Das Erleben professionellen Handelns – rekonstruiert aus den Erzählungen gewaltbetroffener Frauen
Dieses Kapitel richtet nun den Blick auf die Perspektive von gewaltbetroffenen Frauen, auf ihre Erfahrungen und ihr Erleben des professionellen Handelns von Polizei, Ortspolizeibehörde und Opferberatung. Die Ergebnisse der Sekundärauswertung der Erstund Zweitinterviews von insgesamt 24 Frauen der Untersuchung von Helfferich u. a. werden chronologisch entsprechend der Abfolge im Platzverweisverfahren dargelegt. Im Mittelpunkt der Analyse steht die subjektive Sicht der Frauen auf das professionelle Handeln, so wie sie es zum Zeitpunkt des Interviews ihrer Interviewerin gegenüber vermitteln wollten. Dies bedeutet nicht, dass die erzählten Interventionsverläufe so stattgefunden haben und die von den Frauen wahrgenommenen Handlungsimpulse tatsächlich dergestalt von den Expert/innen so intendiert waren. Die befragten Frauen erlebten das Handeln der Expert/innen, sie deuteten und interpretierten dieses, und das selbstverständlich vor dem Hintergrund ihrer Biografie, ihres subjektiven Verständnisses von sich, ihrer Handlungsmächtigkeit, ihrer Partnerschaft sowie ihrer subjektiven Deutungen der Gewaltproblematik und anderes mehr.
Das Erleben der Schutzpolizei – eine Musterbildung
Aus den Erzählungen der 24 Frauen ließen sich vier exemplarische Muster des Erlebens der polizeilichen Intervention herausarbeiten. Die Musterbildung basiert zum einen auf der Vergleichsdimension des Erlebens des Verlaufs der polizeilichen Intervention mit einem besonderen Fokus auf die Handlungsschritte „ermitteln, entscheiden und aufklären“, welche dem gesetzlichen Auftrag der Polizei, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung, zugrunde liegen. Sie basiert zum Zweiten darauf, welche Ausrichtung des polizeilichen Handelns die Frauen wahrnahmen und wie sie sich das Handeln erklärten. Ein Blick wurde zudem darauf gelegt, inwiefern die Lebenssituation und die Gewalterfahrungen der Frauen in den jeweiligen Mustern Ähnlichkeiten aufweisen.
Konsequent und zugewandt – die polizeiliche Intervention der Fürsorglichkeit
Die acht Frauen (F 1 F 8), die diesem Muster polizeilicher Interventionen zugeordnet werden, beschrieben eine starke, entscheidungssichere Polizei. Das Vorliegen häuslicher Gewalt wurde von den Polizist/innen vor Ort sofort bestätigt, das Bestehen einer weiteren Gefährdung unzweifelhaft diagnostiziert und ein Platzverweis erlassen. Den Erzählungen der Frauen zufolge agierten die Polizeibeamt/innen gegenüber dem Mann streng und konsequent, ihnen gegenüber aber freundlich und hilfsbereit. Es handelte sich bei allen Frauen um den ersten Polizeieinsatz aufgrund häuslicher Gewalt.
Die Frauen dieses Musters waren mehrheitlich mit ihrem Partner verheiratet und lebten in einer traditionellen Familiensituation, in der der Mann seinem Beruf nachgeht und das Einkommen erwirtschaftet und die Frau die Kinder und den Haushalt versorgt. Für die Kinder da zu sein, stellte für die Frauen ein hohes Gut dar. Nur zwei Frauen arbeiteten in ihrem Beruf: die eine überzeugt, auch weil die Kinder zwischenzeitlich junge Erwachsene waren, die zweite gezwungenermaßen und unwillig, da der Mann beruflich gescheitert und arbeitslos war. Die Umkehr der traditionellen Familienrollen stellte für sie den zentralen Konflikt in der Partnerschaft dar.
In der Darstellung der „Vorgeschichte“, die zum Platzverweis führte, findet sich bei allen acht Frauen die Beschreibung einer Verschärfung von Partnerschaftskonflikten, welche in Abhängigkeit der Beziehungsdauer bereits eine gewisse Zeit Bestand hatten: Sie erzählten von Konflikten bezüglich Differenzen in der Erziehung der Kinder oder in Bezug auf das Arrangement der Aufteilung von Erwerbsund Familienarbeit. Mehrheitlich wurde ein gewisses Auseinanderleben des Paares beschrieben, gelegentlich auch Kränkungen durch aufgedeckte Affären des Mannes. Erschwerend hinzu kamen häufig allgemeine Überforderungssituationen durch das Leben mit Kleinkindern sowie ein temporär hoher Alkoholkonsum des Mannes. Zwei Frauen, welche in einer binationalen Partnerschaft mit einem afrikanischen Mann lebten, berichteten über heftige Konflikte hinsichtlich des Verständnisses der Rolle der Frau in der Ehe. Die Konfrontation des Partners mit Trennungserwägungen, Trennungsentschlüssen oder ersten aktiven Handlungen in Richtung Trennung führte ihrer Beschreibung zufolge zu einer Zuspitzung der Konfliktsituation: Der Mann übte erstmals Gewalt oder erstmals schwere Gewalt gegen die Frau aus bzw. drohte diese an. Bei fünf der acht Frauen waren Kinder bei dem Gewaltvorfall anwesend oder selbst gewaltbetroffen.