Die sechs Killer Apps

Table of Contents:

3.1.1 Wettbewerb

Als erste der Killer Apps, die weitgehend chronologisch und inhaltlich aufeinander aufbauen, macht Ferguson den Wettbewerb aus, den er als „decentralization of both political and economic life, which created the launch-pad for both nationstates and capitalism“ (Ferguson 2011a, S. 13) definiert. Ferguson schildert zu Beginn dieses Kapitels nochmals die Ausgangslage Europas im 15. Jahrhundert, das im Kontrast zum reichen und technologisch überlegenen China als unwirtlicher Ort präsentiert wird. Doch während sich das monolithische chinesische Reich in den folgenden Jahrhunderten zunehmend von der Außenwelt abgeschottet habe und in einer starren sozialen Ordnung verharrt sei, was es letztlich zu einem innovationsfeindlichen „Reich der Mittelmäßigkeit“ (Ferguson 2011a, S. 47) gemacht habe, entwickelte sich die Situation in Europa hingegen in eine andere Richtung.

Denn die geographisch bedingte Zersplitterung des Kontinents in eine Vielzahl rivalisierender Staaten brachte laut Ferguson unbeabsichtigt drei Vorteile hervor: Erstens habe deren Konkurrenz Innovationen in der Militärtechnologie befördert sowie zweitens neue Methoden der Staaten zur Erhöhung ihrer Einnahmen hervorgebracht, wobei hierbei nicht nur auf Steuern und Staatsanleihen, sondern auch auf die Praxis der Vergabe von Handelsmonopolen an Kapitelgesellschaften verwiesen wird. Dies habe zudem neue Akteure für den Staat – den Bankier, den Inhaber von Schuldverschreibungen sowie den Gesellschaftsdirektor – hervorgebracht, die die königliche Macht weiter eingeschränkt hätten. Als dritten Vorteil macht Ferguson dann noch das Faktum aus, dass durch diesen beständigen Konflikt kein Monarch in Europa eine so große Macht erlangen konnte, die es ihm erlaubt hätte, die Seefahrt in ferne Länder zu unterbinden – wie es in China hingegen geschehen ist. So mussten letztlich alle Herrscher im Zeitalter der Erkundung der Weltmeere Handel, Eroberung und Kolonisierung fördern, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, im Wettbewerb mit den anderen ins Hintertreffen zu geraten (Ferguson 2011a, S. 37 f.).

Zusammengefasst beförderte also die politische Zersplitterung Europas sowie die Konkurrenz zwischen den europäischen Staaten, deren gleichzeitige Destruktivität Ferguson nicht verschweigt, den Fortschritt und ließ sie nach neuen (maritimen) Möglichkeiten streben, sich politische und wirtschaftliche Vorteile gegenüber den Rivalen in Europa zu verschaffen. Wie der zweite Punkt zudem schon nahelegt, fand der Wettbewerb dann aber auch in den Staaten selbst und auch innerhalb von Städten statt, was beides am Beispiel der Stadt London verdeutlicht wird. China war also gewissermaßen Opfer seiner vermeintlichen Stärke geworden, während Europa gerade aus seiner Schwäche und Uneinigkeit einen Vorteil ziehen konnte (Ferguson 2011a, S. 39, 44).

3.1.2 Wissenschaft

Analog zum Schema des ersten Kapitels steht dem Westen dann auch im zweiten Abschnitt wieder ein Konkurrent gegenüber, in diesem Falle der Islam bzw. das Osmanische Reich, den er mithilfe eines institutionellen Vorteils, der Wissenschaft, hinter sich lässt. Diese Killer App versteht Ferguson als „a way of studying, understanding and ultimately changing the natural world, which gave the West (among other things) a major military advantage over the Rest“ (Ferguson 2011a, S. 13). Den Beginn des westlichen Siegeszuges sieht Ferguson hier in der erfolglosen Belagerung Wiens im Jahr 1683, in Folge derer sich die Osmanen aus fast allen europäischen Ländern zurückziehen mussten. Dabei seien für diesen Niedergang weder wirtschaftliche Gründe noch solche im Zusammenhang mit vermeintlich mangelndem Wettbewerb – wie im Falle Chinas – ausschlaggebend gewesen, sondern eben die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die Kriegführung sowie des Rationalismus auf die Regierungsführung im Westen (Ferguson 2011a, S. 57), was Ferguson vorbildlich bei Friedrich II. verwirklicht sah.

