Das Schicksal Roms: Verfallstheorien als Wurzeln und Bezugspunkte der Debatte

Das Schicksal Roms als Exempel: Überblick und Klassifikation

Befasst man sich mit dem Aufstieg und Fall von Zivilisationen, kommt man nicht umhin, sich auch mit einem Ereignis auseinanderzusetzen, das die Wissenschaft seit über 1500 Jahren beschäftigt: Wohl keinem Schicksal einer Zivilisation wurde (nicht nur) in der Geschichtswissenschaft so viel Aufmerksamkeit zuteil wie dem des Imperium Romanum, gehört dieses doch „zu den grundlegenden Beispielen eines umfassenden Desintegrationsprozesses eines Staates und seiner Gesellschaft“ (Ungern-Sternberg 1982, S. 254; ähnlich auch Hoeres et al. 2013, S. 4).

Über Jahrhunderte und Epochen hinweg versuchten Denker unterschiedlichster Provenienz deshalb nicht nur diesen Prozess des Untergangs zu beschreiben und zu erklären, sondern auch Gründe herauszuarbeiten, die nicht nur den Verfall dieses ehemaligen Weltreiches erklären, sondern möglicherweise auch Erkenntnisse für das Schicksal der jeweils eigenen, zeitgenössischen, gesellschaftlichen und politischen Ordnung liefern konnten (Demandt 1997, S. 28–29). Die Geschichte des Römischen Reiches wird deshalb verschiedentlich als das „Muster für Aufstieg und Niedergang der Weltreiche, das Standardexempel für den Umschlag des Fortschritts in die Stagnation und Dekadenz“ (Demandt 1997, S. 29) begriffen.

Ziel des folgenden Abschnittes ist es deshalb, in Form eines groben Überblicks Erklärungsansätze zum Untergang Roms im Epochenverlauf zu skizzieren und dabei kurz auch auf eine Auswahl die Debatte besonders prägender Autoren einzugehen. Nicht nur aufgrund des zeitlichen Umfangs dieser Thematik, sondern auch wegen der großen Zahl an Autoren und Urteilen über das Schicksal Roms soll im Folgenden die außerordentliche Kompositionsund Verdichtungsleistung des Berliner Althistorikers Alexander Demandt als Grundlage dienen: So analysierte dieser für sein Standardwerk Der Fall Roms. Die Auflösung des römischen Reiches im Urteil der Nachwelt (Demandt 2014) über 400 „einschlägige[.] Stellungnahmen“ (Demandt 2014, S. 11), um jene „Antworten auf die grundsätzlichen Fragen, die sich angesichts der Auflösung des römischen Reiches im 5. Jh. n. Chr. erheben“ (Demandt 2014, S. 9), finden zu können.

Der Althistoriker arbeitete sechs unterschiedliche Zugänge heraus, die Verfall und Untergang Roms zu erklären versuchen: Die religionsgeschichtliche Interpretation zielt ab auf die mit dem Aufstieg des Christentums verbundenen Schwächungen des Römischen Reiches durch eine Jenseitsfokussierung, religiöse Konflikte im Reichsinneren, die Kosten für Kirche und Klerus sowie Agitationen gegen den Staatsund Militärdienst (Demandt 2008, S. 504, 2013b, S. 39). Aus einem sozioökonomischen Betrachtungswinkel führten Besitzunterschiede und Klassengegensätze zwischen Armen und Reichen, Freien und Sklaven sowie Stadtund Landbevölkerung zu innerrömischen Konflikten mit Implikationen auch für die Verteidigungsfähigkeit und -bereitschaft der römischen Bevölkerung (Demandt 2014, S. 244, 274, 528 und 573). Naturwissenschaftlich fundierte Erklärungen begründen den Niedergang Roms vielfältig u. a. mit einer Erschöpfung der Lebensgrundlagen aufgrund klimatischer oder menschengemachter Ereignisse und einem damit verbundenen Bevölkerungsrückgang (Demandt 2014, S. 244 und 528).

Mit einem Versagen der politischen Führung bzw. der staatlichen Strukturen existieren zudem auch innenpolitische Gründe, die in Form von Despotismus, Korruption, mangelnder Integrationsund Partizipationsmöglichkeiten sowie Fehlentscheidungen in administrativen, militärischen wie (fiskal)ökonomischen Fragen konkretisiert werden können (Demandt 2014, S. 244 und 528). Die bisher genannten Ansätze erklären den römischen Niedergang mit Schwächen in bestimmten Lebensbereichen. Sich davon abgrenzend basieren kulturmorphologische Erklärungen auf der Ansicht, dass jede Kultur und mit ihr verbundene Staatsgebilde zyklischen Verfallsgesetzen unterworfen seien (Demandt 2014, S. 244). Demnach erreichte auch die antike Kultur „in der römischen Kaiserzeit ihr Greisenalter“ (Demandt 2014, S. 529) und ‚verstarb' schließlich. Eine andere Perspektive nehmen außenpolitische Ansätze ein, die die Ausbreitung der zunehmend militärisch überlegenen Germanen als Grundlage für den Untergang Roms anführen (Demandt 2014, S. 244 und 529).

Die seit eineinhalb Jahrtausenden währenden Deutungsversuche der Auflösung des Römischen Reiches zeigen grundsätzlich, wie schwierig es ist, für solch komplexe Fragen, wie nach den Ursachen des ‚Aufstiegs' und ‚Falles' von Zivilisationen, abschließende Antworten zu finden (Demandt 2014, S. 601; Heather 2011). Weiter lässt sich auch erkennen, wie deutlich diese von vielen Variablen abhängig sind, wie der Nationalität, der Religionszugehörigkeit, der politischen Einstellung und der fachlichen Herkunft des Antwortgebers (Demandt 2014, S. 608–611), aber gerade auch von der jeweiligen Geistesepoche, innerhalb welcher sie formuliert werden (Demandt 2014, S. 605–608). Dies soll nun genauer beschrieben werden.

 
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