Rezeption und Kritik
Wie die meisten seiner Werke erfuhr auch Fergusons Civilization eine breite Rezeption, die von Fachzeitschriften bis in die Boulevardpresse reichte, wobei dies– wie bei zahlreichen vorherigen Publikationen – wohl nicht zuletzt auf die dem Buch vorausgehende TV-Dokumentationsreihe zurückzuführen sein dürfte. Diese unstrittig am kommerziellen Erfolg ablesbare große Reichweite des Werkes ging dann auch mit einer ebenso vielfältigen Kritik einher. Positiv hervorgehoben wurde dabei insbesondere Fergusons außergewöhnliche Sprachbzw. Schreibgewalt, mit der es ihm gelungen sei, historische Ereignisse fundiert und zugleich unterhaltend zu erläutern (Kakutani 2011; Münkler 2012). Erfreulich sei daran zudem, dass er hiermit ein in Wissenschaftskreisen intensiv diskutiertes Thema einer breiteren Öffentlichkeit nahegebracht und damit die Debatte bereichert habe (Cussen 2011; Goebel 2012). Doch auch vereinzelte Stimmen, die die Argumentation in Civilization für überzeugend hielten, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Fergusons Antwort auf die „most interesting question a historian of the modern era can ask“ weite Teile des Fachpublikums nicht überzeugte.
Die Kritik setzte hier bereits bei grundlegenden Aspekten des Werks an, wie der Hypothese einer nun zu Ende gehenden 500-jährigen westlichen Vorherrschaft (Ferguson 2011a, S. 257), die in der Forschung hingegen gewöhnlich auf etwa 150 bis 200 Jahre taxiert wird (Porter 2011). Zudem wurde die Begrifflichkeit der Killer Apps – auch abseits ihres reißerischen Charakters – abgelehnt, da diese letztlich sinnwidrig suggeriere, dass besagte Apps wissentlich von einem handelnden Subjekt ‚heruntergeladen' wurden bzw. in Zukunft einfach „heruntergeladen werden können“ (Malcolm 2011; Meyer 2012). Daneben wurde auch die App-bedingte Struktur der Arbeit bemängelt, die 500 Jahre Zivilisationsgeschichte in das Schema der sechs Themen zu zwängen versucht.
Dahingehend wiesen zahlreiche Autoren auf die unpassende Eingliederung vieler Ereignisse unter bestimmten Apps hin, wie beispielsweise die Belagerung Wiens im Kapitel zur Wissenschaft oder die Französische Revolution im Kapitel zur Medizin, das die Gesundheitsverbesserung der westlichen Bevölkerung zudem in nur wenigen Sätzen abhandelt (Cussen 2011; Kakutani 2011; Malcolm 2011). Hinsichtlich des Sinnzusammenhangs der einzelnen Apps ergaben sich dann ebenfalls Einwände. So merkte Goebel an, dass man zwischen Wissenschaft und Medizin keinen substantiellen Unterschied ausmachen könne (Goebel 2012), wohingegen Goldstone betonte, dass die Konsumgesellschaft als Erfolgsfaktor des Westens kaum mit der Sparsamkeit als Kerneigenschaft der Arbeitsethik in Einklang zu bringen sei (Goldstone 2012).
Letzterer bezichtigte Ferguson dann noch weiterer Fehler, wie etwa in dessen Ausführungen zur industriellen Revolution, die er in ihrer ersten Phase als Textilrevolution klassifiziert hatte. Dem hält Goldstone entgegen, dass gerade die Vielfalt an Innovationen in unterschiedlichen Gebieten diesen Zeitraum gekennzeichnet habe. Ferner sei die Konsumgesellschaft keineswegs eine Neuheit gewesen und auch die These vom chinesischen Stillstand seit etwa 1500 hält Goldstone für schlichtweg falsch. Nicht nur habe es Innovationen in der Landwirtschaft, die ein immenses Bevölkerungswachstum bei gleichbleibendem Lebensstandard ermöglichte, sowie bei der Keramik-Produktion gegeben, sondern die vermeintlich im Stillstand befindliche Ming-Dynastie habe außerdem auch den Kaiserkanal sowie die Chinesische Mauer erneuert (Goldstone 2012).