Im Osmanischen Reich habe diese wissenschaftliche Revolution, die ein rein westeuropäisches Phänomen gewesen sei, jedoch aufgrund religiöser Blockade und politischer Widerstände erst mit 200 Jahren Verspätung stattgefunden und selbst dann nur unzureichend (Ferguson 2011a, S. 68 f., 89). Erst der Erste Weltkrieg habe der wissenschaftlichen Revolution unbeabsichtigt wieder Auftrieb gegeben, indem er das Osmanische Reich zerschlug und der Türkei den Weg zur Säkularisierung wies (Ferguson 2011a, S. 92). Fergusons Fazit lautet dann, dass der Abstand zwischen der islamischen Welt zum Westen – am Beispiel seines regionalen Außenpostens Israels – in Fragen der Wissenschaft zwar immer noch beträchtlich sei, sich aber ohne Zweifel ein Aufholen abzeichne (Ferguson 2011a, S. 94).

3.1.3 Eigentum

Die dritte Killer App des Westens stellt dann Eigentum im Sinne von „the rule of law as a means of protecting private owners and peacefully resolving disputes between them, which formed the most stable form of representative government“ (Ferguson 2011a, S. 13) dar. Zur Schilderung dieses Vorteils vergleicht Ferguson die Eroberung und Kolonisierung Nordamerikas durch Großbritannien sowie Südamerikas durch Spanien, womit es sich hierbei letztlich um einen Wettstreit innerhalb der westlichen Zivilisation handelte. Dabei sei der erste Unterschied gewesen, dass erstere vor allem Schuldknechte in der Hoffnung auf ein besseres Leben und letztere Eroberer gewesen seien, die im Auftrag der Krone zur Plünderung gekommen waren (Ferguson 2011a, S. 98 f.). Beide Seiten fanden dann auch auf die für Ferguson zentrale Frage nach der Landverteilung unterschiedliche Antworten: Während in Nordamerika auch arme Siedler die Chance erhielten, durch Arbeit Landbesitz zu erwerben, was zudem auch politische Teilhabe versprach, war ein sozialer Aufstieg in den südamerikanischen Kolonien kaum möglich, da das Land erst im Besitz der Krone und dann in der Hand einer kleinen Elite von Konquistadoren verblieben sei, die darüber hinaus der Bevölkerung die politische Mitbestimmung versagte (Ferguson 2011a, S. 112 f.). Daneben habe Nordamerika mit der Religionsfreiheit die Vielfalt zu einem seiner Organisationsprinzipien erhoben, wohingegen unter spanischer Herrschaft der hierarchische Katholizismus etabliert wurde (Ferguson 2011a, S. 113 f.).

In der Folge nahmen dann auch die Revolutionen in beiden Teilen Amerikas unterschiedliche Verläufe: Im Norden führte sie zur Vereinigung unter den Leitgedanken von persönlichen Eigentumsrechten und demokratischer Teilhabe, im Süden, wo man keine Erfahrungen mit demokratischer Entscheidungsfindung besaß, der Grundbesitz ungleich verteilt war und größere Verwerfungen zwischen den Volksgruppen bestanden, hingegen zur Fragmentierung (Ferguson 2011a, S. 117, 122–125). Dennoch habe es einen Aspekt gegeben, in dem das britische Kolonisierungsmodell dem lateinamerikanischen nicht überlegen war: in der Anerkennung der Legitimität der Sklaverei durch die neue Verfassung – für Ferguson die Erbsünde der neuen Republik (Ferguson 2011a, S. 129). So habe es zwar auch in Südamerika eine nicht weniger grausame Ausbeutung der Sklaven gegeben, jedoch wurde die Rassenmischung anders als in Nordamerika von Anfang an akzeptiert, und darüber hinaus habe für Sklaven die reale Chance bestanden, sich nach Jahren der Arbeit freizukaufen (Ferguson 2011a, S. 133–135). Dabei hätten Sklaverei und Segregation die Entwicklung der USA behindert und zudem soziale Probleme geschaffen, unter denen die schwarze Bevölkerung der USA bis heute zu leiden habe (Ferguson 2011a, S. 138). Ferguson endet dann mit der Beobachtung, dass sich zum einen in den USA die Gesellschaft immer mehr durchmische und zum anderen in Südamerika ein immer größerer Teil der Bevölkerung die Chance bekomme, Eigentum zu erwerben, was zum wirtschaftlichen Aufschwung dieser Staaten geführt habe.

