Rezeption und Kritik
Die Thesen Samuel Huntingtons hatten insgesamt eine stark ambivalente Resonanz zur Folge. Da sich diese sehr divers gestaltet, kann es im Folgenden nur darum gehen, die grundlegenden Profile dieses Feedbacks zu skizzieren. Zu diesem Zweck werden zunächst die wissenschaftliche und die politische Rezeption gesondert erschlossen, um beide Gedankenstränge anschließend zusammenführen zu können.
4.1 Wissenschaftliche Rezeption
Innerhalb der politikwissenschaftlichen Diskussion gestaltet sich die Aufnahme der Studie im Allgemeinen recht kritisch. Zwar heißen einige Autoren gut, dass Huntington mit dem Artikel und dem Buch die kulturelle Komponente als Einflussfaktor auf Ebene der internationalen Beziehungen aufwerte und auf diese Weise das Konzept der Kulturkreise in die wissenschaftliche Auseinandersetzung zurückhole (Reinprecht 2000; Picht 1994, S. 442; Kühnhardt 1996, S. 118 f.; Jahn 1995, S. 214; Tibi 1994, S. 81; O'Hagan 1995, S. 44; Weeks 2010, S. 67).
Davon abgesehen schlug dem Autor jedoch aus den unterschiedlichsten Richtungen vielschichtige Kritik entgegen, die sich mit den zentralen Thesen beschäftigt und sie auf ihre tatsächliche Belastbarkeit hin analysiert. Betrachtet man das Gesamtbild dieser relativ kritischen wissenschaftlichen Rezeption, so lässt sich diese auf zwei zentrale Ansätze reduzieren, die sich beide gegen fundamentale theoretische Annahmen Huntingtons richten. Sie finden sich zum einen in der Hinterfragung des Konzepts der Kulturkreise, zum anderen in Huntingtons Perzeption der westlichen Zivilisation als machtpolitischer Gegner anderer Kulturkreise und die daraus abgeleitete zentrale Konfliktlinie der Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges.
4.1.1 Huntingtons Konzept der Kulturkreise: Eine Überschätzung des Einflusses kultureller Faktoren auf die Internationale Politik
Gerade dieser erste Ansatzpunkt wirkt als Angriff auf das Fundament von Huntingtons theoretischer Konzeption. In diesem Zusammenhang wird vor allen Dingen sein Kulturkreisbegriff selbst problematisiert. Im Zentrum der Kritik steht hierbei die Religion, die der Autor ja als zentrales Unterscheidungskriterium zwischen den unterschiedlichen Kulturkreisen benennt (Huntington 1996, S. 54 f.). Diese Argumentation erscheint einigen Kritikern nicht nur verkürzend und lediglich für einzelne Kulturkreise, wie den islamischen oder den hinduistischen, tatsächlich haltbar (Stachel 2000, S. 51; Said 2001; Hoffmann 2002, S. 105), sondern sie werde in der Folge auch nicht konsequent als Basis zur Einordnung einzelner Länder in die jeweiligen kulturellen Gruppierungen genutzt (Stachel 2000, S. 51; Manning 1997, S. 39; Çağlar 2002, S. 115). So greift unter anderem Jeane J. Kirkpatrick die Frage auf, warum Länder aus dem lateinamerikanischen Raum, deren Bevölkerung vorwiegend dem Katholizismus angehörte, bei Huntington nicht zum westlichen Kulturkreis gerechnet würden, der nordamerikanische Kontinent jedoch einen integralen Bestandteil dessen ausmache (Kirkpatrick 1993, S. 22 f.).
