. Dahinter verbirgt sich ein Deutungsmuster, nach der Gewalt der Widersacher der Liebe ist. Gewalt zerstört zentrale Fundamente einer Partnerschaft wie Zuneigung, Vertrauen, Respekt. Partnerschaften nach Gewalt vorkommnissen sind schwer beschädigt wenn nicht gar gescheitert, und hieraus gilt es Konsequenzen zu ziehen.

Diese Entscheidungssituation scheint in der Wahrnehmung der Beraterinnen den Frauen bewusst zu sein. ‚Wie geht es weiter?' ist genau jene Frage, mit der viele Klientinnen in die Beratung kommen. Manche Frauen haben entsprechend ihrer Erfahrung auf diese Frage bereits eine Antwort gefunden, andere – und dies scheint die Mehrheit zu sein – sind noch unschlüssig. Bei diesen steht nach Ansicht der Interviewten die Arbeit mit dem „inneren Konflikt und mit der Ambivalenz“ (B 5, Abs. 51) im Vordergrund. Diese Beschreibung spiegelt die Wahrnehmung der Beraterin wieder, dass in vielen Frauen widerstreitende Kräfte wirken. Es gibt sowohl bindende als auch trennende Faktoren. Um ihr bei der Lösung des inneren Konflikts zu helfen, versuchen die Beraterinnen gemeinsam mit der Frau die Beziehungsdynamik zu reflektieren, Beziehungsmuster zu analysieren und die verschiedenen Entscheidungsmöglichkeiten in ihren denkbaren Auswirkungen für die Frau zu beleuchten.

• „dieser finanzielle Aspekt kommt rein“ (B 1, Abs. 63)

In vielen Beratungen wird den Berichten zufolge eine akute finanzielle Mangelsituation der Klientinnen während dem Platzverweis festgestellt und thematisiert. Die Frauen erhalten Unterstützung dabei, kurzfristig an Geld heranzukommen. Neben der reinen Information über finanzielle Hilfen werden bei Bedarf Anträge auf Arbeitslosengeld mit der Frau ausgefüllt, zu den Arbeitsagenturen begleitet oder regionale Stiftungen um materielle Soforthilfe angefragt. Insgesamt gestaltet sich die rasche Mittelbeschaffung aufgrund bürokratischer Strukturen in Behörden und Organisationen relativ schwierig. Bemängelt werden diesbezüglich fehlende Kooperationsbeziehungen zu den Arbeitsagenturen, welche ermöglichen würden, dass den Betroffenen sofort finanzielle Hilfe zuteil wird und ihnen der eine oder andere Gang auf die Behörde erspart bliebe.

• „Kinder sind natürlich auch Thema“ (B 2, Abs. 99)

Die Expertinnen betonten, ihren Blick in der Beratung auch auf die Kinder zu richten, sofern solche in der Familie leben. Im Gespräch wird deren mögliche eigene Gewaltbetroffenheit oder ihre Zeugenschaft an der Gewalt gegen die Mutter angesprochen. Außerdem bringen manche Frauen Schwierigkeiten in der Erziehung in die Beratung ein. Entsprechend der Kooperationsvereinbarungen innerhalb der Interventionskette werden die Frauen über das Angebot von Jugendamt, Erziehungsberatungsstellen und dem speziellen Kinderprojekt zu häuslicher Gewalt im Landkreis informiert und motiviert, diese Hilfen in Anspruch zu nehmen. Wird Frauen empfohlen, das Jugendamt aufzusuchen, berichteten mehrere der Befragten über Befürchtungen der Frauen, dass dieser Kontakt ungünstige Auswirkungen auf ihr Sorgerecht haben könne. Diese Sorgen werden in der Beratung aufgegriffen. Eine der Befragten gab an, in diesen Fällen nachträglich nochmals Kontakt zu der Frau aufzunehmen, um zu erfragen, ob der angeregte Kontakt zum Jugendamt auch zustande kam und wenn ja, welches Ergebnis dieses Gespräch hatte. Dies zeigt die Zweifel der Beraterin, ob ihre Ermutigung ausreichend war, um die Befürchtungen der Frau soweit zu senken, dass sie tatsächlich den Schritt dorthin wagt. Es zeigt auch die Sorge der Beraterin um die mitbetroffenen Kinder und ihre Einschätzung, dass viele Frauen den zukünftigen Schutz ihrer Kinder und die Aufarbeitung deren Belastungen durch die häusliche Gewalt nicht ohne professionelle Hilfe leisten können.

• „...Inhalte sind natürlich auch, dass ich schau, (...) welche Frauen brauchen darüber hinaus noch Psychotherapie?“ (B 5, Abs. 51)

Die Befragten diagnostizieren bei vielen Klientinnen einen Bedarf an Psychotherapie, damit diese ihre Gewalterfahrungen angemessen aufarbeiten und ihr Leben verändern können. Dieser Bedarf wird den Erzählungen zufolge selten von den Frauen selbst in die Beratung eingebracht. Es sind meist die Beraterinnen, die diesen ansprechen. Sie berichteten, dabei sehr „vorsichtig“ und „behutsam“ (B 5, Abs. 55) vorzugehen. Sie möchten vermeiden, dass die Frau den Eindruck erhält, bei ihr wäre „etwas nicht in Ordnung“ (B 5, Abs. 55), und den Rückschluss zieht, eigene psychische Problemlagen wären für die Gewalt verantwortlich. Die Beraterinnen versuchen Motivationsarbeit zu leisten, indem sie Frauen vermitteln, dass Therapie eine Form von Unterstützung bedeutet und sie dort „Rückschau“ (B 5, Abs. 55) über ihr Leben und die Gewaltbeziehung halten können..

• „das ist auch ein Thema: Gesundheit“ (B 2, Abs. 99)

Dieser Aspekt innerhalb der Opferberatung wurde von einer einzelnen Interviewten herausgestellt. Die Klientinnen werden von ihr aktiv nach ihrem Gesundheitszustand sowohl hinsichtlich möglicher Verletzungen durch die Gewalt als auch im Allgemeinen gefragt. Sie sieht es als eine ihrer Aufgaben an, Frauen darin zu stärken, auf ihr körperliches Befinden zu achten und gegebenenfalls medizinische Hilfen in Anspruch zu nehmen. Nicht selten empfiehlt sie ihnen, eine Kur zu beantragen, „...einfach um aus der Situation rauszukommen, um was Nettes zu erleben, um sich selber wahrzunehmen und die Kinder.“ (B 2, Abs. 99). Häusliche Gewalt bindet diesem Bild zufolge die Konzentration der Frau, so dass sie den Blick auf ihre Bedürfnissen und die der Kinder verliert.

 
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