Rezeption und Kritik

Pomeranz' Monographie The Great Divergence wurde sowohl positiv wie auch negativ rezipiert, was im Folgenden genauer dargelegt werden soll.[1] Der Beitrag von The Great Divergence wird nicht geringer geschätzt, als „aus einer wirtschaftsgeschichtlichen Streitfrage eine breit in die Disziplin ausstrahlende Debatte“ (Conrad 2013, S. 168) gemacht zu haben und nun innerhalb dieser Debatte eine herausragende Stellung zu besetzen (Duchesne 2004, S. 53; Grew 2006, S. 884; Vries 2011, S. 13). Darüber hinaus wird Pomeranz angerechnet, innerhalb der Disziplin der Globalgeschichte einen großen Beitrag für die Distanzierung vom Eurozentrismus und damit eine „Relativierung der westlichen Überlegenheit“ (Berghoff 2006) zu leisten (Anderson 2004, S. 447; Conrad 2013, S. 81; Vries 2011, S. 13). Er gehe nicht nur der eurozentrischen Frage nach, warum sich China nicht wie Europa entwickelte, sondern frage zu gleichen Teilen auch danach, warum Europa nicht den arbeitsund landintensiveren chinesischen Weg gehen musste (O'Brien 2010, S. 6) und weise dem präbzw. frühmodernen China damit eine äquivalente Stellung auf Augenhöhe mit Europa zu. So breche er mit der Meinung, die Implikationen der Aufklärung seien für den europäischen Erfolg verantwortlich gewesen (Huang 2002, S. 501 f.; Vries 2011, S. 13). Pomeranz lässt sich damit dem Kreis der

‚California School'[2] zurechnen, deren Vertreter durch einen Vergleich von Asien und Europa mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen diesen Regionen ausmachen, auf die historische Vernetzung unter ihnen in der frühen Moderne hinweisen und damit eine fundamental neue Interpretation der Weltwirtschaft bereitstellen (Hall 2001; Lee 2001; Vries 2008).

Pomeranz' Arbeit sei gerade deshalb so herausragend, weil er die gleichen Variablen (etwa demographische oder institutionelle) betrachtet, die oft auch aus modernistischer oder eurozentrischer Sicht für den Erfolg Europas angebracht werden, aber durch einen konsequenten Vergleich mit Ostasien nachweisen kann, dass Europa diesbezüglich keinesfalls fortschrittlicher war; er widerlege also auf systematische und argumentativ hochwertige Art einen Großteil der früheren

Literatur, die sich mit dem Aufstieg des Westens befasst und die wirtschaftliche Überlegenheit Europas proklamiert (Grew 2006, S. 883 f.; Hall 2001, S. 110; Kus 2006, S. 433; Vries 2011, S. 13): „[…] Pomeranz revisits the historical origins of the East-West divergence, carefully and masterfully comparing the development processes of Europa and China in the 18th and 19th centuries“ (Kus 2006, S. 433). Pomeranz leiste damit einen großen Beitrag zur Globalgeschichte, indem er dafür plädiere, China nicht immer nur als das Gegenteil Europas zu sehen, sondern sich von diesem voreingenommenen Blickwinkel zu befreien – und somit viel mehr Gleichwertiges als Gegenteiliges zu entdecken, was letztlich auch den Blickwinkel auf Europa verändere (Kus 2006, S. 433; Vries 2011, S. 13). Zu diesem veränderten Verständnis gehöre auch, die Rolle von Peripherien beim Aufstieg Europas anzuerkennen: „[…] Pomeranz's forceful conclusion that global peripheries are essential elements in European development, can be counted among the achievements of world history“ (Grew 2006, S. 884).