Vor diesem Hintergrund gerät Huntingtons strikte Abgrenzung einzelner Länder als Teile spezifischer Kulturkreise, die er – vornehmlich in Bezug auf die Religion
– als geschlossene und intakte Einheiten begreift und die sich deshalb genuin als gegnerische Akteure gegenüberstünden, bei einigen Autoren stark unter Beschuss (Ajami 1993, S. 6; Binyan 1993, S. 19 f.; Said 2001; Adib-Moghaddam 2008,
S. 219). Denn Kooperationen, Austauschbeziehungen oder offensichtliche Ähnlichkeiten zwischen diesen kulturellen Gruppen würden dadurch weitestgehend ignoriert. Daran anschließend bemängeln vor allem Robert Manning und Felipe Fernandez-Armesto Huntingtons Ungenauigkeit bei der inhaltlichen Spezifikation der nichtwestlichen Kulturkreise, die die vorgenommene Einordnung bestimmter Nationen in diese kulturellen Gemeinschaften rechtfertigen würde (FernandezArmesto 1997, S. 547 f.). Im Fokus stehen hierbei vor allem der islamische und der konfuzianische Kulturkreis, mit denen sich Huntington in seinen Ausführungen neben dem westlichen Kulturkreis am meisten beschäftigt, jedoch auf eine detaillierte Beschreibung ihrer differierenden Charakteristika verzichtet (Manning 1997, S. 40). Vor diesem Hintergrund gerät der Autor in den Augen einiger seiner Kritiker sogar in den Verdacht, den kulturellen Aspekt durch seine systematische Überbetonung gezielt politisch zu instrumentalisieren (Jackson 1999, S. 144).
Diese einzelnen Punkte der negativen Rezeption vereinend konzentriert sich die fundamentalste Kritik auf Huntingtons Bedeutungsanalyse der Kulturkreise selbst. Seine Annahme, dass nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr Nationalstaaten, sondern vielmehr Kulturkreise die Geschicke der Weltpolitik ausschlaggebend bestimmten, beanstandet insbesondere Fouad Ajami als nicht belastbar und ungenau. Zwar gesteht er zu, dass die internationale Staatengemeinschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in eine neue Phase der Weltpolitik eingetreten sei und kulturelles Zugehörigkeitsgefühl eine erstaunlich starke Bindungskraft entfalten könne. Trotzdem werde sich die Welt auch nach dem Ende des Kalten Krieges vor allem nach den jeweiligen nationalen Machtinteressen (Ajami 1993, S. 9) oder nach sozioökonomischen Faktoren (Nussbaum 1997, S. 165; Senghaas 1994, S. 219) ausrichten. „States avert their gaze from blood ties when they need to; they see brotherhood and faith and kin when it is in their interest to do so“ (Ajami 1993, S. 9).
Zwar reagiert Huntington auf diese (neo-)realistische Kritik, indem er den Staaten selbst auch weiterhin eine zentrale Rolle in der Weltpolitik zuschreibt, relativiert diese jedoch wieder dahingehend, dass er die von ihm definierten sieben bis acht Kulturkreise mit den drei Machtblöcken während der Phase des Kalten Krieges[1] als übergeordnete Einheit gleichsetzt. Ähnlich wie in dieser Ära der Weltpolitik werden Nationalstaaten nicht die Einsamkeit suchen, sondern sich aus unterschiedlichen Gründen miteinander verbinden und auf diese Weise einen Kulturkreis bilden, wodurch diese Gruppierungen als Akteure innerhalb der internationalen Beziehungen an Einflusskraft gewinnen (Huntington 1993a, S. 187).
Die Kritik an Huntingtons Konzept der Kulturkreise beruht letztlich also auf der Problematisierung des die gesamte These tragenden Kulturkreisbegriffs und gipfelt schließlich im Vorwurf der Überschätzung von Rolle und Einflusskraft dieser kulturell geprägten Gemeinschaften auf internationaler Ebene.