3.1.4 Medizin

Das Kapitel zur vierten Killer App Medizin als „a branch of science that allowed a major improvement in health and life expectancy, beginning in Western societies, but also in their colonies“ (Ferguson 2011a, S. 13) ist dann vor allem ein Kapitel zum Imperialismus. Dabei argumentiert Ferguson, dass das koloniale Projekt der europäischen Staaten durch Krankheitsprobleme bedroht gewesen sei, was wiederum die medizinische Forschung vorangetrieben und Afrika und Asien zu Laboren ebendieser gemacht habe (Ferguson 2011a, S. 170). Denn je mehr Heilmittel man hatte, desto weiter konnte man in neue Gebiete aufbrechen und das eigene Reich vergrößern. Der koloniale Wettlauf sei folglich also auch ein Wettlauf um wissenschaftliche Erkenntnisse gewesen, von denen die Einheimischen dann genauso profitiert hätten wie die Europäer (Ferguson 2011a, S. 173). So seien Krankheiten wie Malaria und Gelbfieber merklich eingedämmt worden, und die Lebenserwartung habe in fast allen asiatischen und afrikanischen Staaten bereits vor dem Ende der europäischen Kolonialherrschaft zugenommen. Begonnen habe dieser Gesundheitswandel in den asiatischen Ländern in den 1890er Jahren sowie in Afrika in den 1920ern (Ferguson 2011a, S. 147).

Einen Großteil des Kapitels wendet Ferguson dann zur Beschreibung von Ereignissen und Anekdoten – von der Französische Revolution über die Napoleonischen Kriege bis hin zu Teilaspekten französischer Kolonialgeschichte – auf, ohne Bezug zum medizinischen Fortschritt zu nehmen. Abschließend schildert Ferguson ferner noch die Schattenseiten des europäischen Imperialismus am Beispiel der deutschen Verbrechen im damaligen Deutsch-Südwestafrika und streift zudem kurz Einzelereignisse aus dem Zeitraum der Weltkriege, um dann in einem erstaunlichen Schwenk das nächste Kapitel einzuleiten:

By 1945, it was time for the West to lay down its arms and pick up its shopping bags

– to take off its uniform and put on its blue jeans. (Ferguson 2011a, S. 195).

3.1.5 Konsumgesellschaft

Mit der mittlerweile global allumfassenden Konsumgesellschaft als „a mode of material living in which the production and purchase of clothing and other consumer goods play a central economic role, and without which the Industrial Revolution would have been unsustainable“ (Ferguson 2011a, S. 13) beschreibt Ferguson dann die Killer App, mit der der Westen letzten Endes die Sowjetunion und den Kommunismus besiegt habe. Dabei habe die Industrielle Revolution in Großbritannien begonnen, da Arbeit dort teuer und zugleich ein Überfluss an leicht abbaubarer Kohle vorhanden gewesen sei, was mehr als andernorts technische Innovationen begünstigt habe (Ferguson 2011a, S. 203 f.). Dieses Angebot traf, so Ferguson, in der ersten Phase der Industrialisierung auf eine immense Nachfrage nach günstiger Kleidung, welche somit im Zentrum des Verwestlichungsprozesses stehe (Ferguson 2011a, S. 198). Die neuen Technologien breiteten sich dann rasch aus, und mit zunehmender Effizienz sei der Maschineneinsatz auch für Billiglohnländer interessant geworden. Zwar stimmt Ferguson dann der Kritik von Karl Marx zu, dass die Ungleichheit in der Folge zunahm, doch habe die Industrialisierung auch den Arbeitern selbst genutzt, da deren Verelendung aus Sicht der ‚Kapitalisten' kontraproduktiv gewesen wäre, da sie in diesem Falle dem Markt nicht mehr als Konsumenten zur Verfügung gestanden hätten (Ferguson 2011a, S. 210).

