Aufstieg und Verfall westlicher Macht
3.1 Definition des‚Empire'-Konzeptes
Hardt und Negri vertreten in ihrem Werk Empir[1] die These, dass mit dem Aufkommen der Globalisierung eine neue Weltordnung entstanden sei, welche mit dem fortschreitenden Untergang von staatlicher Souveränität und deren Bedeutungsverlust gegenüber der Ökonomie einherging. Dies bedeute jedoch nicht, dass diese neue Art der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Ordnung ohne jegliche Form der Souveränität auskomme. Souveränität als Ausdruck von „globale[r] Ordnung“ (Hardt und Negri 2003, S. 9) bleibe weiterhin bestehen, jedoch in neuer Gestalt, dem sogenannten Empire. Der Begriff des Empires ist hier losgelöst von staatlichen Grenzen, es ist „dezentriert und deterritorialisierend“ (Hardt und Negri 2003, S. 11) und umfasst als globale Weltordnung verschiedene Ebenen. Es stellt keine Großmacht im geopolitischen Sinne dar, sondern ist eher ein allumfassendes Konstrukt, welchem man sich theoretisch annähern muss. Hauptcharakteristikum des Empires ist nach Aussage der Autoren „das Fehlen von Grenzziehungen“ (Hardt und Negri 2003, S. 12), sowohl im geographischen und historischen als auch im gesellschaftlichen und zeitlichen Sinne.[2] Im Empire gibt es kein geopolitisches Machtzentrum mehr, kein Nationalstaat kann die Macht in sich vereinen, die Autorität ist das Empire.
3.2 Aufbau des Werkes
Um sich dem Begriff des Empires anzunähern, verfolgen die Autoren einen interdisziplinären Ansatz. Dieses Vorgehen begründen sie mit den fehlenden Grenzen des Empires, welches den Einbezug verschiedenster Themenkomplexe nötig mache. Das Werk ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil beschäftigt sich allgemein mit dem Empire und versucht sich an einer politischen, rechtlichen und kulturgesellschaftlichen Definition dieser Ordnung. Teil II und III thematisieren die Entstehung des Empires in seiner heutigen Form und greifen dabei historisch bis auf die Moderne zurück. Während Teil II die historischen Entwicklungen aus kultureller Sichtweise beleuchtet und vor allem auf den Verfall staatlicher Souveränität und den Übergang zum Empire fokussiert, konzentriert sich Teil III auf den Aspekt der sogenannten „Produktion“ (Hardt und Negri 2003, S. 15). Die Autoren verstehen darunter weitgehend wirtschaftliche Aspekte und beleuchten den Wandel des Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert. Teil IV thematisiert einen möglichen Untergang und Verfall des Empires (Hardt und Negri 2003, S. 14 f.). Zweck der Publikation ist eine gründliche Analyse und Kritik dieser neuen Weltordnung.
3.3 Entstehungsgeschichte des Empires und seine Ausprägung aus rechtlicher Sicht
Um das Empire als Weltordnung zu erfassen, greifen die Autoren auf das Konzept der Vereinten Nationen als Rechtsordnung zurück, welches als Katalysator für die Entstehung des Empires gesehen wird (Hardt und Negri 2003, S. 21). Dies meint nicht, dass das Empire ein Nachfolger des Rechtssystems der Vereinten Nationen ist, sondern eher, dass das Bestehen einer supranationalen Organisation „den Übergang zu einem Weltsystem im eigentlichen Sinn beschleunigt“ (Hardt und Negri 2003, S. 21) und eine Macht außerhalb der Souveränität von Nationalstaaten überhaupt erst denkbar macht. Die Verschiebung von Recht im internationalen Raum, von multilateralen Verträgen hin zu einer „supranationalen Weltmacht“ (Hardt und Negri 2003, S. 25), sehen die Autoren als Kennzeichen der Entwicklung einer neuen Weltordnung, welche auch Auswirkungen auf die innenpolitische Situation der Nationalstaaten hat und dessen Grenzen aufweicht. Auslösender Faktor dieser Entwicklung ist der Akt der Globalisierung, der als einschneidendes Ereignis der Geschichte erlebt wird (Hardt und Negri 2003, S. 24).
