Stilbruch statt symbolischer Kohärenz
Wie lässt sich der analysierte Stilbruch erklären? Dass Neonazis in punkto Kleidung, Gestaltung von Propagandaelementen, Slogans aber auch Aktionsformen nicht nur auf die Populärkultur zurückgreifen, sondern gezielt Elemente aus der Linken übernehmen, dass sie versuchen Begriffe von rechts neu zu besetzen und so zu vereinnahmen, erinnert an die von den Situationisten als Rekuperation bezeichnete Nutzung ursprünglich subversiver und oppositioneller Codes und Symbole zur Erneuerung der gesellschaftlichen Verhältnisse, gegen die sie sich eigentlich gerichtet hatten (vgl. Franz u. a. 2009: 255).
Zudem waren und sind Kleidung, Symbolik aber auch körperliche Aktionsweisen für Jugendkulturen von zentraler Bedeutung. Sie dienen nicht nur zur Abgrenzung vom Mainstream, sondern verkörpern für die Einzelnen in der Regel auch die szenekonstituierenden Werte. Sie sind diesen in der Regel homolog (vgl. Willis 1981: 238) und können als Abbilder des kollektiven Selbstbilds verstanden werden. Als Beispiel verwiesen Clark et. al. in den 1980er Jahren auf die Skinheads, deren Springerstiefel und radikale Kurzhaarschnitte von diesen als angemessen empfunden wurden, weil sie mit Härte und Männlichkeit genau die erwünschten Eigenschaften signalisierten (vgl. Clarke et.al. 1975).
Wenngleich sich Jugendkulturen auch heute zumeist maßgeblich über Äußerlichkeiten definieren, so sind Zeichen und Symbole nicht mehr unbedingt fest an spezifische Jugendkulturen oder soziale Bewegungen gekoppelt, sondern finden als "Dekorarsenal" (Korff 1997: 25) verschiedener kultureller Milieus oder politischer Lager Verwendung.
Entsprechend weisen Untersuchungen aus dem Feld der Jugendkulturforschung eine postmodernistische Orientierung an Oberfläche und Outfit und eine Entwicklung hin zu Patchwork-Identitäten nach (vgl. Pfaff 2006: 48). Der skizzierte Wandel im Auftreten des Neonazismus kommt damit der Mehrzahl der heutigen Jugendlichen entgegen, verorten sich diese doch in der Regel nicht in einer spezifischen jugendkulturellen Gruppe oder Szene, sondern bedienen sich stattdessen verschiedener jugendkultureller Modetrends (vgl. Willems 2009: 131). Vielfach übernehmen Jugendliche nicht den gesamten Style einer Jugendkultur, wie beispielsweise der Skinheads, sondern greifen vielmehr auf einzelne Stilelemente zurück, um daraus ihre Bedeutungen und Verwendungen zu entwickeln (vgl. Willis 1991: 110 f.), so dass sie heute zum Großteil "jugendkulturelle Grenzgänger" bzw. "part-time-Stylisten" sind (Vollbrecht 1995: 36). Jugendkulturen insgesamt sind durch Imitationen und Revivals viel widersprüchlicher, (binnen-)differenzierter, variantenreicher, flexibler, gemixter und gesampelter geworden (vgl. Ferchhoff 2007: 182 f.). Mag die Übernahme und Adaption eines eher mit der politischen Linken assoziierten Lifestyles und zeitgemäßer Gestaltungsformen durch Neonazis auf den ersten Blick verwundern, so ist sie dementsprechend doch alles andere als atypisch.