Besondere Anerkennung kommt der Tatsache zu, dass Pomeranz mit alten Weisheiten breche (Huang 2002, S. 501), indem er aufzeige, dass viele der bisher angenommenen Tatsachen, die angeblich erklärten, warum China kein explosives Wachstum erlebte, so nicht zutreffend seien und dass Eigenschaften, die als einzigartig für Europa angenommen wurden, ebenso in China zu finden gewesen seien (Anderson 2004, S. 445; Grew 2006, S. 883; Hall 2001, S. 110): „[…] Pomeranz brilliantly deconstructs and falsifies many of the existing convictions about the history of the East-West divide in development“ (Kus 2006, S. 435). In den meisten seiner untersuchten Dimensionen (malthusianische Zwänge, private, wettbewerbsfähige Markstrukturen, Lebensstandard, Konsumverhalten, Eigentumsrechte, ökologisches System etc.) weise er überzeugend nach, dass sich China und Europa sehr ähnlich gewesen seien (Anderson 2004, S. 445 f.) und dass Europa teilweise klar hinter China zurücklag (Grew 2006, S. 883). Zudem waren beide mit ähnlichen ökologischen Engpässen konfrontiert, die intern nicht hätten gelöst werden können (Lee 2001, S. 703; Vries 2011, S. 13). Pomeranz habe durch seine Darstellung der Ähnlichkeiten innerhalb Eurasiens den nun häufig in der Fachliteratur zitierten Begriff der ‚world of surprising resemblances' geprägt (O'Brien 2010, S. 4).

Besonders lobend wird hervorgehoben, dass Pomeranz die Bedeutung der Liberalisierung – viel beschworener Motor der Industrialisierung – mit stichhaltigen Argumenten widerlegt (Anderson 2004, S. 445 f.). Als überzeugend wird zudem seine These gewertet, dass der Lebensstandard im Jangtse-Delta mit dem in Westeuropa des 19. Jahrhunderts vergleichbar war (Vries 2001, S. 411). Dennoch verliere er dabei tatsächliche existierende Unterschiede nicht aus dem Blick (Hall 2001, S. 111). Auf inhaltlicher Ebene wird Pomeranz daher zugestanden, die Frage geklärt zu haben, warum Europa und nicht China die Industrielle Revolution erlebte (Anderson 2004, S. 445). Entscheidend seien vor allem zwei Faktoren gewesen, die die ausschlaggebenden Impulse auf die Wirtschaft auslösten: die günstige Lage von Kohlevorkommen in England und nicht in China – „geology is destiny“ (Anderson 2004, S. 446) – und der Umstand, dass Europa und nicht China die Neue Welt entdeckte und fortan über die dortigen Ressourcen verfügen konnte (Anderson 2004, S. 446 f.; Grew 2006, S. 884).

Der Verdienst von Pomeranz sei es, dass er zum einen tatsächlich Vergleichbares miteinander vergleiche – an vielen Stellen das Jangtse-Delta mit Großbritannien – und zum anderen, dass nicht Europa als Vergleichsmaßstab diene, sondern dass er beide Vergleichseinheiten jeweils wechselseitig vor der Folie des anderen in Betracht ziehe (Hall 2001, S. 111; O'Brien 2010, S. 6; Vries 2011, S. 13). Die Rezeption lobt sowohl die methodischen Neuerungen, die „innovative[…] Idee eines reziproken Vergleichs“ (Conrad 2013, S. 172), die „methodological strength of dealing in contingencies, rather than the unilinear inevitability suggested by the modernization construct“ (Huang 2002, S. 502) und seinen „neo-Malthusian, ecological approach that focuses on access to food and raw materials“ (Cooper 2000, S. 163). Besonders hervorgehoben wird seine stark quantifizierend angelegte Forschung (Duchesne 2004, S. 53) und sein geübter Umgang mit dem komplexen Datenmaterial – der zwangsläufig auch Schätzungen miteinbeziehen müsse (Grew 2006, S. 884). Damit hebe er die Disziplin der Globalgeschichte auf eine neue Stufe, da durch die methodischen Anleihen aus den Wirtschaftswissenschaften mit ihren statistischen Indikatoren eine kulturell begründete Voreingenommenheit überwunden werden könne (Grew 2006, S. 884).

Doch nicht nur die quantifizierende Methodik zeige den erneuerten Blickwinkel, unter dem Pomeranz Globalgeschichte betreibt:

Die vergleichende Perspektive, der Blick auf China, die Betonung von transregionalen Interaktionen, die Aufmerksamkeit für die politischen Ursprünge der Industriellen Revolution und die Betonung von zufällig zusammenfallenden Faktoren ( conjunctural factors) haben sich als besonders innovativ erwiesen (Conrad 2013, S. 173 f.).

