Die Grenzen des Platzverweises: Von renitenten Männern, inkonsequenten Frauen, starken Bindungsfaktoren und fehlendem Zwang
Betrachtet man die Erzählungen der Expert/innen über jene Fälle, bei denen ihnen das Platzverweisverfahren sinnlos erschien, so wurde insbesondere von drei Paartypen erzählt, bei welchen wiederholt bis regelmäßig Polizeieinsätze aufgrund häuslicher Gewalt notwendig werden: Sie beschrieben Streitpaare, bei denen ihres Erachtens Streit und Gewalt einen festen Bestandteil der Beziehungsdynamik darstellt und eine bindende Funktion erfüllt. Ein anderer Typus bezog sich auf Paare, deren Partnerschaft durch eine Alkoholproblematik, häufig einhergehend mit einer sozialen und finanziellen Armut, geprägt ist. Sucht und soziale Isolation des Paares stellen hier starke Bindungsfaktoren dar. Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen beider Partner werden äußerst gering eingeschätzt. Der dritte Typus umfasste patriarchale Misshandlungsbeziehungen, bei denen die Frau unter der Herrschaft und Tyrannei des Mannes steht und psychisch nicht in der Lage ist, sich aus der Beziehung zu lösen. Die Expert/innen äußerten ihren Eindruck, dass das Platzverweisverfahren in diesen Konstellationen an seine Grenzen gerät. Die Beendigung von Gewalt und eine Verbesserung der Lebenssituation der Frau oder auch des Paares scheinen mit dieser Interventionsstrategie nicht erreichbar.
Für manchen Polizisten werden die wiederholt notwenigen Einsätze zum Ärgernis, denn sie sind gezwungen, beständig zu intervenieren ohne ein Instrument zu besitzen, das die Gewaltproblematik auflösen könnte. Die Befragung ergab, dass sie in diesen regelmäßigen Folgeeinsätzen schon bald Zurückhaltung im Ausspruch eines Platzverweises übten, insbesondere wenn bekannt war, dass dieser in der Vergangenheit nicht eingehalten wurde. Bevorzugt werden nun in Abhängigkeit der Gefahrenlage kurzfristigere polizeiliche Interventionen, wie eine Ingewahrsamnahme, eine strenge Ermahnung, ein streitschlichtendes Gespräch, das Arrangieren einer privaten Übereinkunft über eine kurzzeitige räumliche Trennung oder die Suche nach einem Frauenhausplatz. An die Frauen wird, wie aufgezeigt wurde, zudem appelliert, Verantwortung für die Gewaltbeendigung zu tragen und – wie auch immer – zu handeln. Dass der erstmals ausge sprochene Platzverweis im Sinne einer dauerhaften Gewaltbeendigung nicht funktionierte, wird an ihrem scheinbar inkonsequenten, untätigen oder unterwürfigen Verhalten festgemacht.