4.1.2 Huntingtons Konfliktlinie zwischen‚The West and the Rest': Eine Überschätzung des Westens als Feindbild des Rests
Einen zweiten zentralen Ansatzpunkt der Kritik bildet die von Huntington postulierte Konfliktlinie zwischen dem westlichen und allen anderen Kulturkreisen. Hierbei wird in der Literatur zunächst das Konzept des Westens selbst problematisiert. Zwar trifft Huntington meist auf Zustimmung (Senghaas 1994, S. 216), wenn er den westlichen Kulturkreis mit seinen Definitionsmerkmalen[2] belegt, die in ihrer Existenz als kulturelle Eigenschaften dem Westen zwar nicht exklusiv eigen sind, in ihrer Kombination aber nur dort auftauchen (Huntington 1996, S. 69–72). Jedoch verortet Jakimowitsch hier eine Leerstelle innerhalb Huntingtons Argumentation, der den christlichen Glauben als ausschlaggebendes Merkmal für die Zuordnung der unterschiedlichen Länder zum westlichen Kulturkreis sieht, jedoch von einer Unterscheidung zwischen Protestantismus und Katholizismus absieht (Jakimowitsch 1994, S. 472). Zwar verweist Huntington dabei in seiner Argumentation auf die gemeinsame Entstehungsgeschichte der beiden Konfessionen (Huntington 1993b, S. 30); betrachtet man aber seine Verortung des orthodoxen Glaubens außerhalb des westlichen Kulturkreises und sogar als konstituierend für den orthodoxen Kulturkreis, so hat dieser Vorwurf dennoch Gewicht.
Schwerwiegender noch erscheint jedoch die Kritik an der Darstellung der so genannten Herausfordererkulturen, die sich gemäß Huntington als zentrale Gegenspieler des Westens etablieren und es auf diese Weise schaffen würden, nicht nur den Einfluss der westlichen Akteure zurückzudrängen, sondern sogar seinen Niedergang einzuleiten (Huntington 1996, S. 83–91). Diese Herausforderer, so Huntington, finden sich gerade in der islamischen und konfuzianischen Kulturgruppe, die sich durch die Erlangung eigener Machtressourcen nun in der Lage sähen, dem Westen effektiv entgegenzutreten (Huntington 1996, S. 184). Zwar stimmen einige Autoren der wissenschaftlichen Debatte darin zu, dass nach dem Ende des Kalten Krieges die westliche Welt in eine selbst verschuldete Phase des Verfalls[3] eintrete (Mahbubani 1993, S. 14; Gungwu 1997, S. 38) und sich durch den gleichzeitig fortschreitenden relativen Anstieg der Machtressourcen anderer Kulturkreise auf globaler Ebene eine Machtverschiebung zu Ungunsten der westlichen Nationen entwickele (Hassner 1997, S. 102).
Jedoch weisen Kishore Mahbubani, Liu Binyan und Robert Manning gleichzeitig vehement darauf hin, dass – obwohl die veränderte Ausgangssituation die Möglichkeit bieten könnte – weder der islamische (Manning 1997, S. 40; Mahbubani 1993, S. 12; Chan 1997, S. 139) noch der konfuzianische (Binyan 1993, S. 19 f.; Manning 1997, S. 40) Kulturkreis ob ihrer tiefgehenden Uneinheitlichkeit, die sich in den innerhalb der Kulturgemeinschaften existierenden unterschiedlichen Sprachen, historischen Erfahrungen, Subkulturen und der großen Bevölkerungszahl manifestiere, das tatsächliche Potential besäßen, sich zu einer einheitlichen Kraft zu formieren und sich so erfolgreich gegen den Westen zu behaupten.
Auf der Basis dieser fundamentalen internen Divergenzen ergeben sich deshalb berechtigte Zweifel an Huntingtons Perzeption dieser kulturellen Gemeinschaften als Herausfordererkulturkreise für den Westen, weshalb das Risiko von Auseinandersetzungen an der Bruchlinie zwischen dem westlichen und nicht-westlichen Kulturkreisen, das Huntington als sehr hoch einschätzt, aus dieser Warte nicht gerechtfertigt sei. Vielmehr steige aus der Sicht der Kritiker nach dem Ende der stabilisierenden Effekte des Kalten Krieges die Wahrscheinlichkeit von Konflikten, vor allem aufgrund struktureller und sozioökonomischer Defizite, innerhalb des islamischen und des konfuzianischen Kulturkreises, wodurch die relative Macht, die diese Zivilisationen dem Westen entgegensetzen könnten, wiederum schwinde (Strobl 2000, S. 117; Bartley 1993, S. 16). Ein solches mögliches Szenario sehen auch Stanley Hoffmann (2002, S. 105) und Jeane J. Kirkpatrick (1993, S. 23) von Huntington zu wenig thematisiert.
