Logik der Geschichte? Der thematische Kontext des Problems
„Gibt es eine Logik der Geschichte?“ Mit dieser einfachen und doch so schwierigen Frage beginnt Oswald Spengler im Jahre 1918 den Untergang des Abendlandes (Spengler 1969, S. 3). Und dieser Kernfrage lässt er dann noch eine ganze Batterie weiterer folgen, welche die wissenschaftliche Herausforderung des Problems erst richtig verdeutlichen: „Gibt es jenseits von allem Zufälligen und Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären, geistig-politischen Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist? Die diese Wirklichkeit geringeren Ranges vielmehr erst hervorruft? Erscheinen die großen Züge der Weltgeschichte dem verstehenden Auge vielleicht immer wieder in einer Gestalt, die Schlüsse zulässt? Und wenn – wo liegen die Grenzen derartiger Folgerungen? […] Liegen, kurz gesagt, allem Historischen allgemeine biographische Urformen zugrunde?“ (Spengler 1969, S. 3).
Spengler selbst beantwortet diese Fragen am Ende mit einem klaren Ja, wie später noch auszuführen sein wird. Hier sollen sie jedoch zunächst auf den thematischen Kontext des Untersuchungsgegenstandes verweisen, der damit zwar nicht im Mittelpunkt des Interesses steht, gleichwohl aber die Erklärungsansätze maßgeblich beeinflusst: Denn wer schon grundsätzlich von der Existenz einer Geschichtslogik ausgeht, wird auch geneigt sein, Aufstieg und Fall des Westens spezifische Entwicklungsgesetzlichkeiten zu unterstellen. Und umgekehrt wird jemand dies wohl in Abrede stellen, wenn er Geschichte als Produkt und Konglomerat evolutorischer Zufälle, mithin als Ereigniskette ohne eigene Logik qualifiziert.
Dieser Disput ist uralt und reicht letztlich bis in die menschliche Frühzeit zurück. In vormoderner Gestalt wird das Postulat einer Geschichtslogik vor allen Dingen in religiös-eschatologischer Form greifbar (Voegelin 1996, S. 11–41). Nicht nur die unterschiedlichen Vorstellungen vom Ende der Weltgeschichte, die etwa im Christentum mit dem Jüngsten Gericht oder im Islam mit der Beschreibung des Paradieses recht konkrete und auch drastische Formen annehmen können, haben diese Sichtweise maßgeblich geprägt, sondern auch Lehren über die verschiedenen Zeitalter irdischer Existenz. Joachim von Fiores Drei-Reiche-Lehre (Reich des Vaters = Zeit des Alten Testaments, Reich des Sohnes = Zeit des Neuen Testaments bis 1260, Reich des Heiligen Geistes = Endzeit), die aus dem 12. Jahrhundert datiert, kann hier als gutes Beispiel dienen, da sie sowohl auf älteren Zeitalter-Konzepten basiert als auch die totalitäre Moderne inspirierte (Ottmann 2004, S. 118–126).
Derlei chiliastische Vorstellungen gingen dann regelmäßig auch mit einem spezifischen Menschenbild einher: Der Einzelne war dieser Lesart gemäß natürlich nicht Herr des eigenen Verfahrens, sondern der göttlichen Logik unterworfen. Das schloss theologische Unterschiede im Detail nicht aus, was die Dispute um die calvinistische Prädestinationsund die lutheranische Rechtfertigungslehre eindrucksvoll belegen: Im Kern ging es also um die Frage, ob der einzelne Gläubige sein Schicksal durch ein gottgefälliges Leben positiv beeinflussen könne oder ob ihm dieses durch eine überzeitliche Vorsehung bereits unabänderlich vorbestimmt sei (Graf 2007, S. 31–45).