Zwei Motive können dem Strategiewechsel zugrunde liegen: zum einen das Motiv Effizienz und Durchsetzbarkeit. Wie dargelegt, muss sich Polizeiarbeit nach der Auffassung der Akteure lohnen, insbesondere eine solch zeitintensive wie der Platzverweis. Wenn Frauen die Chance der Gewaltbeendigung im Zuge eines Platzverweises nicht ergreifen, wird geprüft, ob in Folgeeinsätzen mildere, weniger aufwändige Strategien ausreichen. Als zweites Motiv kann die Wahrung der polizeilichen Autorität eine Rolle spielen: Die Polizist/innen beschrieben es als ärgerlich, wenn Platzverweise nicht eingehalten werden. Eine Ingewahrsamnahme dagegen kann die Polizei per Zwang durchsetzen. Bei jenen milderen Maßnahmen wie die Ermahnung wird keine polizeiliche Anordnung erlassen, bei der die Beteiligten rechtlich zur Einhaltung aufgefordert sind. EinZuwiderhandeln hat rechtlich keine Relevanz und stellt keine Missachtung der polizeilichen Autorität dar. Die Polizei ist nicht auf ein Wohlverhalten der Beteiligten angewiesen, um in ihrer Rolle und Funktion als Hüterin von Recht und Ordnung anerkannt zu werden. [1]
Die Beraterinnen berichteten, dass ihrer Erfahrung nach stark gebundene Frauen mit hoher Gefährdung einer Reviktimisierung selten mehr als ein Beratungsgespräch nutzen. Ein ausgeprägtes Kontrollverhalten des Mannes, ein hohes Maß an Einschüchterung auf Seiten der Frau, Scham oder eine eigene Sucht stehen ihrer Einschätzung entsprechend einem längerfristigen Beratungsprozess entgegen. Bei jenen, die sich auf einen Prozess einließen, gelangten sie gelegentlich zu dem Schluss, dass Beratung diesen Frauen nicht viel geben könne. Manchmal, so erscheint es ihnen, bestünde in einer Fortsetzung der Beratung sogar die Gefahr, ein pathologisches System zu stützen. Die Weitervermittlung in Psychotherapie, Suchtbehandlung – bei Streitpaaren auch in Paarberatung – wird angestrebt. Mit der Weitervermittlung endet in der Regel die spezialisierte Opferberatung.
Wendet man sich nun der Perspektive der Gewaltbetroffenen zu, so werden insbesondere von fünf Frauen Grenzen des Platzverweises thematisiert. Sie beschrieben entweder eine hochstrittige Partnerschaft oder standen in einer ambivalenten Bindung zum Partner. Hinsichtlich der beschriebenen Gewaltdynamik besteht somit eine gewisse Übereinstimmung mit den Beschreibungen der Expert/innen. Die Frauen schauten auf eine mehrjährige schwere Gewaltbeziehung zurück, in der sie sich wiederholt gezwungen sahen, die Polizei einzuschalten. Der Platzverweis bedeutete für sie ihrer Erzählung nach keinen Ausweg aus der Gewalt, allenfalls eine Unterbrechung. Ebenso wenig führten Trennungen, Wohnungszuweisungen, Annäherungsverbote oder Strafanzeigen zur vollständigen Lösung der Beziehung. Im Gegensatz zur Polizei zeichneten sie ein Bild von sich, in dem sie nach einer Phase des Aushaltens, Hoffens und Nachgebens sehr aktiv waren. Jede Frau nutzte zumindest Teile der Interventionskette und berichtete über eine Vielzahl an Bemühungen, die Gewalt und auch die Beziehung zu beenden. Trotz erlassener Strafbefehle und/oder erwirkter gesetzlicher Schutzmaßnahmen konnten sie sich jedoch der massiven Aufdringlichkeit des Mannes nicht erwehren. Zudem waren einige aufgrund gemeinsamer Kinder zum Kontakt verpflichtet. Seine Antwort auf ihre Zurückweisung seiner Liebe oder Bedürftigkeit waren weitere Gewalt und Bedrohung.
Teilweise berichteten sie von einem Nachlassen der Bereitschaft der Polizei, in Folgeeinsätzen auf einen ersten Platzverweis zu ihrem Schutz tätig zu werden. Die Tatsache, dass der Mann sich wieder in ihrer Wohnung befand, wurde ihrer Wahrnehmung nach von der Polizei als eine einvernehmliche Wiederaufnahme der Partnerschaft interpretiert und kritisiert. Die Frauen wiesen dies zurück, sie hatten aber keine Bezeichnung für die Art der Beziehung. Sie verstanden sich sowohl als getrennt als auch durch Mitleid, gemeinsame Elternschaft oder aufenthaltsrechtliche Abhängigkeiten des Mannes gebunden. Der Platzverweis hat Grenzen, weil er ihrem Verständnis nach eine zu schwache Intervention darstellt. Sie wünschten sich ein schärferes Eingreifen bei häuslicher Gewalt, die konsequente Kontrolle des Platzverweises, eine sofort einsetzende konfrontative Täterarbeit, normverdeutlichende Gespräche mit beiden sowie eine schärfere Sanktionierung der Gewaltdelikte. Eine spezialisierte Opferberatung von wenigen Terminen nutzte nur eine dieser Frauen. Sie erlebte sie stärkend hinsichtlich ihrer Trennungsbestrebungen: Sie darf sich trennen, auch wenn dieser Schritt für den Mann eine schwere Krise bedeutet.
