Rezeption und Kritik
Es kann kaum verwundern, dass die Darstellung Kennedys und insbesondere die These eines – wohlgemerkt[1] – (nur) ‚relativen' (Kennedy 1987, S. XV et passim) Niedergangs der Vereinigten Staaten eine schier unüberschaubare Zahl an Besprechungen und Kritiken[2] provozierte, die es hier nicht im Einzelnen aufzulisten gilt. Versucht man sich jedoch an einer Systematisierung der zentralen Aspekte, so lassen sich bei aller gebotenen Vorsicht drei Schwerpunkte der Kritik isolieren: Erstens eine vornehmlich politisch inspirierte Zurückweisung der Niedergangsthese, die in der Regel auf eine fundierte Auseinandersetzung mit dem gesamten Werk verzichtet, und sich vielmehr auf Tendenzen und Probleme U.S.-amerikanischer (Außen-)Politik konzentriert. Zweitens lässt sich (zuweilen hieran anknüpfend) eine vor allem mit wirtschaftshistorischen Argumenten operierende empirische Kritik isolieren, deren Fokus sich auf Validität und Aussagekraft von Kennedys Datenbasis richtet. Von besonderer Bedeutung scheint jedoch eine dritte, vornehmlich konzeptionell-methodisch verfahrende Kritik zu sein, die insbesondere auf den latenten bis offenen ‚Materialismus', ja ‚Determinismus' der Darstellung und die damit korrelierte Ignorierung gesellschaftlich-kultureller Faktoren zielt. Dies gilt es im Folgenden exemplarisch zu rekonstruieren:
Für Samuel P. Huntington liegt der Fall klar: Paul Kennedy sei zum Kreis publizistischer ‚declinists' zu zählen, die sich lieber eines „broad brush“ zur Darlegung ihrer Thesen bedienten, als „testable propositions“ (Huntington 1988/89, S. 77) zu entwickeln; all jene gehorchten dabei im Kern folgenden Prämissen: Die Vereinigten Staaten seien, verglichen beispielsweise mit Japan, in einen ökonomischen Niedergangsprozess verstrickt, der auch auf „other dimensions of national power“ ausstrahle und „primarily by its [the US, FH] spending too much for military purposes“ verursacht sei (Huntington 1988/89, S. 76–77). Indes, „their arguments fail“ (Huntington 1988/89, S. 77): So sei angesichts der Wirtschaftsdaten der Vereinigten Staaten weder von einem bevorstehenden decline auszugehen,[3] noch gebe es belastbare Belege für die These, „that military expenditures are necessarily a drag on economic development“ (Huntington 1988/89, S. 86; Nye 1988, S. 115, 1990, S. 10).
Vielmehr liege, so Huntington, der Nukleus des potentiellen Niedergangs in einer innenpolitischen und, man ist geneigt zu sagen, ‚mentalitären' Disposition begründet: Denn „if the United States falter economically, it will not be because
U.S. soldiers, sailors and airman stand guard on the Elbe, the Strait of Hormuz and the 38th parallel; it will be because U.S. men, women and children overindulge themselves in the comforts of good life. Consumerism is the threat to American strength. The declinists have it wrong; Montesquieu got it right: ‚Republics end with luxury; monarchies with poverty'“ (Huntington 1988/89, S. 87–88). Aus dieser Warte freilich scheint die implizite Charakterisierung der Thesen Kennedys als „defätistisch“ (Kennedy 1988)[4] nur folgerichtig; und so verwundert es nicht, dass Huntington seine Abgrenzung mit einer Beschwörung des „self-renewing genius of American politics“ (Huntington 1988/89, S. 96) schließt.
Exemplarisch macht diese Skizze deutlich, wie Kennedys historisch-systematisch konzipierte Arbeit einerseits auf die Frage nach der Stichhaltigkeit seiner Ausführungen zum decline ‚großer Mächte' und insbesondere der USA reduziert wurde; andererseits geriet damit aber auch die empirische Basis, und das heißt vor allem Kennedys wirtschaftshistorische Perspektive, in den Fokus. Neben der Infragestellung der Signifikanz einzelner ökonomischer Korrelationen, die auch der „difference between the economist's and the historian's use of theory and evidence“ (Ingham 1989, S. 1222) geschuldet sein mochte, trat dabei vor allem die Kritik an Kennedys vermeintlichem „materialism“ (Wallerstein in Giddens et al. 1989, S. 336) in den Vordergrund: Begründete Kennedy selbst seinen spezifischen Zugriff nicht zuletzt damit, dass „the importance of economics“ in der traditionellen militärund diplomatiehistorischen Forschung „much undervalued“ (zit. nach Howard 1988) gewesen sei, so lokalisierte die Kritik gerade hierin eine fatale perspektivische Engführung. Diese führe nicht nur dazu, jegliche nicht-wirtschaftlichen Faktoren auszublenden (McLean 1991, S. 61, 68), sondern darüber hinaus mit „unausweichlichen“, faktisch „determinierten“ Entwicklungen kalkulieren zu müssen (Bredow 1991, S. 766; Richardson 1991, S. 75).