Damit ist auch schon auf die Ambivalenz einer derartigen Entwicklungslogik verwiesen, denn sie bedeutet ja keineswegs immer ein ‚gutes Ende': Zwar steht der Endzustand ewiger Glückseligkeit gerade bei den großen Erlösungsreligionen im Vordergrund; das manichäische Gegenteil wird in Form ewiger Verdammnis jedoch immer mitgedacht. Den Menschen steht damit nicht nur der Aufstieg ins Paradies offen, sondern immer auch die Gefahr des Absturzes in einen höllischen Zustand. Eschatologien können deshalb sowohl Erlösungswie auch Verfallscharakter besitzen (Voegelin 1996, S. 15–18, 38–41).
Gleichsam zwischen diesen beiden Extremen sind dann noch Vorstellungen einer ewigen Zyklizität menschlicher Entwicklung angesiedelt, die in Gestalt der Kreislauftheorie politischer Verfassungen ebenfalls bereits in der Antike zu finden sind. Hier hat (politische) Geschichte dann zwar kein eindeutiges Ziel, wird dadurch aber auch nicht ziellos: Jeweiliger Fluchtpunkt der Entwicklung ist immer die nächste Station des Kreislaufs ‒ nie endend, aber eben auch nicht unbestimmt. Die politischen Zykluslehren von Aristoteles und Polybios sind dafür gute Beispiele (Ottmann 2002, S. 59–67).
Das eschatologische Gedankengut der Antike und des Mittelalters hinterlässt dann später auch in geistesgeschichtlichen Strömungen Spuren, wo es aufgrund deren agnostischer Anlage eigentlich nicht zu erwarten wäre: So postuliert der klassische Marxismus eine Abfolge historischer Gesellschaftsformationen, die erst im klassenlosen Endzustand ihren Abschluss finden wird (von Oertzen 1991,
S. 140–146). Der Kommunismus mit der endgültigen Beseitigung spaltender Klassengegensätze und der Entwicklung des neuen Menschen, der für das Kollektiv lebt und nur gemäß seinen Bedürfnissen nimmt, tritt nun an die Stelle des christlichen Paradieses. Mit dieser Lehre vom „Historischen Materialismus“ entwickeln Marx und Engels aber nur eine dialektische Geschichtslehre weiter, die Hegel in freilich recht abweichender Form bereits grundgelegt hatte (Göhler und Klein 1993, S. 300–317).
Es ist im Übrigen kein Zufall, dass diese Postulate einer Geschichtslogik gerade im 19. Jahrhundert Konjunktur hatten. Es ist das Zeitalter der Industriellen Revolution, der Entwicklung der modernen Wissenschaft, der globalen Kolonialisierung und nicht zuletzt des Sozialdarwinismus, die zusammengenommen ein Fortschrittsdenken generierten, das nicht nur eine (gottgewollte) Vorherrschaft und eine Bildungsmission der weißen Rasse gegenüber dem Rest der Welt postulierte, sondern auch für sich in Anspruch nahm, die zugrunde liegenden Gesetzlichkeiten erkannt zu haben (Osterhammel 2010).
Insoweit sind Hegelianismus und Marxismus keineswegs ideengeschichtliche Ausreißer, sondern Teil eines ganzen Gefüges modernistischer Eschatologien. Auguste Comtes Geschichtsphilosophie etwa, die die Anfänge der Soziologie maßgeblich prägte, beinhaltete das Dreistadiengesetz der menschlichen Geistesentwicklung: Dem theologischen, von Priestern und Kämpfern geprägten Zeitalter folge das metaphysische, in dem Philosophen und Juristen tonangebend seien. Das positive Zeitalter schließlich sehe eine Durchsetzung von rationaler ökonomischer Logik und Wissenschaft (Fuchs-Heinritz 1998, S. 98–124), gleichsam also die Ankunft eines mentalen und erkenntnistheoretischen Paradieses.
