Moderne Klassiker als Kondensat einer Tradition: Das Konzept der Studie
Die im Folgenden genauer vorzustellenden modernen Klassiker können als Kondensat dieser langen und vielgestaltigen Forschungstradition begriffen werden. Die größte Herausforderung bestand dabei darin, dieses Tableau zentraler Monographien aus dem umfangreichen internationalen Schrifttum zu isolieren. Das setzt die Festlegung sinnvoller Auswahlkriterien voraus. Neben der Fokussierung auf den Aspekt des Aufstiegs und des Falls westlicher Herrschaft sowie der Publikation in einem zentralen Buch waren folgende Voraussetzungen zu erfüllen:
• Erstens mussten die Studien eine universelle Perspektive besitzen, ohne regional oder periodisch zu sehr eingeengt zu sein.
• Zweitens hatten sie einen klaren Bezug zur Aktualität herzustellen, durften also nicht rein musealen Charakters sein.
• Drittens mussten sie die Forschung durch ihren theoretischen Mehrwert entscheidend geprägt haben, also über einen unverwechselbaren ‚Markenkern' in Form wirkmächtiger Hypothesen verfügen.
• Viertens macht einen Klassiker eine breite Resonanz aus, die auch über den engeren Zirkel der Wissenschaft hinaus reicht.
In vielen Einzelfällen bleibt eine eindeutige Qualifizierung trotzdem strittig, was Konzept und Werkauswahl der vorliegenden Studie natürlich angreifbar macht. Gleichwohl wäre eine umfangreiche Berücksichtigung von Grenzfällen weder aus konzeptionellen noch aus inhaltlichen Gründen wirklich zielführend. Denn eine übergroße Zahl an Fallstudien würde zum einen den Charakter der Publikation in Richtung eines lexikalischen Kompendiums verändern, was aber nicht das Ziel der Herausgeber ist: Zweck der Studie ist eine systematische Bestandsaufnahme der zentralen modernen Argumentationsmuster zum Aufstieg und Fall westlicher Herrschaft, wozu die einzelnen Fallstudien die Materialien liefern. Zweitens häufen sich mit der Zahl exemplarischer Analysen auch die inhaltlichen Redundanzen, was dem Studienzweck ebenfalls nicht dient. Auch deshalb wurde, erneut mit dem ‚Mut zur Lücke', Wert auf ein überschaubares Set an Klassikern gelegt, die gegenüber ihren Konkurrenten jeweils ein spezifisches Profil und einen klaren inhaltlichen Zugewinn aufzuweisen hatten.
Am Ende wurden zwölf monographische Klassiker berücksichtigt, die schon von ihrem wissenschaftlichen Hintergrund her die interdisziplinäre Prägung dieses Forschungsfeldes symbolisieren. Dabei fällt auf, dass sich die jeweiligen Autoren schon selbst als ‚Wanderer zwischen den wissenschaftlichen Welten' verstehen, also von ihrem Selbstverständnis her disziplinübergreifend forschen: Jared Diamond arbeitet nicht nur als Physiologe, sondern auch als Geograph mit einem ausgeprägt kulturanthropologischem Gespür. Ian Morris ist Archäologe, Altphilologe und Althistoriker zugleich, aber auch in Biologie und Soziologie bewandert. David Landes, Kenneth Pomeranz und Niall Ferguson sind als Wirtschaftsund Sozialhistoriker ebenso interdisziplinär ausgerichtet wie die historisch orientierten Ökonomen Douglass C. North und Robert Thomas; lediglich ihre Heimatdisziplinen unterscheiden sich. Das gilt sinngemäß auch für die gelernten Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson und Daron Acemoğlu, die frühzeitig Akzente in der Soziologie und der Politikwissenschaft setzten, was mit umgekehrtem Vorzeichen wiederum für den Politologen James A. Robinson gilt. Starke Bezüge zur Politikwissenschaft weist dann weiterhin der ‚klassische' Historiker Paul Kennedy auf, der Politologe Samuel P. Huntington umgekehrt zur Geschichtswissenschaft. Und schließlich verklammert der in einer hegelianischen Tradition stehende Francis Fukuyama Politikwissenschaft und Philosophie, ebenso wie der dem Marxismus verpflichtete Antonio Negri. Michael Hardt schließlich schlägt noch eine Brücke zwischen marxistischer Philosophie und Literaturwissenschaft.