Das Rechtsverständnis des Empires ist dabei universell, sowohl zeitlich als auch geographisch: „Das Empire präsentiert seine Ordnung als beständig, ewig und notwendig“ (Hardt und Negri 2003, S. 27). Obwohl diese Ordnung als zeitlich unbegrenzt angelegt ist, sehen die Autoren im Aufstieg des Empires zeitgleich „den Verfall und Untergang“ (Hardt und Negri 2003, S. 35). Die Gründe, die zum Aufstieg des Empires führen, sind gleichzeitig diejenigen Gründe, die seinen Untergang einleiten können, so abwegig dies auch erst klingt. Weiterhin besteht das Empire nicht von selbst, denn erst ausgelöst durch die Globalisierung entsteht und entwickelt es sich (Hardt und Negri 2003, S. 31). Der Expansionsgedanke ist hierbei zentral. Das Empire ist nicht von Anfang an allumfassend und grenzenlos, es expandiert (Hardt und Negri 2003, S. 31). Allerdings nicht von selbst, es muss seine Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen und sich bewähren. Die Autoren sehen in der Erweiterung „des Konsenses und der Zustimmung zur eigenen Macht“ (Hardt und Negri 2003, S. 31) die primäre Arbeit des Empires, um seine Ausdehnung zu gewährleisten.
Der Grund für die Entstehung und das Potential zur Ausdehnung des Empires liegen im Empire selbst begründet, genauer gesagt in seiner „Fähigkeit[.] zur Konfliktlösung“ (Hardt und Negri 2003, S. 31). Der Grundgedanke hierbei ist ähnlich wie bei supranationalen Organisationen. Das Empire bietet somit eine Möglichkeit zur Herstellung von Frieden. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass hier kein staatliches Machtmonopol herrscht, welches andere Staaten sanktioniert. Im Empire gibt es kein territoriales Machtzentrum im geopolitischen Sinne. Nichtsdestotrotz ist diese Weltordnung nicht anarchisch und auch nicht gewaltfrei (Hardt und Negri 2003, S. 32).
Die Autoren verknüpfen bereits zu Beginn der Publikation die Begriffe Frieden und Empire miteinander und weisen gleichzeitig daraufhin, dass es „in der Praxis ein fortwährendes Blutbad ist“ (Hardt und Negri 2003, S. 13). Dieses Paradox erklären beide mit einem Rückgriff auf das herkömmliche Konzept einer imperialen Weltmacht – nicht der Gebrauch von Gewalt formt ein Imperium, eher Gewalt als Machtmittel im Einsatz für höhere Güter, wie beispielsweise Sicherheit, führt zur Entstehung, Ausweitung und Konsolidierung eines Imperiums (Hardt und Negri 2003, S. 31 f.). Dabei ist es unerheblich, ob die Anwendung von Gewalt wirklich der Verfolgung dieser höheren Ziele dient, alleine die Erklärung der Machtausübung im Dienste dieser Ziele ist ausschlaggebend (Hardt und Negri 2003, S. 31). Auch im Empire, trotz seiner Abgrenzung zu historischen Imperien, existiert der Einsatz von legitimer Gewalt (Hardt und Negri 2003, S. 49). Dies umfasst nicht zwingend den Gebrauch von Gewalt als militärisches Machtmittel. Im Vordergrund können moralische Ansprüche stehen.
Die Autoren verweisen dabei beispielsweise auf das Vorgehen von Nichtregierungsorganisationen im 20. Jahrhundert und auf die Interventionen bei innerstaatlichen beziehungsweise ethnischen Konflikten (Hardt und Negri 2003, S. 49 ff.). Diese werden meist moralisch legitimiert und militärisch vorangetrieben, auch außerhalb des Systems der Vereinten Nationen (Hardt und Negri 2003, S. 50 ff.). Die Autoren sehen in diesen Interventionen, welche sie eher als Polizeieinsätze ansehen, den Versuch zur Aufrechterhaltung einer Ordnung, welche „direkt zur Herausbildung der moralischen, normativen und institutionellen Ordnung des Empires beiträgt“ (Hardt und Negri 2003, S. 52).
In der Phase des Überganges spielt das sogenannte imperiale Recht die Hauptrolle, um die Ausbreitung des Empires voranzutreiben (Hardt und Negri 2003, S. 32). Dieses meint nichts anderes als den Wegfall von Grenzen, es gibt keine vermittelnden Institutionen mehr. Dies setzt sich gängigen Theorien und Verständnissen des internationalen Rechts entgegen (Hardt und Negri 2003, S. 40). Das bedeutet nicht, dass das Empire ein rechtloser Raum ist, im Gegenteil, es herrscht das imperiale Recht. An die Stelle des alten Rechts treten Ausnahmezustand und Polizeimaßnahmen, die imperiale Autorität definieren (Hardt und Negri 2003, S. 32). Die Polizeimaßnahmen sind diejenigen Maßnahmen, die eingesetzt werden, um auf die herrschende Krise bei der Durchsetzung des Rechts im Ausnahmezustand, zu reagieren (Hardt und Negri 2003, S. 32).