In Form sozialdarwinistischer und insbesondere eugenischer Lehren erfuhr dieses ‚Fortschrittsdenken' dann seine ultimative Perversion, die später auch maßgeblich zur Destruktion eschatologischer Geschichtslehren beitrug: Denn zum einen projizierten die sozialtechnischen Ansätze von Herbert Spencer (1910) und Francis Galton eine Entwicklungslogik in den klassischen Darwinismus, der dort gerade nicht existiert: Evolution hat gemäß Darwin eben kein bestimmtes Ziel – schon gar nicht ein wie auch immer geartetes ‚höheres'–, sondern die Fitness einer natürlichen Existenz bemisst sich allein an ihrer Überlebensfähigkeit in einer spezifischen Umwelt (Kutschera 2006, S. 27–35). Und nicht zuletzt deshalb mussten auch die Versuche der modernen Eugenik zur ‚Zucht' eines optimierten Menschen ins Leere laufen, weil dafür eben keine klaren Maßstäbe existieren konnten. Es ist kein Ruhmesblatt, dass sich diese Erkenntnis nur langsam durchsetzte und konkrete Auswüchse der Eugenik (Zwangssterilisierungen etc.) in etlichen westlichen Ländern erst im späteren 20. Jahrhundert beseitigt wurden (Bashford und Levine 2010).
Nicht zuletzt diese unheilvollen Entwicklungen und vor allem die eschatologisch geprägten Totalitarismen haben dann die wissenschaftstheoretische Gegenbewegung maßgeblich induziert, die nunmehr eine Logik der Geschichte und ein Wirken entsprechender Gesetzlichkeiten radikal in Abrede stellte. Schon von den Pionieren des erkenntnistheoretischen Empirismus grundgelegt, konnte sich diese gleichsam ‚ahistorische' Denkrichtung gerade nach den nationalsozialistischen Greueln und auch im Lichte des stalinistischen Terrors voll entfalten. Karl Popper verlieh dieser Position ihre moderne Gestalt, und er prägte mit „Historizismus“ auch jenen Begriff, der seither zur Charakterisierung solch eschatologischer Geschichtslehren üblich geworden ist (Popper 1987).
Popper wies in seinen Pionierstudien überzeugend nach, dass eine einheitliche Entwicklungslogik menschlicher Gesellschaften schon aufgrund ihrer Komplexität nicht existieren könne – schon gar nicht in der Form einfacher Entwicklungsgesetze (Popper 1987, S. 83–94). Stattdessen sei eine ergebnisoffene Evolution der Menschheit nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum zu erwarten – gedanklich also eine Rückkehr zu klassisch darwinistischem Gedankengut. Und deshalb war in Poppers Sicht nur eine „offene Gesellschaft“ (Popper 1980) dem Menschen wirklich gemäß, weil sie neben ihrem demokratischen Charakter eben auch das Fehlen einer unheilvollen endzeitlichen Zweckbestimmung auszeichnete.
Von diesem Schlag haben sich die eschatologischen Geschichtslehren nie mehr erholt. Zwar spielen sie in modernen politischen Ideologien nach wie vor eine wichtige Rolle; wissenschaftlich jedoch sind sie diskreditiert. Dazu haben im Übrigen auch moderne Entwicklungen in der Naturwissenschaft maßgeblich beigetragen: Die Quantenphysik hat die Visionen einer langfristig planund steuerbaren Entwicklung durch ihr radikal neues Verständnis vom Aufbau der Atome ebenso destruiert wie die zeitgenössische Chaostheorie (Loistl und Betz 1993). Das bedeutet freilich nicht, dass hier die Existenz (physikalischer) Gesetze generell in Abrede gestellt wird. Aber entschieden bestritten wird hier eben die alte und wohl auch aus Bequemlichkeit so liebgewonnene Vorstellung, dass komplexe Daseinsgefüge und dabei insbesondere menschliche Gesellschaften einfachen Entwicklungsgesetzlichkeiten unterlägen.
Kurzum: Auf diesem geschichtsphilosophischen und erkenntnistheoretischen Hintergrund muss die vergleichsweise spezifische Debatte um Aufstieg und Fall westlicher Herrschaft gesehen und interpretiert werden. Denn schon Oswald Spengler war von der Idee einer solchen Entwicklungslogik erkennbar fasziniert, und es käme daher nicht unerwartet, wenn diese Faszination auch in den modernen Klassikern Spuren hinterlassen hätte.