The Rise and Fall of the Great Powers oder: Von der
„interaction between economics and strategy“
„The history of the rise and later fall of the leading countries in the Great Power system since the advance of western Europe in the sixteenth century […] shows a very significant correlation over the longer term between productive and revenue-
raising capacities on the one hand and military strength on the other hand“ (Kennedy 1987, S. XVI; Hervorhebung im Original). Es ist diese These einer „signifikanten“ Interdependenz zwischen „economics and strategy“ (Kennedy 1987, S. XV) als Triebfeder des Wandels im internationalen Mächtesystem, die Paul Kennedy seiner Darstellung zugrunde legt; und es ist diese These, die als Deutungsschema eines master narrative über die „anarchic and competitive nature of rivalries between nations“ (Kennedy 1987, S. 536) in der Neuzeit fungiert.
So sehr also dieser Lesart zufolge die wirtschaftliche Basis eines Landes seine militärischen Potentiale relativ zu den konkurrierenden Mächten und damit seine jeweilige Position im System der ‚Great Powers' präformiert, so sehr wohnt dieser verlockenden, weil ‚Macht'[1] verheißenden Konstellation bereits – folgt man Kennedy – der Keim des eigenen Niedergangs inne, der als Folge eines „imperial overstretch“ (Kennedy 1987, S. 536 et passim), einer Überdehnung der eigenen Ressourcen und einer Vernachlässigung ziviler Staatsaufgaben zugunsten forcierter Rüstungsanstrengungen (Kennedy 1989, S. 446 et passim), konzeptualisiert wird. Großmächte, so die Konsequenz, vermögen ihre Position im Mächtesystem immer nur temporär zu behaupten; was folgt, sei stets ein relativer decline, dem noch jede dominierende Macht, ob nun Spanien, Frankreich oder das British Empire, erlegen sei. Und auch die Vereinigten Staaten, so die implizite Pointe des Werks, würden sich angesichts ihres globalen Engagements der Logik der ‚Überdehnung' nicht entziehen können.
Diese bereits größtenteils zu Beginn des Werks skizzierten und im Zuge der empirischen Analyse exemplifizierten und verfeinerten Überlegungen verkörpern für Kennedy eminent historische Trends, die nicht – in Abgrenzung zu einer politikwissenschaftlichen Herangehensweise (Kennedy 1987, S. 536) – den Anspruch kausaler Erklärungen oder „general theories“ (Kennedy 1987, S. XXI) erheben.[2] Vor diesem Hintergrund ist das Forschungsprogramm Kennedys als ein zweifaches zu lesen: Erstens stellt es den Versuch dar, auf Grundlage einer perspektivischen Reduktion – der militärischen Rivalität ‚Großer Mächte' und ihrer ökonomischen Fundierung – den Wandel des internationalen Mächtesystems empirisch zu analysieren; zweitens jedoch beabsichtigt es, hieraus wiederkehrende Muster ableiten und ein Synthesepotential erschließen zu können (Hosking 1989, S. 137; Rostow 1988, S. 863), dessen Gehalt nicht allein historische Aufschlüsse über „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ verspricht, sondern darüber hinaus – und hierauf wird noch zurückzukommen sein – auch eine zumindest tentative Prognosefähigkeit[3] zu erlangen sucht. Kennedys opus magnum eignet somit der Anspruch, anhand des historischen Materials über einen Zeitraum von fünf Jahrhunderten die Triebfeder des Wandels im internationalen System erkennen und beschreiben zu können: die Dynamik von „economic and technological developments“ und ihre „crucial long-term impacts upon the relative military power and strategical position of the members of the state system“ (Kennedy 1987, S. 439).
Kennedys auf einer breiten empirischen Basis fußende historische Darstellung folgt einem chronologischen Narrationsprinzip, dessen Fokus, den Forschungsschwerpunkten seines Verfassers folgend, auf den Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts liegt, zumal sich gerade in dieser Zeit, der Phase von Industrialisierung und Imperialismus, die ökonomisch-militärische Zentrierung der Argumentation besonders plastisch illustrieren und mit entsprechendem Datenmaterial unterfüttern lässt. Zunächst jedoch widmet sich Kennedy der Frage nach den Ursachen des „Rise of the Western World“ (Kennedy 1987, S. 3–30), den er vor allem in der räumlichen Zersplitterung Europas und der daraus resultierenden ökonomischmilitärischen Rivalität der Akteure lokalisiert. Die Singularität der Entwicklung Europas fuße mithin auf einer „combination of economic laisser-faire, political and military pluralism, and intellectual liberty“ (Kennedy 1987, S. 30), die in zentralem Maße das ‚European miracle' befördern half.