Welche Schlussfolgerungen können aus diesen Ergebnissen getroffen werden? Die Ausführungen der Polizei deuten darauf hin, dass der Platzverweis als eine scharfe, wenn nicht die schärfste polizeiliche Intervention gegen einen Täter häuslicher Gewalt erachtet wird. Langfristig gefährdete Frauen dagegen erachten ihn als zu milde gegenüber ihrem renitenten Partner. Die Tendenz der Polizei, im Laufe wiederholter Einsätze eher Zurückhaltung im Eingriffshandeln zu üben und die Gewaltbetroffenen auf ihre Verantwortung hinzuweisen, kann zur Folge haben, dass Frauen sich nicht mehr auf die Hilfe der Polizei verlassen können.
Gerade jene Fälle der Reviktimisierung sowie Hochrisikofälle werden in England sowie Österreich in interinstitutionellen Fallkonferenzen, MARAC – Multi-Agency Risk Assessment Conferences, behandelt. Ziel ist die Stärkung von Schutz und Unterstützung für die Opfer durch aufeinander abgestimmte Maßnahmen von Opferberatung, Täterarbeit, evtl. Fachberatungsstellen, Kinderschutzeinrichtungen, Jugendamt sowie Polizei und Justiz. Eine ausgewiesene Koordination übernimmt das Monitoring über die Durchführung und Wirksamkeit der vereinbarten Maßnahmen. Die Opfer sind in diesen Prozess insofern eingebunden, dass sie ihr Einverständnis für die Einbringung ihres Falles in die Fallkonferenz erteilen, sich von der sie beratenden Opferschutzeinrichtung vertreten lassen und von dieser über die getroffenen Vereinbarungen informiert werden. Verschiedene Evaluationen bescheinigen den in den Fallkonferenzen entwickelten Interventionsstrategien eine hohe gewaltpräventive Wirkung (vgl.: Logar u. a. 2012: 3; Robinson 2006: 761). Interessant ist, wie Rosa Logar u. a. ausführen, dass die Wirksamkeit der in den Fallkonferenzen entwickelten Strategien weniger in der Exklusivität einzelner Maßnahmen besteht, sondern in der konzentrierten Ansprache des Gefährders von Seiten verschiedener Institutionen und Einrichtungen: Gewalt ist inakzeptabel und muss unverzüglich beendet werden (vgl.: Logar u. a. 2012: 6). Fallkonferenzen unter Beteiligung von Polizei, Justiz und Einrichtungen der Sozialen Arbeit werden in Baden-Württemberg in Bezug auf straffällig gewordene oder suchtgefährdete Jugendliche erfolgreich praktiziert, nicht jedoch im Problemfeld der häuslichen Gewalt. Eine Prüfung, inwiefern das baden-württembergische Datenschutzrecht einen Spielraum zum Austausch relevanter personenbezogener Daten zur Förderung der Sicherheit der Opfer zulässt, wäre anzustreben. In einer solchen fallbezogenen interinstitutionellen Zusammenarbeit findet der vielzitierte Slogan „Gemeinsam gegen Häusliche Gewalt“ seine Umsetzung in der Praxis.
- [1] Die Tendenz, in Folgeeinsätzen auf den Ausspruch eines weiteren Platzverweises zu verzichten, spiegelt sich möglicherweise in der Erfahrung der befragten Mitarbeiter/innen der Ortspolizeibehörde wieder: Wie dargelegt, hatten sie kaum ein zweites Mal bei denselben Personen über die Befristung eines weiteren Platzverweises zu entscheiden.