Er leiste damit einen wichtigen Beitrag für unser Verständnis, welche Rolle Asien, die Neue Welt und Europa dabei spielten, die frühmoderne Weltwirtschaft zu gestalten (Lee 2001, S. 704; Rosecrance 2002, S. 132).

Zudem wird Pomeranz' Monographie dahingehend gewürdigt, dass er durch seine interdisziplinäre Arbeit verschiedene Forschungsbereiche miteinander verknüpfe, da er einerseits mit der europäischen Forschung sehr vertraut sei, andererseits aufgrund der entsprechenden Sprachvoraussetzungen über eine fundierte Kenntnis des chinesischen Datenmaterials verfüge und somit oftmals separate stehende Forschungsgebiete vereinen könne (Huang 2002, S. 502; Vries 2001, S. 408 f.):[3] „[…] [H]e […] has drawn the attention of Europeanists to the Chinese experience and of China scholars to the European“ (Huang 2002, S. 533). Deshalb wird Pomeranz auch zu Gute gehalten, dass The Great Divergence die Synthese eines breiten Spektrums an Sekundärliteratur bilde (Anderson 2004, S. 447), sich auf unzählige Referenzen beziehe (Duchesne 2004, S. 53) und somit durch „theoretical depth and empirical rigor“ (Kus 2006, S. 437) einen wissenschaftlich fundierten Beitrag zur Erweiterung des Horizonts der Globalgeschichtsschreibung leiste (Kus 2006, S. 437).

Ein Blick auf die Rezeption zeigt allerdings, dass Inhalt bzw. Methodik von The Great Divergence teilweise auch negativ beurteilt wurden: Bezüglich seines methodischen Vorgehens wird kritisch angemerkt, dass Pomeranz' Argumentationsführung sehr schwer nachzuvollziehen sei, da er einerseits eine Vielzahl von thematischen Schwerpunkten sowie regionalen Fällen miteinbeziehe und dabei auch auf sehr viele Details eingehe, andererseits aber kaum Ergebnisse eigener Forschungsarbeiten präsentiere, sondern sich stattdessen auf wissenschaftliche Sekundärliteratur berufe (Huang 2002, S. 502). Und diese nutze er auch noch voreingenommen und verwende nur das, was seine eigenen Ansichten unterstütze. Zudem werden Pomeranz immense Lücken in der empirischen Argumentationsführung vorgeworfen; die große Anzahl verwendeter Quellen und die vielen Zahlen dienten lediglich der Vertuschung von Mängeln (Duchesne 2004, S. 53). Pomeranz' quantitative Argumente beruhten lediglich auf groben Schätzungen auf der Grundlage von ausführlichen, aber lückenhaften Belegen, und daher komme er manchmal zu kontrafaktischen Schlussfolgerungen (Cooper 2000, S. 163). Des Weiteren fehle vielen seiner Behauptungen die empirische Basis, sodass deren Richtigkeit angezweifelt wird (Duchesne 2004, S. 55). Trotz einer Fülle an quantitativem Datenmaterial fehlten in Pomeranz' Analyse wichtige Zahlen und Statistiken, die beispielsweise weltweite Handelsbeziehungen abbilden und einen adäquaten Kontext für seine Thesen bereitstellten (Vries 2001, S. 434).

Außerdem sei Pomeranz bei seiner komparativen Analyse nicht konsistent genug, da er sich jeweils beliebig die Untersuchungseinheiten herausgreife und damit voreilige, teilweise sogar widersprüchliche Schlussfolgerungen ziehe (Duchesne 2004, S. 56, 67) oder – weniger drastisch – oftmals nicht klar sei, ob er sich beispielsweise auf Großbritannien oder Nordwesteuropa, Westeuropa oder Europa beziehungsweise auf das Jangtse-Delta, China, Ostasien oder Asien beziehe (Vries 2001, S. 409). Des Weiteren fehle ihm bei seiner komparativen Analyse die theoretische Basis, auf der er seine Argumentation aufbaue (Vries 2011, S. 14).