In seinem Guide to Misinterpreters wandte sich Kennedy vehement gegen
„the conservative's attack of ‚economic determinism'“ (Kennedy 1988, 1987,
S. XXIV), indem er vor allem auf die „distinction […] between the impact of economic trends and the causes of those trends“ (Kennedy 1988) verwies. Und in der Tat scheint Kennedys Selbsteinschätzung nicht gänzlich von der Hand zu weisen zu sein, die Ausführungen über den Zusammenhang von wirtschaftlicher Performanz und „wealth and strength of the nation“ seien „more like common sense“ denn als „economic determinism“ (Kennedy 1988) zu interpretieren; das Problem eines ökonomischen Reduktionismus seines Forschungsdesigns lässt sich damit jedoch nur bedingt lösen. Vor allem „motive forces behind economic development“ seien – obschon von Relevanz – in einer riesigen „black box“ (Giddens in Giddens et al. 1989, S. 330) verschwunden; soziale, kulturelle, politische oder auch personale Faktoren würden ignoriert oder zumindest nicht analytisch fruchtbar gemacht (Giddens in Giddens et al. 1989, S. 330), merkwürdigerweise auch die Bedeutung von Allianzen kaum gewürdigt (Mann in Giddens et al. 1989, S. 333–334; Rostow 1988), kurz: Kennedy vernachlässige „those aspects of power that derive from social values and attitudes – the web of human links and loyalties, the sense of identity, the force of commitment and purpose“ (Landes 1988, S. 36).
So zutreffend diese Kritik an der nahezu gänzlichen Absenz ‚weicher' Faktoren auch ist – sie zielt auf einen in der Tat zwar zentralen Aspekt, den Kennedy jedoch hinsichtlich seiner prinzipiellen Relevanz keineswegs negiert (Kennedy 1987,
S. XXIV, 540 et passim, 1988; Hosking 1989, S. 136); vielmehr ist davon auszugehen, dass es Kennedy vor allem darum zu tun war, die aus seiner Sicht bisher unterbelichtete Fundierung der internationalen Politik durch die jeweilige ökonomische Struktur ihrer Akteure – und die damit korrelierte Gefahr, die essentiellen ‚zivilen' Aufgaben von Regierungshandeln zu unterminieren – zu erhellen, ohne diesen Aspekt als einzig wirkmächtigen qualifizieren zu wollen (Kennedy 1987, S. XXIV). Die monierten analytischen Defizite[5] können vor diesem Hintergrund als Preis begriffen werden, den der Autor zugunsten einer Fokussierung auf das „Zusammenspiel von Wirtschaft und Strategie“ (Kennedy 1989, S. 11) entrichtete, entrichten musste.
- [1] Vgl. pointiert Crace (2008): „Two words changed Paul Kennedy's life. That they were just two words in a book of some 150,000, and that the whole phrase was three words long, was neither here nor there. No one was that interested in the qualifying adjective 'relative' when the other two words were 'US' and 'decline'.“
- [2] Dass es bei – politischer und wissenschaftlicher – Kritik nicht blieb, schildert Kennedy in einem Interview mit dem Guardian von 2008 (Crace 2008): „I got thousands of requests for interviews, masses of hate mail and some just weird mail, blaming everything from the Jesuits to sodomy […]. At first I tried to defend my arguments intellectually, and to point out I had been quoted out of context. But then I realised I would drive myself nuts doing this […]. I just decided to let people take whatever they wanted from the book.“
- [3] Vgl. Huntington (1988/89, S. 84): „In short, if 'hegemony' means having 40 % or more of world economic activity […], American hegemony disappeared long ago. If hegemony means producing 20–25 % of the worlds product and twice as much as any other individual country, American hegemony looks quite secure.“
- [4] Rostow (1988, S. 867) spricht von einem „central European pessimism“, der Kennedys Darstellung präge.
- [5] Deutlich Immanuel Wallerstein (Giddens et al. 1989, S. 336–337): „What we have then is an extraordinary harnessing of economic materialism in advocacy of a Whig interpretation of history. […] The problem, when done in a scholarly tome, is that it requires tying together three variables: world military dominance as the dependent variable, national military power as the intervening variable, and economic strength as the independent variable. […] The outcome is an excellent presentation of the intervening variable […], a not always clear picture of the dependent variable […], and no real discussion of the independent variable.“