Mit der Nennung dieses Tableaus ist klar, dass andere seit den siebziger Jahren publizierte Studien trotz ihrer Einschlägigkeit fehlen. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, diese lange Ausschlussliste im Einzelnen zu begründen. Die Logik der Exklusion soll deshalb nur anhand prominenter Einzelfälle illustriert werden. So wurde Fernand Braudel nicht berücksichtigt, weil sein dreibändiges Standardwerk Civilization und Capitalism (Braudel 1981–1984) zu sehr auf das 15.–18. Jahrhundert fokussiert, also das zeitliche Universalitätskriterium und insbesondere den Aktualitätsbezug nicht voll erfüllt. Umgekehrt ist das mittlerweile vierbändige Monumentalwerk The Modern World System von Immanuel Wallerstein (1974–2011) in der Tradition Oswald Spenglers und Arnold Toynbees von einer geschichtsphilosophischen Breite, welche die hier im Fokus stehende Fragestellung deutlich sprengt. Zudem kann man bei mehreren, über die Jahrzehnte hinweg publizierten Bänden auch nicht mehr von einer Klassiker-Studie aus einem Guss sprechen – ein Argument, dass mit Abstrichen auch für die Trilogie Braudels gilt.
Die eingangs zitierte Studie The End of the American Era von Charles Kupchan (2002b) sowie Fareed Zakarias The Post-American World (Zakaria 2008) wurden umgekehrt trotz ihrer Aktualität und auch ihrer starken Resonanz nicht berücksichtigt, da sie zu stark auf die USA fokussieren und zudem die nötige historische Tiefendimension vermissen lassen. Letztere weist dann wiederum Peter Turchins Studie Historical Dynamics. Why States Rise and Fall (Turchin 2003) auf, doch erzielte sie aufgrund ihrer komplexen mathematischen Modellierungen nur eine begrenzte Resonanz. Henry Kissingers Vernunft der Nationen (Kissinger 1994) und John Mearsheimers The Tragedy of Great Power Politics (Mearsheimer 2001) schließlich sind enger geführte machtpolitische Analysen, die das Themenfeld deshalb nicht breit genug abdecken.
Die zwölf ausgewählten Werke wurden gemäß ihrer thematischen Grundausrichtung in drei Gruppen unterteilt. Unter die Rubrik Geographie und Ressourcen fallen die Studien von Diamond (2005), Morris (2011), Pomeranz (2000) und Kennedy (1988), weil die Fluchtpunkte ihrer Argumentation trotz erheblicher individueller Unterschiede in diesem Bereich liegen. Das gilt sinngemäß für den Schwerpunkt Kapitalismus und Kultur, dem Landes (1999), Ferguson (2011), Fukuyama (2006) und Huntington (2002) zugeordnet wurden. North und Thomas (2009), Acemoğlu und Robinson (2012), Olson (1982) sowie Hardt und Negri (2001) schließlich wurden unter der Überschrift Institutionen und Organisation zusammengefasst. Damit soll keineswegs der Eindruck erweckt werden, dass die Studien ausschließlich auf diese Aspekte konzentriert seien; regelmäßig ist das Gegenteil der Fall. Jedoch lassen sich durchaus dementsprechende Unterschiede im Grundtenor der Werke ausmachen. Dies wiederum bildet dann den Ansatzpunkt für die vergleichende Abschlussbetrachtung.
Zeichnen Herausgeberinnen und Herausgeber für das Gesamtergebnis gleichermaßen verantwortlich, so ist das Projekt dennoch Resultat produktiver Arbeitsteilung. Von Martin Sebaldt stammen Idee und Konzept, und er tätigte auch die Zusammenführung und inhaltliche Feinabstimmung der einzelnen Textteile sowie die Absprachen mit dem Verlag. Andreas Friedel, Sabine Fütterer und Sarah Schmid besorgten die Erstkorrektur der Fallstudientexte und klärten Einzelfragen mit den beteiligten Autoren. Konzeptüberarbeitung, Endkorrektur und Redaktion wurden dann gemeinschaftlich bewältigt. Unser Dank gilt allen Mitautoren sowie den beteiligten Mitarbeitern und Kooperationspartnern von Springer VS!