3.4 Kontrollgesellschaft und Biomacht im Empire
Neben dieser rechtlichen Annäherung an den Begriff Empire versuchen die Autoren das Ganze auch politisch, ökonomisch und gesellschaftlich zu profilieren, soweit dies bei diesem interdisziplinären Ansatz überhaupt voneinander abgrenzbar ist, und greifen dabei auf Foucaults Konzept der Kontrollgesellschaft[3] zurück (Hardt und Negri 2003, S. 37–55). Sie stellen diese mit einer neuen Form der Macht, der sogenannten Biomacht[4], in Zusammenhang (Hardt und Negri 2003, S. 38). Für die Autoren ist die Biomacht „eine Form, die das soziale Leben von innen heraus Regeln unterwirft, es verfolgt, interpretiert, absorbiert und schließlich neu artikuliert“ (Hardt und Negri 2003, S. 38). Beide Konzepte sind elementare Bestandteile des Empires und drücken den Wegfall herkömmlicher Machtstrukturen aus. Im eigentlichen Sinne gibt es im Empire demnach keinerlei staatliche oder supranationale Machtstrukturen und Organe, die ein System aufrechterhalten. Das
Empire als Weltordnung ist ein „einziges einheitliches System“ (Hardt und Negri 2003, S. 41), welches allumfassend ist und dessen Legitimation aus sich selbst resultiert. Der Legitimationsprozess ist fortwährend, endlos und nicht von äußeren Einflüssen abhängig, wie es bei bestehenden supranationalen Organisationen der Fall ist (Hardt und Negri 2003, S. 48).
3.5 Empire als Chance für einen neuen marxistischen Widerstand
Obwohl die Autoren dem System des Empires im Gegensatz zu vorangegangenen Ordnungen durchaus etwas Positives abgewinnen können, ist dies definitiv kein Entwurf für ein erstrebenswertes Utopia, sondern eine Weiterentwicklung in Bezug auf frühere weltpolitische Ordnungen (Hardt und Negri 2003, S. 57). Sie sehen die Entstehung des Empires in der Tradition des historischen Aufbegehrens gegen kapitalistische und imperialistische Strukturen der Moderne, beziehungsweise sogar als „Antwort [Hervorh. d. Verf.] auf die verschiedenen Kämpfe gegen die modernen Machtmaschinen […], insbesondere auf den Klassenkampf“ (Hardt und Negri 2003, S. 57). Dies bedeute nicht automatisch, dass mit dem Empire die Unterdrückung des Proletariats aufhöre und der Klassenkampf nach Marx obsolet werde. Auch im Empire gebe es „Machtverhältnisse, die auf Ausbeutung beruhen“ (Hardt und Negri 2003, S. 57) und sogar grausamer seien als in den Weltordnungen davor. Nichtsdestotrotz ist für Hardt und Negri das Empire, ausgelöst durch die Globalisierung, ein Fortschritt gegenüber den vorangegangen Systemen (Hardt und Negri 2003, S. 57).
Die beiden verweisen mit ihrer Einschätzung des Empires auf Marx' Bewertung des Kapitalismus. Laut Hardt und Negri ist „das Empire an sich [Hervorh. d. Verf.], aber nicht für sich [Hervorh. d. Verf.] gut“ (Hardt und Negri 2003, S. 56). Sie wenden sich damit in ihrer Haltung zur Globalisierung gegen die geläufige Position linker Intellektueller und Neomarxisten, die diese in ihrer Gesamtheit ablehnen (Hardt und Negri 2003, S. 58 f.). Die Autoren erfassen Globalität als Vielfalt und Möglichkeit des neuen Widerstandes (Hardt und Negri 2003, S. 57 ff.). Sie sehen die linke Ablehnung dieser Entwicklung daher als nicht konstruktiv an, da sie sogar den Kapitalismus stärke (Hardt und Negri 2003, S. 59). Für die Autoren ist das Empire keine positive und erstrebenswerte Ordnung. Sie erkennen aber Potential in ihm. Dieses stecke in der Struktur und Natur des Empires, welche eine neuartige Form des Widerstandes zulasse und damit auch eine andere Form des Klassenkampfes und der Revolution (Hardt und Negri 2003, S. 57 ff.).