Pomeranz, der die Wichtigkeit der engen Verzahnung der Globalgeschichte mit den anderen Disziplinen in den Geschichtswissenschaften fordert (Pomeranz 2009a, S. 70), wird vorgeworfen, dass er in The Great Divergence diesem Anspruch selbst nicht gerecht werde: „[…] [D]ie Diskussion [konzentriert sich] auf ökonomische Indikatoren und einen Vergleich von Lebensstandards und wirtschaftlicher Produktion und damit auf isolierte Faktoren, die aus einem breiteren Kontext herausgelöst werden“ (Conrad 2013, S. 172 f.). In diesem Kontext sind auch die Vorwürfe einzuordnen, dass „die Rolle der Politik merkwürdig unterbelichtet [bleibt]“ (Conrad 2013, S. 172), die Bedeutung von Institutionen heruntergespielt (Vries 2001, S. 417) und dass durch eine ebensolche Vernachlässigung kultureller Faktoren (Kus 2006, S. 435; Vries 2001, S. 410) ein großes Maß an Erklärungskraft verschenkt werde. Zudem wird angemerkt, dass sich Pomeranz, obwohl er einen anderen Anspruch erhebt – „Beyond the East-West Binary“ (Pomeranz 2002) – trotz seines veränderten Blickwinkels nicht vom „traditionellen Ost-West-Schema“ (Conrad 2013, S. 172) lösen könne.

Kritik wird zudem bezogen auf inhaltliche Argumente angebracht: Pomeranz stelle die Unterschiede zwischen dem Jangtse-Delta und der englischen Landwirtschaft als vernachlässigbar dar bzw. ignoriere diese und zeichne stattdessen ein Bild großer Gemeinsamkeiten, das so aber nicht der Faktenlage entspreche (Huang 2002, S. 507–515) – vor allem im Hinblick auf die englische Agrarrevolution, die er komplett ausklammere (Huang 2002, S. 519).[4] Somit hätte sich Europa auch gar keinen so schwerwiegenden ökologischen Beschränkungen gegenüber gesehen, wie das Pomeranz behaupte (Duchesne 2004, S. 55–61). Zudem überschätze er die Einkommensmöglichkeiten bei der Baumwollproduktion im Jangtse-Delta (Huang 2002, S. 513), da er die in der verwendeten Sekundärliteratur dargestellten Zahlen und Fakten falsch interpretiere, nicht Vergleichbares dennoch vergleiche, sich beliebig der Sekundärliteratur bediene und affirmative empirische Daten durch einen „grab-bag approach“ heraus greife, alle anderen aber unter den Tisch fallen lasse (Huang 2002, S. 517).[5]

Ähnliches sei ihm auch beim Vergleich der Reallöhne zwischen Westeuropa und China vorzuwerfen: diese divergierten – entgegen Pomeranz' Behauptung – schon im 17. Jahrhundert zugunsten Europas (Vries 2011, S. 14). Darüber hinaus stelle Pomeranz die Tätigkeit ländlicher Heimwerker im Jangtse-Delta den wachsenden Tätigkeitsfeldern im Zuge der englischen Proto-Industrialisierung als äquivalent gegenüber, ignoriere dabei aber, dass erstere lediglich ergänzend zur traditionellen Landwirtschaft, meist von Frauen, ausgeübt wurde, letztere aber zahlreiche, von der Landwirtschaft unabhängige Arbeitsplätze bereitstellte, was wiederum unterschiedliche Implikationen für die demographische Entwicklung und die Urbanisierung nach sich ziehe (Huang 2002, S. 518–520): Implikationen, die Pomeranz vollständig ausklammere und deshalb sowohl für England als auch für das Jangtse-Delta eine Revolution des Fleißes nachzuweisen versuche (Huang 2002, S. 521), indem er künstlich nach Gemeinsamkeiten im Konsumverhalten suche, wofür er wiederum die empirischen Daten selektiv auswähle und davon beliebige Annahmen ableite (Huang 2002, S. 522–524). Pomeranz interpretiere außerdem, ebenso wie die Literatur, auf die er sich beruft, die hohe weibliche Infantizidsrate fehl: Diese sei Zeugnis von enormen Schwierigkeiten zur Existenzsicherung, nicht das Gegenteil davon, wie Pomeranz behaupte (Huang 2002, S. 524–531). Er instrumentalisiere diese Lesart aber, um darzulegen, dass China unter keinem höheren Bevölkerungsdruck gelitten habe als Europa (Huang 2002, S. 531).

