Das Schicksal des Westens: Historische Grundlinien der Diskussion
Seit der Aufklärung rückte der Westen dann selbst immer stärker in den Fokus der wissenschaftlichen Betrachtung der Entwicklungsgeschichte, und dies gerade in der sich nun entwickelnden modernen Geschichtswissenschaft (von Ranke 1995;
Burckhardt 1978). Im Zuge dessen stellte sich vor allem die Frage, welche spezifischen Bedingungen wohl für den globalen Erfolg des Okzidents verantwortlich zu machen waren. Eng verzahnt mit dieser Debatte um die Gründe des Aufstiegs erscheint die Diskussion um das Schicksal des Westens: Können diese Faktoren zu einer langfristigen Suprematie des Westens führen? Oder steht ihm vielmehr eine dieser Aufstiegsphase folgende Abstiegsphase bevor, wie es Thomas Malthus schon im Jahre 1798 in seinem berühmt gewordenen Essay on the Principle of Population (Malthus 1999) prognostiziert hatte?
Diesen Fragen nähern sich schon seit dem 18. Jahrhundert viele europäische Autoren mit dem ehrgeizigen Versuch, generelle Gründe für die erfolgreiche Performanz des Westens bzw. für seine Entwicklungsperspektive zu benennen. Als zentrale Faktoren wurden dabei vor allem der moderne Staat und das kapitalistische Wirtschaftssystem (Sombart 1987) herausgearbeitet und in der Folge als ausschlaggebend für die Evolution des okzidentalen Aufstiegs eingestuft. Die wichtigsten Werke werden im folgenden Abschnitt gerafft dargestellt.
Der Wohlstand der Nationen: Adam Smith
Ein stark eurozentrisches Argumentationsmuster lässt sich zunächst aus Adam Smiths Der Wohlstand der Nationen (Smith 1974) von 1789 ablesen. Der Begründer der klassischen Nationalökonomie vertritt hier die wirtschaftsliberale These, dass durch einen Staat[1], der keinerlei Zwänge auf das ökonomische Leben in seinem Inneren ausübe, auf natürliche Weise und „aus einer natürlichen Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen“ (Smith 1974, S. 16), zum einen das Prinzip der Arbeitsteilung entstehe (Pfetsch 2012, S. 204). Auf diesem Prinzip gründet Smiths These zur Erzeugung wirtschaftlichen Wohlstands[2], da arbeitsteilige Strukturen der Wirtschaft den Tausch von Gütern notwendig machen, wodurch ein Markt im heutigen Sinne erst entstehe (Gantzel 2000, S. 330; Senghaas-Knobloch 2000, S. 543). Zum anderen entsprängen einer solchen Organisationsform auch essentielle selbstregulierende Kräfte des Marktes.
Diese werden als die zentralen Eigenschaften der westlichen Wirtschaftsordnung gesehen. Im Zentrum stehe hierbei vor allen anderen Faktoren das handelnde Individuum selbst. Denn dadurch, dass dieses mit dem Ziel persönlicher Vorteilserlangung und um die eigenen Lebensumstände zu verbessern, innerhalb des Marktes frei und aktiv handelt, befördere es ebenso auch den Vorteil der gesamten Gesellschaft (Smith 1974, S. 469). Diesen Zusammenhang, der gewisse Folgen aus individuellem Handeln beschreibt, die so keinesfalls intendiert waren, welche aber die Entscheidung des Einzelnen zu einem Nutzen der Gesellschaft werden lässt (Smith 1974, S. 470), bezeichnet Smith als „unsichtbare Hand“ (Smith 1974, S. 371). Auf diesem Prinzip gründe letztlich ein effizientes und automatisch auch konkurrenzwirtschaftliches Modell (Smith 1974, S. 469). Das Streben des Einzelnen nach der Verbesserung des eigenen Lebens wird so zum entscheidenden Motor für Wohlstand und Bildung der gesamten Gesellschaft (Pfetsch 2012, S. 203).
Das erste Anzeichen einer solchen Entwicklung entdeckt Smith in den Ständeversammlungen der großen Monarchien Europas – vor allem Frankreich und England –, die erstmals auch Vertretungen der Städte des jeweiligen Landes umfassten (Smith 1974, S. 329). Durch diese Repräsentation – so Smiths Argumentation – begann die Herrschaft von „Ruhe und Ordnung und damit Freiheit und Sicherheit für den einzelnen“ (Smith 1974, S. 330). Auf diese Weise wurde der Nährboden für die gesamte moderne Wirtschaftsordnung generiert. Als Wurzel allen Wohlstandes erscheint hier folglich die freie Arbeit, die sich zuerst in westlichen Städten entwickelt habe (Smith 1974, S. 329–330). „So ist es auch zu erklären, warum sich ein auf Wohlstand gerichteter Gewerbefleiß in den Städten weit früher als auf dem Lande entfaltet hat“ (Smith 1974, S. 330).
- [1] Die einzigen Pflichten des Staates sieht Smith erstens im Schutz des Landes nach außen, zweitens im Schutz der Bürger vor Gefahren aus dem Inneren und drittens im Unterhalt spezifischer öffentlicher Institutionen, die nicht vom Individuum betrieben werden können (Smith 1974, S. 582).
- [2] Das Prinzip der Arbeitsteilung hat eine erhöhte Produktivität der Gesamtökonomie zur Folge (Smith 1974, S. 9) und führt somit zu mehr Wohlstand (Senghaas-Knobloch 2000, S. 545–546.).