Statt – wie in der linken Szene üblich – die Globalisierung als Gegner zu identifizieren, demaskieren beide den neuen Feind in der globalen Machtstruktur, dem Empire, welches aber gleichzeitig neue „Potenziale der Befreiung“ (Hardt und Negri 2003, S. 59) eröffne. Diese ergeben sich laut Hardt und Negri primär aus zwei Faktoren: zum einen aus einer neuen Klasse der Arbeiterschaft, zum anderen aus dem strukturellen Aufbau des Empires. Mit der veränderten weltpolitischen Situation verändere sich auch die Arbeit als politisches Konzept und somit das Proletariat, weshalb es für die Autoren wenig sinnvoll ist, sich an alten Strukturen und Ideen festzuklammern (Hardt und Negri 2003, S. 66 f.). Das neue Proletariat8 ist weitergefasst und beinhaltet alle Individuen, deren „Arbeitskraft direkt oder indirekt [in einem kapitalistischen System, LW] ausgebeutet wird“ (Hardt und Negri 2003, S. 66). Damit vervielfältigen sich die Möglichkeiten zu neuartigen sozialen Bewegungen und einer neuen Art des Kampfes (Hardt und Negri 2003, S. 69), beziehungsweise der Kämpfe der Menge, die als Multitude9 bezeichnet wird. Ein allumfassendes System ist auch gleichzeitig allumfassend angreifbar[5].
3.6 Verfall staatlicher Macht und Aufstieg des Empires
Bevor die Autoren genauer auf die Möglichkeiten zu Verfall und Untergang des Empires eingehen, zeichnen sie dessen Aufstieg anhand des Machtverlustes staatlicher Souveränität nach. Wie bereits festgestellt, begünstigen die Aufweichung staatlicher Souveränität und damit der hierarchischen Machtstrukturen eine Ausweitung des Empires. Es sei jedoch wichtig festzuhalten, dass der zunehmende Machtund Bedeutungsverlust der Nationalstaaten sowie das Ende des Kolonialismus keineswegs der Auslöser zur Entstehung des Empires waren. Dies sei eher „Symptom“ (Hardt und Negri 2003, S. 10) als Grund oder Folge des Empires. Der Verfall nationaler Macht zeige den „Übergang vom Paradigma moderner Souveränität zum Paradigma imperialer Souveränität“ (Hardt und Negri 2003, S. 150), von Moderne zu Postmoderne und weiter an, und damit den Aufstieg des Empires[6].
Dieser Paradigmenwechsel wurde durch den Kapitalismus vorangetrieben (Hardt und Negri 2003, S. 163 f.). War die moderne Souveränität nach Hardt und Negri eine Ordnung, die sich durch Grenzziehung und Abgrenzung definierte,
„eine Form binärer Aufteilung“ (Hardt und Negri 2003, S. 163), die mit Kategorien wie draußen und drinnen, schwarz und weiß operierte, versuche der Kapitalismus genau diese Grenzziehungen aufzuheben. Der Kapitalismus profitiere von fehlenden Grenzen. Ohne diese sind Handel sowie Vertragsabschlüsse einfacher und damit auch die Erträge höher, und Gewinne können maximiert werden. Im kapitalistischen Idealfall gibt es keine nationalen Märkte, sondern nur einen Weltmarkt (Hardt und Negri 2003, S. 163). Die Ausbreitung des Kapitalismus führte demnach zur Aufweichung staatlicher Machtgrenzen und in der langfristigen Folge zum Machtverfall staatlicher Souveränität (Hardt und Negri 2003, S. 163, 201).
Umgekehrt gilt auch, dass die Aufweichung staatlicher Souveränität den Kapitalismus weiter fördert (Hardt und Negri 2003, S. 163, 201). Mit einer Aufweichung dieser Grenzziehung verschwimmen auch Differenzierungen wie Innen und Außen und lösen sich schließlich auf, was „bedeutsame Folgen für die gesellschaftliche Erzeugung von Subjektivität“ (Hardt und Negri 2003, S. 207) habe. Generell verschieben sich die geopolitischen Machtzentren in dieser Phase des Übergangs, es bilden sich globale Netzwerke der Macht heraus, bis hin zum Empire. Das Empire wird als nichts anderes als ein globales Netzwerk gesehen, allumfassend und dezentralisiert (Hardt und Negri 2003, S. 11). Dies zeige sich auch in seinem Umgang mit Differenzen und Abgrenzungen. Zwar wird das Empire immer als grenzenlos angesehen, trotzdem gibt es auch in ihm Differenzierung, nur wird mit ihnen anders umgegangen. „Der allgemeine Apparat imperialer Befehlsgewalt besteht […] aus drei unterschiedlichen Momenten: einem einschließenden, einem unterscheidenden und einem koordinierenden“ (Hardt und Negri 2003, S. 209).