Was eines seiner Hauptargumente – Kohle als einer der entscheidenden Faktoren für die entstehende Divergenz – anbelangt, greife sich Pomeranz wiederum aus der Literatur nur die Fakten heraus, die seine These untermauern, und ignoriere alle weiteren. Beim Faktor Kohle sei dies einerseits die Herauslösung aus dem Gesamtkontext (Huang 2002, S. 531–533): Die englische Wirtschaft konnte nur aufgrund des technologischen Entwicklungsstandes die Kohle nutzen (Vries 2001, S. 437). Zudem sei die Kohle eher ein Faktor gewesen, der die Industrielle Revolution am Laufen hielt, keiner, der sie erst in Gang setzte (Vries 2011, S. 15). Andererseits sei Kohle in China in vergleichbarem Maße ebenso verfügbar gewesen – nur die industrielle Nachfrage danach sei später als die in Europa gewachsen (Huang 2002,

S. 531–533). Letztlich könne die Annahme, England und das Jangtse-Delta seien vor 1800 bezüglich ihres (land)wirtschaftlichen Entwicklungsstandes und allen damit einhergehenden Faktoren sehr ähnlich gewesen, nicht aufrechterhalten werden. England sei vielmehr aufgrund seiner fortschrittlichen Landwirtschaft, seiner frühen Proto-Industrialisierung und der damit verbundenen Urbanisierung, Veränderung der demographischen Zusammensetzungen sowie des Konsumverhaltens und seines hohen Wissensstandes bezüglich der Förderung und Nutzung von Kohle – im Gegensatz zu China – bereit für die Industrialisierung gewesen (Duchesne 2004,

S. 71–74; Huang 2002, S. 534). Ein Hauptkritikpunkt bezieht sich deshalb darauf, dass Pomeranz die in der Forschung weithin akzeptierte Meinung, die Industrielle Revolution stütze sich auf eine lange Vorgeschichte an industrieller, kommerziel-

ler, finanzieller und landwirtschaftlicher Entwicklung, leugne und stattdessen die günstige Konstellation globaler und innerstaatlicher Umstände hervorhebe (Vries 2011, S. 15). Daneben wird dem Autor dahingehend widersprochen, dass institutionelle Faktoren eine viel größere Rolle bei der Industriellen Revolution in Europa spielten, als Pomeranz ihnen zuweise (Anderson 2004, S. 446).

Zudem dekliniere Pomeranz seine Argumente nicht bis zum Ende durch: Er nenne die Tatsache, dass China – im Gegensatz zu Europa – keine Zwangskolonialisierung betrieb, als einen Grund dafür, warum dem Land der Zugang zu Ressourcen und Primärprodukten im europäischen Ausmaß verwehrt geblieben sei. Allerdings thematisiere er zu keinem Zeitpunkt, warum China nicht auch eine ähnliche Kolonialpolitik wie Europa betrieb (Kus 2006, S. 435) bzw. mit welch hohen Kosten und Organisationsaufwand diese verbunden sei und damit nicht einfach nur als zufälliger ‚Glücksfall' eingestuft werden könne (Vries 2001, S. 438). Von anderer Seite wird Pomeranz vorgeworfen, er verschweige vollständig Chinas imperialistische Expansionsbestrebungen (Duchesne 2004, S. 76 f.). Ebenso verhält es sich mit dem Argument der Kohlevorkommen in China: Der Verweis auf die ungünstige geographische Lage der chinesischen Kohle und die damit verbundenen Transportkosten begründe nicht zufriedenstellend, warum nicht auch China zu einem früheren Zeitpunkt und in einem höheren Ausmaß seine Kohlevorkommen nutzte (O'Brien 2010, S. 7).