Als erstes nichtwestliches Land habe dann Japan die Industrielle Revolution, ebenfalls beginnend mit der Textilherstellung, erlebt. Ferguson überfliegt dann den Zweiten Weltkrieg, und angelangt beim Kalten Krieg konstatiert er, dass die zentrale Wirtschaftsplanung des Kommunismus zwar im und für den Krieg effizient, für die Befriedigung der unterschiedlichen Verbraucherwünsche hingegen völlig ungeeignet gewesen sei (Ferguson 2011a, S. 236 f.). In genau dieser Unfähigkeit zur Konsumgesellschaft, die in den USA zum Massenphänomen geworden war, liege daher auch die Ursache für den Zusammenbruch der kommunistischen Staaten (Ferguson 2011a, S. 252). Als einzige Gegenbewegung zur westlichen Konsumgesellschaft sei nunmehr der Islamismus auszumachen, jedoch gibt Ferguson zu bedenken, dass eventuell die größere Bedrohung für den Westen weniger eine äußere Kraft sei, sondern vielmehr das mangelnde Verständnis sowie das fehlende Vertrauen in das eigene kulturelle Erbe (Ferguson 2011a, S. 255).

3.1.6 Arbeitsethik

Im Kapitel zur Arbeitsethik, die er als „a moral framework and mode of activity derivable from (among other sources) Protestant Christianity, which provides the glue for the dynamic and potentially unstable society created by apps 1 to 5“ (Ferguson 2011a, S. 13) definiert, argumentiert Ferguson in Anlehnung an Max Weber, dass der Protestantismus den Westen alphabetisiert und ihm Sparsamkeit und Arbeitsamkeit gelehrt habe. Zudem unterstellt er, dass daneben letztlich wohl alle Arten von wahrem Glauben (also nicht nur formale Zugehörigkeit) mit Wirtschaftswachstum einhergehen würden, vor allem wenn diese mit Vorstellungen von Himmel und Hölle einen starken Anreiz zum Wohlverhalten im Diesseits liefern, da dies gewöhnlich harte Arbeit, gegenseitiges Vertrauen, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Treue und Offenheit gegenüber Fremden fördere (Ferguson 2011a, S. 263 f.). Darauf aufbauend unterstellt Ferguson dann bei drei Entwicklungen einen Kausalzusammenhang: Erstens, dass der Niedergang des Christentums in Europa mit einer nachlassenden Arbeitsleistung dieser Gesellschaften einhergehe – „Europeans today are the idlers of the world“ (Ferguson 2011a, S. 265). Zweitens würde in den unvermindert (protestantisch) gläubigen USA weiter auch mehr gearbeitet (Ferguson 2011a, S. 266–269), und darüber hinaus sei, drittens, der Anstieg der Sparsamkeit und des Arbeitsfleißes in China mit einem zeitgleichen Wachstum des

dortigen Christentums verbunden (Ferguson 2011a, S. 277).

In Anbetracht dessen, dass der Westen mittlerweile den Glauben an die entscheidenden Grundlagen seiner Kultur und seines Erfolges zu verlieren scheine, laufe er nicht nur Gefahr, als hohle Konsumgesellschaft und Kultur des Relativismus zu enden, sondern sei zudem durch radikale Minderheiten bedroht, die Ferguson in den vermeintlich wachsenden islamistischen Gemeinschaften in Europa ausmacht, die die Grundwerte der westlichen Zivilisation ablehnen (Ferguson 2011a, S. 288 f.).

 
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