Aufklärung

Eine veränderte Sicht der Antike bei Autoren der Aufklärung begründet Demandt mit deren progressivem und nun eher linearem Geschichtsdenken (Demandt 2014, S. 166), das die Zyklustheorien des Humanismus verdrängte (Demandt 2014,

S. 432). Der Untergang des Römischen Reiches wurde demnach als „Ergebnis nachweisbarer Verhaltensfehler“ verstanden, und die „Absicht der Nutzanwendung motiviert[e] einen Großteil der Deutungen“ (Demandt 2014, S. 166; ähnlich auch Rehm 1966, S. 99). In der Folge wurde eine Vielzahl solcher Fehler herausgearbeitet, die von der Tugendhaftigkeit der Bevölkerung über sozioökonomische bis hin zu militärischen Umständen unterschiedlichste Problemfelder betrafen (Demandt 2014, S. 166). Während die Mehrheit der Autoren sich im späten 18. Jahrhundert von der Weltreichsfolge nach christlicher Tradition verabschiedete, wurde die Rolle des Christentums, welches von innenpolitischen bis außenpolitischen auch für viele andere Erklärungsansätze Anknüpfungsund Nutzungspotenzial barg, für den Niedergang Roms ambivalent betrachtet (Demandt 2014, S. 247 und 273): Speiste sich eine destruktive Sichtweise besonders bei Voltaire aus einer Kritik am Katholizismus (Demandt 2014, S. 247 und 272–273), spielte das christliche Moment für einige protestantisch geprägte Autoren wie Herder eher eine progressive Rolle.

Letzterer wies demgegenüber gerade innenpolitischen Defiziten, wie Despotismus, Dekadenz und ungelösten sozialen Spannungen, zerstörerische Kraft zu (Demandt 2014, S. 152–153), wobei laut Demandt (2014, S. 274) speziell den zuletzt genannten sozioökonomischen Begründungen in der Aufklärungsliteratur ein großes Gewicht zukam und hier u. a. Adam Smith zu nennen ist (Demandt 2013b, S. 137–138). Ausgehend von der Aufklärung existierten jedoch bis zur Oktoberrevolution parallel zwei unterschiedliche Argumentationsstränge sozioökonomischer Natur: ein liberaler, der auf die Folgen des Klassenkonflikts fokussierte, und ein revolutionärer, der den Umsturz in den Mittelpunkt rückte (Demandt 2014, S. 314). Auch für die außenpolitische Erklärung hatte das Fortschrittsdenken der Humanisten Konsequenzen, da die Germanen ebenso eher als progressives Element betrachtet wurden (Demandt 2014, S. 468).

Aus den Publikationen jener Zeit hebt Demandt u. a. die Werke von Montesquieu und Edward Gibbon hervor, „deren literarischer Rang bleibenden Lesewert für alle an unserem Thema Interessierten besitzt“ (Demandt 2014, S. 166): Montesquieu griff in seinen Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence von 1734 auf eine Argumentation nach dem klassischen Dekadenzmodell zurück, wonach der Erfolg Roms zu dessen Niedergang führte (Demandt 2014, S. 139): So führte die zunehmende Ausdehnung gerade innerhalb des in der Peripherie des Reiches tätigen Militärs nicht nur zu einer geografischen, sondern auch zu einer Identitätsund Loyalitätsdistanz zum Reich (Montesquieu 1825, S. 101–102), wozu auch eine Schwächung traditioneller bürgerlicher Tugenden durch Luxus und Verweichlichung beitrug (Montesquieu 1825, S. 36 und 109). Doch auch die innere Struktur des Reiches zeigte sich anfällig unter den Bedingungen eines expandierenden Weltreiches (Montesquieu 1825, S. 106–107): „Die Hülle wird zu eng; die Staatsform, gedacht für ein kleines Reich, paßt nicht mehr, und ebensowenig passen die Gesetze“ (Rehm 1966, S. 103). Diese Schwächen im Inneren provozierten Angriffe von außerhalb, und es sank „gradually under the weight of the several attacks made upon it“ (Montesquieu 1825, S. 183).

In Vom Geist der Gesetze erweiterte Montesquieu diese Innenauch um eine Außenperspektive (Demandt 2014, S. 139). Er griff aber auch hier wieder auf das Dekadenzprinzip zurück, wenn er – teilweise ohne Rom konkret zu erwähnen – wie in Buch 7 und 8 auf die grundsätzliche Gefahr von Erfolg, Größe (Montesquieu 2011, S. 187–188) und verweichlichendem Luxus einging (Rehm 1966, S. 97). So hatte seiner Ansicht nach gerade der Aspekt der im Rahmen der Expansion auftretenden Entvölkerung der Peripherie, den er durch Kinderlosigkeit aufgrund Dekadenz und christlicher Askese verstärkt sah (Montesquieu 2011, S. 359 sowie Demandt 2014, S. 149), auch außenpolitische Konsequenzen, da die Barbaren dann von dieser Schwächung der Reichsperipherie profitieren konnten (Montesquieu 2011, S. 360).

Edward Gibbon vereinigte dann später in seinem sechsbändigen, zwischen 1776 und 1788 veröffentlichten The History of the Decline and Fall of the Roman Empire2 ein „Ursachenbündel“ (Hoeres et al. 2013, S. 4) aus Christentum, Barbareneinfall und Dekadenz (Demandt 2014, S. 626), wobei gerade letztere, ganz im „Geiste seiner Zeit“ (Demandt 2014, S. 133), besonders betont wird: Beeinflusst von Voltaire (Demandt 2014, S. 132 und 626), schwächte das Christentum seiner Lesart zufolge den innergesellschaftlichen Zusammenhalt und die Abwehrbereitschaft nach außen (Gibbon 1966a, S. 311 und 456) durch seine Negierung des öffentlichen Lebens zu Gunsten mönchisch-geistlicher Introversion sowie durch innerkirchliche Konflikte und durch den für die Staatskasse teuren Unterhalt der Kleriker (Gibbon 1962b, S. 106, 1966b, S. 468–469, 1966a, S. 250–251).

Dieser Erklärungsfaktor fungiert aber eher als „sekundärer“ und „beschleunigende[r]“, der sich – und hier wird der Einfluss Montesquieus sichtbar

– erst auf Basis einer Dekadenz der römischen Gesellschaft in Form von Luxus und Verweichlichung entfalten konnte (Gibbon 1962a, S. 118, 1966b, S. 56 sowie Demandt 2014, S. 132–133) – einem „natural and inevitable effect of immoderate greatness. Prosperity ripened the principle of decay“ (Gibbon 1962b, S. 105). Auch wenn diese Schwäche schließlich den Einfall der aufgrund harter Lebensbedingungen nicht dekadenten Barbaren ermöglichte (Gibbon 1962b, S. 105 und 109), ist der Untergang Roms bei Gibbon „letzten Endes ein Produkt des Dekadenzprinzips“ (Demandt 2014, S. 134). Doch vor dem Hintergrund des Fortbestehens antiker technischer Errungenschaften (Demandt 2008, S. 492–493) wurden diese Entwicklungen als nur „vorübergehende Begleiterscheinungen in der unaufhaltsamen Höherentwicklung“ (Demandt 2014, S. 167) betrachtet, worin erneut das progressiv-linerare Geschichtsdenken der Aufklärer zum Ausdruck kommt.

 
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