Ergänzt um einen geostrategischen Akzent, der jedoch im Fortgang der Darstellung keine tragende Rolle mehr spielt (Schöllgen 1989, S. 3), greift Kennedy zur Skizzierung der frühneuzeitlichen Entwicklungen auf die – vor allem aus der (angelsächsischen) Militärgeschichtsschreibung geläufige – ‚pecunia nervus rerum'These zurück, derzufolge vor allem das Zusammenspiel von ‚military revolution'[4] und Finanzakquise als dynamische (und ‚Staatsbildung' befördernde) Kräfte des 16. und vor allem 17. Jahrhunderts betrachtet werden müssten.[5] Während aus dieser Warte Spanien spätestens infolge des Pyrenäenfriedens von 1659 den „price […] for its original strategical overextension“ (Kennedy 1987, S. 41) zu entrichten gehabt, und Frankreich sich unter Ludwig XIV. einer ruinösen Expansionsund Fiskalpolitik hingegeben hätte, sei vor allem England als historischer Profiteur dieser kontinentaleuropäischen Verwicklungen zu betrachten, der nicht zuletzt durch die Gründung der Bank of England zu einer Rationalisierung und Stabilisierung des staatlichen Finanzsystems gefunden, dadurch neue Handlungsspielräume erschlossen und das Fundament der britischen Dominanz im 19. Jahrhundert gelegt habe (Kennedy 1987, S. 151–158).
Sieht man an dieser Stelle zunächst von einer empirischen Kritik ab, so werden die Grundlinien der Argumentation Paul Kennedys bereits in den ersten Kapiteln deutlich: Wirtschaftliche Struktur und finanzielle Ressourcen scheinen sich, zumindest prinzipiell und keineswegs in allen Ländern in gleichem Maße (Kennedy 1987, S. XV–XVI), in militärische Macht und strategische Dominanz im ‚Konzert der Mächte' konvertieren zu lassen; andere Faktoren, seien sie kultureller, ideeller oder auch personaler Natur, spielen in der Darstellung Kennedys eine auffallend untergeordnete Rolle.[6]
Und dieser Eindruck erhärtet sich in den Folgekapiteln, zumal zunehmend „in an era of modern, industrialized warfare, the link between economics and strategy […] tighter“ (Kennedy 1987, S. 198) wurde: In dieser Optik firmiert vor allem das British Empire als dominierender Akteur, als es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ein „power-political vacuum“ (Kennedy 1987, S. 155) stieß, und auf dieser Grundlage – und angesichts der Schwäche seiner potentiellen Kontrahenten, namentlich Österreichs und Russlands – eine dominierende Stellung unter den ‚Großen Mächte' erringen konnte. Gleichzeitig zwang diese Rolle jedoch – und hieran wird die stete Gefahr der ‚Überdehnung' sichtbar – zu „diplomatic and strategic juggling“ (Kennedy 1987, S. 227) in einem globalen Maßstab, das die Ressourcen Großbritanniens im Vorfeld des Ersten Weltkrieges bereits zusehends zu strapazieren begann (Kennedy 1987, S. 228).