Es handelt sich ebenso wie bei der Entwendung von Symbolen auch nicht um ein grundsätzlich neues Phänomen. Bereits in den 1960er und 1970er Jahren bediente sich nicht nur die Mode der sozialen Bewegungen, sondern diese übernahmen durchaus auch Trends aus der kommerziellen Mode (vgl. Denk/Spille 2009: 227). Die Studentenbewegung etwa machte eklektizistisch Gebrauch von symbolischen Formen wie Emblemen, Ritualen oder Slogans und unterstützte gleichzeitig das Entkoppeln von Symbolsystemen von ihren zuvor recht starken Verbindungen zu bestimmten politischen Organisationen, was einen willkürlichen Gebrauch semiotischen Erbes unterstützte und dieses für die Kommerzialisierung öffnete (vgl. Korff 1993: 120). Im Fall sozialer Bewegungen lässt sich mittlerweile grundsätzlich fragen, ob politische Insignien nicht als leitende Symbole durch die Ästhetik von Gebrauchsgegenständen ersetzt worden sind, werden doch beispielsweise Bewegungssymbole häufig in Gebrauchsartikel oder Modeaccessoires verwandelt (vgl. ebd.). Diese wechselseitige Dynamik bei der Herausbildung einer neuen gruppenspezifischen "Distinktionsästhetik" (Korff 1997: 26) ist daher kein neues Phänomen. Tatsächlich nimmt in diesem Prozess der kontinuierlichen Produktion neuer Bedeutungszusammenhänge und der damit verbundenen Übernahme und Integration von ursprünglich subversiven Zeichen und Codes in hegemoniale kulturelle Strömungen das distinktive Potenzial dieser Stilelemente sukzessive ab (vgl. Denk/Spille 2009: 227).
Im Fall des Neonazismus ist auffällig, dass heutzutage die "symbolische Stimmigkeit" (Hebdige 2007: 113) zwischen den politischen Werten und den Inszenierungspraxen oftmals brüchig ist. Dies gilt insbesondere für den individuellen Lifestyle und die Symbolik. Bis in die 1970er Jahre war hier das völkische Kulturverständnis des historischen Nationalsozialismus dominant. Aber auch im Vergleich mit den neo-nazistischen Skinheads der späten 1980er und frühen 1990er Jahre müssen Codes und visuelles Auftreten sich heute weitaus weniger stark homolog zu ihrer Ideologie verhalten, um von großen Teilen des Neonazismus aufgegriffen zu werden. Mit Barthes (1986) gesprochen: Die Gegenstände und Verkörperungen (Signifikanten) müssen nicht mehr notwendigerweise verbunden sein mit der Bedeutung (Signifikat), welche gegenwärtig mit diesen verbunden wird.
Die Folge ist, dass die gewählten Stilelemente zwar dem Selbstverständnis ihrer Protagonisten entsprechen, allerdings teilweise in Widerspruch zu den von ihnen reklamierten ideologischen Kernelementen des Nationalsozialismus stehen. Dies gilt insbesondere für den individuellen Lifestyle.
In Hinblick auf die Aktionsformen zeigt sich jedoch ein anderes Bild, ist die Aneignung linker Inszenierungsformen hier doch stark selektiv: Die von der breiten Bewegung adaptierten Stilelemente müssen – wenn auch nicht unbedingt in jeder Hinsicht mit der NS-Ideologie vereinbar – dennoch immer dem rebellisch militanten Selbstverständnis der Akteure entsprechen. Daher finden sich auch keine Adaptionen von parodistischen Praktiken wie jener der im Rahmen der Proteste gegen den G8-Gipfel 2008 auch in Deutschland in den Medien bekannt gewordenen Clowns Army und auch keine Pink & Silver-Blöcke bzw. Radical Cheerleading, welches das traditionelle Cheerleading mit seinen geschlechtsstereotypen Bildern umgedeutet, für die Propagierung emanzipativer politischer Inhalte verwendet und bei dem sich die AktivistInnen nicht nur in Pink und Silber kleiden, sondern Choreographien einüben und diese auf die Straße tragen. Die Neonazis dagegen bedienen sich mit dem Schwarzen Block einer Aktionspraktik, die Homogenität, Uniformität, Maskulinität und Gewaltbereitschaft vermittelt und damit für die extreme Rechte zentrale Werte verkörpert.
Während dies als moderne Variante nationalsozialistischer Vergemeinschaftung auf der Straße gewertet werden kann, so lässt sich das von hedonistischem Selbstverwirklichungsdrang bestimmte, individualistische Auftreten der Einzelnen schwerlich mit den NS-Prinzipien in Einklang zu bringen. Dies könnte Folgen haben: Bereits heute klagen ältere Neonazis häufig über die mangelnde ideologische Basis und Ernsthaftigkeit jüngerer Aktivisten. Der skizzierte Stilbruch scheint daher zwar einerseits die Mobilisierungsfähigkeit zu stärken, andererseits könnte die mangelnde symbolische Kohärenz langfristig eine Schwächung zur Folge haben.