Daran anschließend gerät auch seine Vision der Erstarkung der indigenen Kräfte als Grundlage für die Entwicklung schlagkräftiger fundamentalistischer Bewegungen, die der Autor vor allem in den angesprochenen Herausfordererkulturen wahrnimmt und als Instrument zur Umsetzung des perzipierten antiwestlichen Willens zur Macht auf internationaler Ebene definiert (Huntington 1996, S. 93–95, 102 f.), in das Kreuzfeuer seiner Kritiker. So stellt Fouad Ajami, der die Existenz extremer antiwestlicher Bewegungen, wie die der islamistischen Fundamentalisten, durchaus wahrnimmt, klar, dass diese nie die notwendige Stärke erreichen würden, die zu einer tatsächlichen Bekämpfung des Westens notwendig sei: Gerade in Ländern wie dem Irak, Algerien, Ägypten oder der Türkei, wo solche Bewegungen wurzelten, würden sie es nicht schaffen, die Mittelklasse von ihrem indigenen Weg zum Fortschritt zu überzeugen, da genau diese vom westlichen Einfluss profitiere. Auf dieser Grundlage setzt er Huntington entgegen, dass solche Bewegungen nur eine kurze Lebensdauer hätten und keine ausschlaggebende Gefahr für den Westen darstellten (Ajami 1993, S. 3 f.).
Eine ähnliche Argumentationslinie verfolgen auch Robert Bartley (1993,
S. 15 f.), Stanley Hoffmann (2002, S. 105) und Liu Binyan. Letzterer erkennt sogar eine gewisse Ironie in Huntingtons Annahme der erstarkten Indigenisierung, wenn der Autor gerade zu der Zeit ein Wiederaufflammen des Konfuzianismus sehe, zu der ein spiritueller Verfall Chinas – einhergehend mit der jahrzehntelangen kommunistischen Herrschaft – kulturelle Fundamente untergrabe (Binyan 1993, S. 21). Darüber hinaus problematisieren einige Autoren, dass Huntington diese Wiederbelebung der indigenen oder fundamentalistischen Anschauungen nur deshalb als mögliche Gefahr für den Westen wahrnehme, weil er in seinem Werk den Islam und fundamentalistische Bewegungen gleichsetze (Axt 1994, S. 104). Der Grad, so die Kritiker, nach dem fundamentalistische Kräfte den Islam repräsentieren, sei in Huntingtons Annahmen stark übertrieben (O'Hagan 1995, S. 27).
Diese Charakterisierung der islamischen und konfuzianischen Perzeption des Westens als klares Feindbild gründet gemäß Huntington auf dem universalistischen Anspruch des westlichen Glaubens, was nicht-westliche Kulturkreise naturgemäß als Provokation verstehen müssten. Jedoch verweist vor allem Ajami darauf, dass Huntington in seiner Argumentation zu stark ausblendet, dass die Eliten dieser nicht-westlichen Kulturkreise dazu übergegangen seien, westliche Werte als Instrumente der Modernisierung wahrzunehmen und diese deshalb in den eigenen kulturellen Rahmen zu integrieren (Ajami 1993, S. 6). Verstärkt werde diese Tendenz durch Prozesse der Globalisierung, insbesondere die Verbreitung der westlichen Popkultur, der englischen Sprache als globales Kommunikationsmittel und der Ausbildung nicht-westlicher Eliten in westlichen Ländern. Auf diese Weise würden sich westliche Elemente, wie moderne Technologie und individuelle Freiheit, zu einem integralen Bestandteil nicht-westlicher Kulturgemeinschaften entwickeln und so ein globales Netz an globaler Kommunikation sowie ökonomischer Interdependenz schaffen (Bartley 1993, S. 16).