Ausgehend von der These, dass ein langer Krieg vor allem die wirtschaftlich und militärisch überlegenen Mächte begünstige (Kennedy 1987, S. 256), kann es nicht verwundern, dass Kennedy den Ausgang des ‚Großen Krieges' anhand statistischen Materials[7] zu erklären sucht. Im Schatten der überlegenen ökonomischen und militärischen Macht der Alliierten zeichnete sich so spätestens seit 1917, dem Eintritt der USA in den Krieg, eine deutliche Verschiebung im internationalen System ab, die durch die strategische ‚Überdehnung' Großbritanniens und den sukzessiven Aufstieg der Vereinigten Staaten als ‚Großmacht' gekennzeichnet war (Kennedy 1987, S. 248)[8] ‒ ein Trend, der sich im Verlauf des Zweiten Weltkriegs zementierte, zumal „among the Great Powers, the United States was the only country which became richer – in fact, much richer – rather than poorer because of the war“ (Kennedy 1987, S. 358). Doch auch hier sieht Kennedy das Fatum der ‚Überdehnung' am Werk, das gerade am Zenit militärisch-wirtschaftlicher Machtentfaltung seine historische Wirksamkeit dokumentiere: So bliebe lediglich „the blunt fact“ zu konstatieren, dass in der Folge die Vereinigten Staaten durch ihre internationalen Verpflichtungen, analog zu Spanien und Großbritannien zuvor (Kennedy 1987, S. 514–515), „in a degree of global overstretch totally at variance with its own earlier history“ (Kennedy 1987, S. 360) verstrickt wurden. Die „new strategical reality“ (Kennedy 1987, S. 372) des Kalten Krieges führte zwar zu einer Neuorientierung und Neustrukturierung des internationalen Systems, gekennzeichnet vor allem durch den umfassenden bipolaren Gegensatz sowie eine
„political fragmentation of the globe“ (Kennedy 1987, S. 392) infolge des Entkolonialisierungsprozesses –, sie änderte jedoch nichts an dem grundlegenden Mechanismus, „that uneven rates of economic growth would, sooner or later, lead to shifts in the world's political and military balances“ (Kennedy 1987, S. 436–437). Vor dem Hintergrund dieser historischen Erkenntnis sei es demnach als zentrale Aufgabe jener um den Status als ‚Großmacht' ringenden Akteure zu erachten, „a rough balance between these competing demands of defense, consumption, and investment“ (Kennedy 1987, S. 446) zu gewährleisten. Am Beispiel der USA und ihrer prognostizierten düsteren Lage eines ‚relativen Niedergangs' wird dies deutlich: Die immensen Aufwendungen im militärtechnologischen und rüstungswirtschaftlichen Bereich seien zwar temporär dazu angetan, (ein trügerisches Gefühl von) Sicherheit zu garantieren; sie impliziere jedoch die veritable Gefahr, dass die „commercial competitiveness“ hierdurch in einem Maße in Mitleidenschaft gezogen werde, „that the nation will be less secure in long term“ (Kennedy 1987, S. 533; Hervorhebung im Original). Es ist demnach nur folgerichtig, die bereits zitierte und in der Öffentlichkeit hitzig diskutierte Frage, ob denn die USA ihren Status als dominierender Akteur werden aufrechterhalten können, aus der analytischen Perspektive Kennedys mit ‚Nein' zu beantworten: „Each of today's large powers […] is therefore left grappling with the age-old dilemmas of rise and fall, with the shifting pace of productive growth, with changes in the international scene, with the spiraling cost of weapons, with alterations in the power balances“ (Kennedy 1987, S. 540). Dem Fatum der ‚Überdehnung' scheint jedoch kein Entrinnen zu sein.
- [1] Auf die problematische Verwendung des ‚Macht'-Konzepts bei Kennedy verweist Michael Mann in einer Gemeinschaftsrezension mit Anthony Giddens und Immanuel Wallerstein (Giddens et al. 1989, S. 331–335).
- [2] Vgl. Kennedy (1987, S. XXI-XXII): „[T]he evidence of the past is almost always too varied to allow for 'hard' scientific conclusions.“
- [3] Vgl. exemplarisch: Es sei „based upon the plausible assumption that these broad trends of the past five centuries are likely to continue“ (Kennedy 1987, S. 439–440). Und an gleicher Stelle: „In sum, without the intervention of an act of God, or a disastrous nuclear conflagration, there will continue to be a dynamic of world power, essentially driven by technological and economic change“ (Kennedy 1987, S. 440). Kennedy selbst räumt allerdings ein, dass es sich hierbei mehr um „speculation rather than history“ handele (Kennedy 1987, S. 439).
- [4] Vgl. exemplarisch Parker (1976), Roberts (1986) und Rogers (1995).
- [5] Vgl. einführend Reinhard (1992).
- [6] Vgl. die Ausführungen in Kap. 4.
- [7] Vgl. Kennedy (1987, S. 274): Ausgaben in Mrd. US-$: 57,7 (Alliierte) zu 24,7 (Mittelmächte); mobilisierte Truppen in Mio.: 40,7 (Alliierte) zu 25,1 (Mittelmächte). Konkludierend: „What was enjoyed by one side, particularly after 1917, was a marked superiority in productive forces. As in earlier, lengthy coalition wars, that factor eventually turned out to be decisive“ (Kennedy 1987, S. 274).
- [8] Für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zeigt sich Kennedy hinsichtlich der Position der USA im internationalen System noch zurückhaltend: „The United States had definitely become a Great Power. But it was not part of the Great Power system“ (Kennedy 1987, S. 248).