Seit dem 20. Jahrhundert
Auch die anschließenden Entwicklungen der Forschung im 20. Jahrhundert weisen markante Muster auf. Setzte sich nach dem Ersten Weltkrieg zunächst Gibbons eher destruktives Bild der Rolle des Christentums durch (Demandt 2014, S. 262), hat der religionsgeschichtliche Erklärungsfaktor in der Gegenwart allerdings zunehmend „an Anziehungskraft verloren“ (Demandt 2013b, S. 140). Auch naturwissenschaftliche Zugänge finden insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg immer weniger Anhänger, sei es, wie bei rassistischen Ansätzen, aufgrund ihrer Diskreditierung oder, wie beim demografischen Ansatz, mangels exakter Quellenlage (Demandt 2014, S. 391, 395, 576–577 und 626).
Anders sieht dies bei außenpolitischen Begründungen aus, die im Laufe der Zeit
„überhaupt eine ungemeine Zähigkeit bewiesen“ (Demandt 2013a, S. 43) haben und bei denen Demandt (2014, S. 626) in jüngster Zeit eine deutliche Zunahme konstatiert. Weiter diskutiert wird zudem über deren Anteil an inneren und äußeren Zerfallsfaktoren sowie über ihren Status als „Zerstörer oder Fortsetzer der antiken Zivilisation“ (Demandt 2014, S. 476). Bei den sozioökonomischen Untergangsdeutungen lassen sich, ausgehend von der Oktoberrevolution, für die darauf folgenden Jahrzehnte zwei Stränge ausmachen (Demandt 2013b, S. 141), wobei die westliche Publizistik eher Weber fortführte, während in den Ostblockstaaten der Tradition Marx gefolgt wurde, wonach eine Revolution der Sklaven die Ausbeutung der Feudalherren überwand (Demandt 2013b, S. 141, 2014, S. 317 und 341–342).[1] Auch innenpolitische Deutungen wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts einerseits ideologisch und anderseits auch von den weltpolitischen Rahmenbedingungen geprägt, wie beispielsweise die unterschiedliche Einschätzung von Militarismus und politischer Autorität vor und nach den beiden Weltkriegen zeigt (Demandt 2008, S. 508–509, 2014, S. 428–429). Dies lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass „denjenigen Faktoren die größte Destruktionswirkung zugeschrieben wird, die am weitesten vom Normenkodex des Verfassers abweichen“ (Demandt 2013a, S. 46). Auch wenn kulturzyklische Deutungen in jüngster Zeit „kaum noch zur Sprache“ (Demandt 2014, S. 626) kommen, entstanden gerade zur Verarbeitung der nach dem Ersten Weltkrieg verbreiteten Untergangsstimmung Werke mit zyklischen Geschichtsvorstellungen, die für die europäische Kultur ein ähnliches Schicksal wie dem Roms befürchteten und dadurch nachhaltigen Einfluss auf die Debatte ausübten, wie u. a. die Werke Oswald Spenglers und Arnold Toynbees zeigen (Demandt 2014, S. 446 und 466; Hoeres et al. 2013, S. 10).[2]
Eine wichtige Stellung als Impulsgeber genoss zu jener Zeit nicht zuletzt der Sozialund Wirtschaftshistoriker Michael Rostovtzeff (Christ 1972, S. 334; Heinen 2006, S. 174, 176 und 180), der – nicht unwesentlich beeinflusst durch sein Erleben der Russischen Revolution (Heinen 2006, S. 176–180) – herauszuarbeiten versuchte, „warum und wie der glänzende Zustand des früheren Kaiserreiches sich in das primitive und halbbarbarische Leben der Spätzeit habe verwandeln können“ (Heinen 2006, S. 179). In seiner Geschichte der Alten Welt erkannte er diese Entwicklung an einem ‚Vertrocknen' und ‚Ermüden' der schöpferischen Gesellschaftsschichten und dem mangelnden Einsatz für das gesellschaftliche Wohl (Rostovtzeff 1942, S. 450–451), was als „gesetzmäßiges und wiederholbares Phänomen“ (Demandt 2014, S. 452) zu betrachten sei.
Gerade in Folge einer wirtschaftlichen Prosperität sei eine gesellschaftliche Spaltung zwischen „Reichen und Armen“ entstanden, bei denen nur erstere die Schöpfer und Träger ihrer Kultur waren (Rostovtzeff 1942, S. 453). Mangelnde kulturelle wie militärische Herausforderer und der Glaube an die Unsterblichkeit der eigenen Kultur führten seiner Lesart zufolge zu Weltflucht, Müßiggang und
Dekadenz in den Oberwie Mittelschichten (Rostovtzeff 1942, S. 457 und 465), während die Unterschichten an eben dieser Kultur und Wohlstand nicht teilhaben konnten, für die Privilegierten aber arbeiten mussten. Als diese „Apathie bei den Reichen […] [und die] Unzufriedenheit bei den Armen“ (Rostovtzeff 1942, S. 459) auf eine Bedrohung von außen traf – und hierbei verbindet Rostovtzeff die innenmit der außenpolitischen Argumentation – führte dies zu einer zunehmenden Degeneration des Reiches, bis der „blutlose[.] und verbrauchte[.] Organismus“ (Rostovtzeff 1942, S. 460) durch „innere Auflösung und Barbareneinfälle“ den „Kulturtod“ (Rostovtzeff 1942, S. 461) starb.
In Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich ging Rostovtzeff noch stärker auf innenpolitische Faktoren ein, wenn er als „Kernproblem des Niedergangs der antiken Kultur“ (Christ 1972, S. 345) die mangelnde kulturelle Assimilierung der Landbevölkerung sowie des Proletariats durch die Oberschichten benannte. Die römische Kultur blieb deshalb stets „eine Kultur der Elite“ (Rostovtzeff 1953, S. 240), bis die stärker werdenden niederen Schichten in Konflikten zunehmend die Oberhand gewannen und es zu einer „fortschreitende[n] Absorbierung der höheren Klassen durch die niederen, begleitet von einer allmählichen Nivellierung in regressivem Sinne“ (Rostovtzeff 1953, S. 240) kam. Vor dem Hintergrund dieser Absorbierung der kulturtragenden Elite durch die Massen hob er die Notwendigkeit einer für alle Schichten offenen und von der breiten Bevölkerung getragenen Kultur hervor (Rostovtzeff 1953, S. 247). Abschließend formulierte er jedoch noch ein aus dieser Erkenntnis resultierendes, wohl unlösbares Dilemma, das von einer gesetzmäßigen Dekadenzentwicklung geprägt wird: „Ist nicht jede Kultur zum Verfall verurteilt, sobald sie die Massen zu durchdringen beginnt?“ (Rostovtzeff 1953, S. 247).
Abschließend lässt sich demnach festhalten, dass das römische Exempel auch vom modernen Betrachter wiederholt als „Krisenspiegel“ (Demandt 2008, S. 494) herangezogen wurde und wird, was „dem Ende der Alten Welt eine dauernde Aktualität“ (Demandt 2008, S. 494) verschafft und zwangsläufig auch Bezüge zwischen den Deutungen zum Schicksal Roms und zum heutigen Schicksal des Westens vermittelt.