In diesem Wirkungszusammenhang sieht Bartley auch den Grund, dass sich die westliche Regierungsform global verbreitet habe und der Grundstein für den Wohlstand nicht-westlicher Teile der Welt gelegt wurde. Denn ökonomische Entwicklung, so Bartley, die kapitalistischen Leitlinien folge, führe zu mehr Wohlstand. Da eine erfolgreiche Umsetzung dieses westlich geprägten wirtschaftlichen Prinzips untrennbar mit anderen westlichen Errungenschaften wie Demokratie und persönlicher Freiheit verbunden sei, steige in nicht-westlichen Ländern das Verlangen nach demokratischen Prinzipien und individueller Autonomie (Bartley 1993, S. 17). „Perhaps Western values are an artifact of an exogenous civilization, but there is a powerful argument that they are an artifact of economic development itself“ (Bartley 1993, S. 17). In der Folge erscheint der Westen, verstanden als Kollektiv charakteristischer Eigenschaften, den Eliten nicht-westlicher Staaten als anzustrebendes Vorbild. Die Werte, die diese Gemeinschaft vertritt, gelten global als erfolgsversprechende Instrumente für wirtschaftlichen Fortschritt (Bartley 1993, S. 17) und können so – entgegen Huntingtons Annahmen – bis zu einem gewissen Grad als universal verstanden werden (Piel 2010, S. 70). „The things and ways that the West took to ‚the rest' […] have become the ways of the world“ (Ajami 1993, S. 6).
Mit dieser Aussage stellt sich die Kritik teilweise vehement gegen Huntingtons These, dass Modernisierung und Verwestlichung in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges ausschließlich getrennt voneinander betrachtet werden könnten. So vertritt Gerard Piel die Ansicht, dass Modernisierung und Verwestlichung nicht – wie bei Huntington angenommen – als gegensätzliche Begriffe gebraucht werden sollten, sondern sich vielmehr gegenseitig bedingten, da das westliche Modell vor allem in Hinblick auf die Umsetzung der zentralen Ziele Entwicklung und Modernisierung aktuell die größten Chancen biete und nicht-westliche Kulturkreise aus diesem Grund genau dieses Modell anstrebten (Piel 2010, S. 70). David Rothkopf fordert vor diesem Hintergrund sogar, dass das amerikanische – verstanden als westliches – Modell der Politik und Wirtschaft in nicht-westliche Kulturkreise exportiert werden sollte, um auf der Grundlage der daraus folgenden Ähnlichkeiten und Verbindungen zwischen staatlichen Systemen unterschiedlicher Kulturkreise die Konfliktwahrscheinlichkeit zwischen solchen Ländern zu reduzieren (Rothkopf 1997, S. 49).
Diesen letzten Ansatz verfolgen auch einige weitere Autoren, indem sie auf die aus ihrer Sicht fehlgeleitete Perzeption des Verhältnisses zwischen Konflikt und Kooperation im Zusammenhang mit der These des Clash of Civilizations verwei-
sen. Huntington stellt dort fest, dass auf der Grundlage der revitalisierten Indigenisierung und der nach dem Kalten Krieg an die Oberfläche tretenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Kulturkreisen der Zustand des Konflikts zu Ungunsten kooperativen Verhaltens zwischen Ländern aus divergierenden Kulturkreisen zunehme (Huntington 1996, S. 183). Dieser Aussage widerspricht die Kritik stark, wenn sie darauf hinweist, dass durchaus eine substantielle Wahrscheinlichkeit bestehe, dass Gemeinschaften unterschiedlicher kultureller Provenienz zusammenarbeiteten und die Zugehörigkeit zu verschiedenen Kulturkreisen nicht von vornherein eine Quelle des Konflikts darstelle. Die Weltpolitik nach dem Kalten Krieg gründe deshalb viel mehr auf der Akzeptanz von Vielfalt als auf einem Krieg der Zivilisationen (Jahn 1995, S. 225; Kramer 1994, S. 163). Rubenstein und Crocker werfen Huntington in diesem Zusammenhang sogar einen gewissen Kulturdeterminismus vor (Rubenstein und Crocker 1994, S. 125), der sich aus seinem zu statisch angelegten Kulturbegriff ergebe (Jahn 1995, S. 225; Adam 1994, S. 445; Thesing 1994, S. 459).