Nicht weniger kritisch beurteilte Bromwich dann Fergusons zweifellos haltlose Ausführungen zu Jean-Jacques Rousseau, dessen Gesellschaftsvertrag er einen de facto falschen Inhalt zuschrieb sowie zur Revolutionsanleitung verklärte und dann seine Kritik an Rousseaus Gemeinwillen noch fälschlicherweise auf Edmund Burke stützte, obwohl dieser gar nicht Burkes Thema gewesen war. Eine ebenso falsche Argumentation machte Bromwich zudem noch bei Fergusons Ausführungen zur vermeintlichen Widerlegung Max Webers durch Sigmund Freud aus, denn letzterer habe Weber in keinem seine Werke erwähnt (Bromwich 2011). Weitere Widersprüche im Kapitel zur Arbeitsethik beschreiben dann Bremm und Malcolm: so distanziere sich Ferguson erst von Webers Protestantismus-These, greife diese dann aber wieder auf; ferner lobe er – als Atheist – die weiterhin bestehende Gläubigkeit der US-Amerikaner, die er ja als Ursache für deren beständigen Arbeitsfleiß sieht, aber er mache weder in der fehlenden Sparsamkeit derselben Personen, noch in seiner eigenen Behauptung, dass deren Glaube unbeständig sei, einen Widerspruch zu seiner Arbeitsethik-These aus (Bremm 2012; Malcolm 2011).
Die mit Abstand schärfste Kritik an Ferguson und Civilization lieferte aber der indische Schriftsteller Pankaj Mishra, der dem Historiker insbesondere vorwarf, dass dieser abermals die Motive des britischen Imperialismus beschönige, damit dessen strukturelle Gewalt verschweige und darüber hinaus Fakten ignoriere, die das Bild der westlichen Blüte verkomplizieren würden (Mishra 2011). In seinem Artikel, der letztlich einen Verriss von Fergusons Gesamtwerk darstellt, rückte Mishra den Schotten zudem in die Nähe rassistischer Denker, woraufhin sich dieser nicht ohne Grund als ein solcher verunglimpft sah. Es folgte eine öffentlich ausgetragene Fehde zwischen beiden, in der Ferguson vergebens eine Entschuldigung von Mishra und dem Herausgeber der London Review of Books, „notorious for its left-leaning politics“ (Ferguson 2011b), einforderte und in der Folge sogar rechtliche Schritte gegen den Inder androhte, ohne dies dann aber in die Tat umzusetzen. Das ganze Werk betreffend war dann die Kritik an Fergusons Polemik, mit der dieser Einzelpersonen wie den „unkempt scrounger“ Marx (Ferguson 2011a, S. 207) genauso belegte wie ganze Gesellschaften – „The Japanese had no idea what elements of Western culture and institutions were the crucial ones, so they ended up copying everything“ (Ferguson 2011a, S. 306). Ferner wurde Ferguson wie bei vorigen Arbeiten vorgeworfen, dass er mit seiner Schilderung der westlichen Überlegenheit politische Führungsansprüche zu legitimieren suche (Goebel 2012). Darüber hinaus bemängelten zahlreiche Rezensenten Fergusons äußerst angelsächsische Interpretation des Westens, die sich abschließend auch in seiner Aufzählung der Grundlagenschriften der westlichen Zivilisation[1] offenbare (Osterhammel 2012) und dazu führe, dass er beispielsweise die Europäische Union völlig unerwähnt lasse (Simms 2011).
Schwerer aber noch wiegt gewiss die eingangs schon angedeutete Kritik am Gesamtwert der Untersuchung. So argumentiert Osterhammel, dass Ferguson zahlreiche historische Einzelfragen zu einem „allumfassenden Superrätsel“ (Osterhammel 2012) zusammengefügt habe, dessen Auflösung aber kein umfassendes Erklärungsmodell für die Überlegenheit des Westens zutage förderte, „sondern bloß lange Listen begünstigender Umstände und singulärer Leistungen“ (Osterhammel 2012) biete, was letztlich auch Kagans Urteil spiegelt (Kagan 2011). Zudem kritisiert Bremm, dass auch die einzelnen Kapitel keine wirklich neuen Erkenntnisse liefern (Bremm 2012). Unwidersprochen blieben dann auch Fergusons abschließende Thesen über den Aufstieg Chinas und den Selbstvertrauensverlust im Westen nicht. So weist Dikötter auf die weiterhin bestehenden strukturellen Defizite Chinas hin (Dikötter 2011), wohingegen Heilbrunn zurecht die Frage aufwirft, ob es statt der unterstellten mangelnden Zuversicht des Westens in die eigenen Werte nicht vielmehr die Hybris der Bush-Jahre und die immensen Kosten der in dieser Zeit begonnen Kriege gewesen seien, die zur jetzigen Lage geführt hätten (Heilbrunn o. J., 2011).
- [1] Er nennt hier neben der King-James-Bibel und Werken von Newton, Locke, Smith, Burke und Darwin noch die Stücke Shakespeares sowie einige Reden Lincolns und Churchills (Ferguson 2011a, S. 324).