Außerdem werden Zweifel geäußert, ob sich Westeuropa nicht selbst, unterstützend durch seine eigenen Peripherien im Osten und im Süden, mit ausreichend Ressourcen und Primärprodukten hätte versorgen können, d. h. ob die Importe aus der Neuen Welt wirklich den hohen Stellenwert hatten, der ihnen von Pomeranz zugewiesen wird. Wissenschaftler, die diesen Importen zwar eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der industriellen Entwicklung zuweisen, zweifeln dennoch an, ob sie tatsächlich eine Voraussetzung und damit ein Erklärungsfaktor für die Entstehung der Industriellen Revolution waren – gerade weil ein Großteil dieser Ressourcen erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit Dampfschiffen nach Europa importiert worden sei (O'Brien 2010, S. 11; Vries 2011, S. 15). Des Weiteren könnte die Argumentation ebenso auch anders herum gestaltet werden: Durch seine Industrialisierung konnte Großbritannien industriell hergestellte Güter exportieren, um überhaupt für die Importe an Ressourcen bezahlen zu können. Die Industrialisierung wäre dann der Stimulus für den Handel und nicht vice versa (Vries 2011, S. 435).

Die Importe aus der Neuen Welt stellen zudem einen weiteren Streitpunkt dar: Pomeranz stelle zunächst fest, dass das komplette Westeuropa unter ökologischen Engpässen und Ressourcenknappheit leide. Dann zeige er durch seine Kalkulationen, dass Großbritannien dank der importierten Ressourcen einen Ausweg finden konnte. Allerdings bleibe er dabei den Nachweis schuldig, inwieweit das restliche Westeuropa vom Atlantikhandel profitierte (Duchesne 2004, S. 67). Deshalb wird kritisch angemerkt, dass er keine Erklärung dafür bereitstelle, wie etwa Deutschland oder auch Japan – ohne in ähnlichem Ausmaß land-intensive Ressourcen aus der Neuen Welt importieren zu können – ihre ökologischen Engpässe überwinden konnten (Lee 2001, S. 704). Zudem wird angezweifelt, inwieweit Großbritannien den USA, die seit dem späten 18. Jahrhundert unabhängig und souverän waren, wirklich den Preis für die importierten Ressourcen diktieren und sie zum Kauf der britischen Güter zwingen konnte (Vries 2001, S. 429).

An mancher Stelle in der Rezeption werden sogar alle zentralen Thesen, die Pomeranz aufstellt, widerlegt, wodurch The Great Divergence vollständig jegliches Fundament entzogen wird: „The divergence Pomeranz seeks to explain did not begin around 1800, but much earlier; the divergence was not initiated by the British Industrial Revolution; and the later event is not satisfactorily explained by Britain's good fortune in suddenly acquiring ‚coal and colonies'“ (Vries 2011, S. 13). Ein solcher ‚rezensionistischer' Rundumschlag bleibt aber dennoch die Ausnahme.

  • [1] Gerade im Falle der positiven Rezeption des Werkes soll der folgende Abschnitt eher einen ersten Überblick bieten. Vor allem Rezensionen aus dem Dunstkreis von Pomeranz werden hier ausgespart. Ausführlicher mit Rezensionen der Vertreter der ‚California School', die durchweg lobende Worte für The Great Divergence finden, da sie meist die Methodik und die Prämissen mit Pomeranz teilen, befasst sich beispielsweise Duchesne in On the Rise of the West (Duchesne 2004, S. 53, 77–81), um anschließend eine kritische Reflexion des Werkes vorzunehmen.
  • [2] Weitere Vertreter sind zum Beispiel R. Bin Wong oder Andre Gunder Frank (Lee 2001, S. 703).
  • [3] Darin liege aber auch eine gewisse Problematik, da weder Europanoch Chinaspezialisten die von Pomeranz vorgelegte Analyse vollständig beurteilen könnten (Huang 2002, S. 502).
  • [4] An dieser Stelle sollte bedacht werden, dass auch Pomeranz die Forschungsergebnisse von Huang und seine daraus abgeleiteten Thesen in derselben Ausgabe des Journal of Asian Studies scharf angreift (Pomeranz 2002).
  • [5] Huang bezieht sich hier vor allem auf den Anhang E (Pomeranz 2000, S. 316–326), in dem Pomeranz verschiedene Szenarien durchkalkuliert und sich unter anderem auch auf Datenmaterial von Huang stützt – und einigen seiner Einschätzungen entschieden widerspricht.
 
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