Führt man all diese Argumentationslinien abschließend zusammen, wird deutlich, dass die Wissenschaft seinem Ansatz größtenteils mit Ablehnung gegenübersteht. Lediglich Bassam Tibi, Islamwissenschaftler und ehemaliger Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Göttingen, stimmt in den zentralen Aussagen mit Huntington überein (Tibi 1994, S. 81). Allerdings wird die von Huntington initiierte Revitalisierung des kulturellen Faktors als Machtfaktor auf der internationalen Ebene auch von den Kritikern positiv vermerkt. Vor diesem Hintergrund stellt Arkadius Jurewicz fest, dass „[…] Huntington in den Augen der Kritik mit ‚Kampf der Kulturen' eine nützliche Debatte entfachte, das Werk selbst jedoch nicht aus seinem wissenschaftlichen Gehalt, sondern aus der öffentlichen Wirkung seine Bedeutung speist“ (Jurewicz 2008, S. 51).
4.2 Politische Rezeption
Neben dieser Diskussion auf wissenschaftlicher Ebene spielt auch die politische Rezeption von Huntingtons Studie eine nicht unwesentliche Rolle. Im Fokus steht hierbei einerseits die Möglichkeit der Instrumentalisierung seiner Thesen zur Rechtfertigung für die Lancierung bewaffneter Konflikte, andererseits für die Durchführung westlicher Aktionen auf politischer und ökonomischer Ebene, um vermeintlich feindlichen Maßnahmen anderer Kulturkreise wirkungsvoll entgegentreten zu können.
Einige Stimmen weisen darauf hin, dass Huntingtons Annahmen in einem solchen Zusammenhang dazu missbraucht werden könnten, eine Legitimation für solches Handeln in kulturellen Faktoren zu suchen, obwohl die tatsächlichen Gründe auf ganz anderen Ebenen (ökonomische oder geostrategische Interessen etc.) lägen (Thesing 1994, S. 459). Daran anschließend verweist Hassner darauf, dass die Thesen des Clash of Civilizations gerade von Politikern als wissenschaftliche Grundlage für die Konstruktion neuer Feindbilder und daran anschließend für einen neuen Isolationismus nutzbar gemacht werden könnten (Hassner 1997, S. 107).
Die Gefahren, die Huntington in seiner Vision der Weltpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges als gegeben definiert, sind aus der Sicht der Kritiker in dieser Form noch nicht existent, sondern drohen vielmehr durch die plakativen Thesen des Clash of Civilizations und die dahinter stehende kulturpessimistische Grundhaltung erst produziert zu werden. Die größte Gefahr, die die politische Rezeption vor diesem Hintergrund thematisiert, ist also der unheilvolle Effekt der „self-fulfilling prophecy“ (O'Hagan 1995, S. 29; Rubenstein und Crocker 1994, S. 128).
- [1] Während der Zeit des Kalten Krieges wurden dieser Lesart zufolge der Westen, die Sowjetunion und die Dritte Welt als einheitliche Machtblöcke angesehen, die sich voneinander fundamental unterschieden und einander gegenüberstanden.
- [2] Klassisches Erbe, europäische Sprachen, Säkularismus, Rechtsstaatlichkeit, gesellschaftlicher Pluralismus, Repräsentationsprinzip, Individualismus (Huntington 1996, S. 69–72).
- [3] Der Westen habe innerhalb seines zentralen Wertesystems und seiner Institutionen gewisse Strukturdefizite entwickelt, die diesen Kulturkreis in Relation zu seinen Herausforderern schwächten (Vgl. Mahbubani 1993, S. 14).