Dies bedeutet nichts anderes, als dass zum einen Abgrenzung bezüglich Rasse, Sexualität, Geschlecht und Religion als unwichtig wahrgenommen werden. In „seiner Akzeptanz ist es [das Empire, LW] absolut indifferent“ (Hardt und Negri 2003, S. 210) und nimmt damit die Möglichkeit zur Entstehung sozialer Konflikte und Entstehung verschiedener Subjektivitäten. Gleichzeitig werden aber kulturelle Unterschiede betont, die aus politischer und rechtlicher Sicht die Einheit des Empires nicht infrage stellen. Dazu gehört die Förderung von „regionalen Identifikationen“ (Hardt und Negri 2003, S. 211), welche kein Konfliktpotenzial haben und demnach die Netzwerkmacht nicht durch soziale Konflikte bedrohen können. „Dem unterscheidenden Moment imperialer Kontrolle müssen jedoch noch die Koordinierung und Hierarchisierung dieser Differenzen in einer allgemeinen Befehlsökonomie folgen“ (Hardt und Negri 2003, S. 211). Mit dieser Strategie schaffe das Empire eine allumfassende Ordnung, die sich grundlegend von dem Machtsystem der Moderne mit dem zentralen Begriff der nationalstaatlichen Souveränität unterscheide (u. a. Hardt und Negri 2003, S. 198 f., 207).
Den Vorreiter für den Übergang von moderner zu imperialer Souveränität sehen die Autoren in der amerikanischen Revolution und der Verfassung der USA (Hardt und Negri 2003, S. 172). In der amerikanischen Verfassung komme es zum Bruch mit der europäischen Tradition der Moderne, und an ihre Stelle trete die Evolution imperialer Souveränität (Hardt und Negri 2003, S. 172). Konzepte wie Immanenz und ihre Verknüpfung mit der Produktivität sowie Ideen zur Netzwerkmacht treten in den Vordergrund und lösen die Ideen der europäischen Moderne zu Macht und Herrschaft ab (Hardt und Negri 2003, S. 172–194).
Die Autoren grenzen sich mit diesem Diskurs imperialer Souveränität von den Ideen und Konzepten postmoderner und postkolonialistischer Theoretiker ab (Hardt und Negri 2003, S. 150 f.). Ihrer Meinung nach besteht „die moderne Form der Macht“ (Hardt und Negri 2003, S. 150), die so vielfach analysiert und kritisiert wird, nicht mehr. Dies führe dazu, dass „die postmodernen und postkolonialistischen Strategien, die als befreiend erscheinen“ (Hardt und Negri 2003, S. 151), die Realität der neuen Machtstrukturen verkennen und somit statt neue Wege der Revolution und Änderung die herrschenden Strukturen verstärken (Hardt und Negri 2003, S. 151). Hardt und Negri sehen in ihrem Vorgehen deshalb den richtigen Weg zu Veränderungen.
Der erste Schritt ist dabei die Anerkennung und Analyse einer neuen Ordnung, die von postmodernen Theorien abweicht, dem Empire. Nur durch das Verständnis dieser neuen Ordnung könnten mögliche Gegenentwürfe und Alternativen herausgearbeitet werden. Beide Autoren weisen jedoch darauf hin, dass trotz eingehender Analyse bisher keine „schon bestehende und konkrete politische Alternative zu Empire“ (Hardt und Negri 2003, S. 218) existiere. Die Ideen zum Widerstand, die sie herausarbeiten, seien lediglich theoretisch, und ein wirklicher Gegenentwurf zur globalen Ordnung des Empires werde sich erst aus der Praxis ergeben (Hardt und Negri 2003, S. 218). Der Widerstand muss, laut Hardt und Negri, dabei auf einer ähnlichen Ebene, wo auch das Empire operiert, ablaufen, also im globalen Raum (Hardt und Negri 2003, S. 218). Regionale Bewegungen können dem Empire wenig entgegensetzen (Hardt und Negri 2003, S. 218).
3.7 Entstehungsgeschichte des Empires und seine Ausprägung aus ökonomischer Sicht
Eine zentrale Rolle für den Widerstand spielt laut Hardt und Negri die Arbeiterschaft. Aus diesem Grund reflektieren die Autoren die Entstehungsgeschichte des Empires auch aus ökonomischer Perspektive und mit Fokus auf den Imperialismus und unter Einbezug des Klassenkampfes. Hauptidee ist dabei, dass die „Subjektivität im Klassenkampf […] den Imperialismus zum Empire“ (Hardt und Negri 2003, S. 247) verwandele. Sie greifen dabei vor allem auf die Werke und Grundideen von Marx und anderen marxistischen Theoretikern zurück (u. a. Hardt und Negri 2003, S. 244–249).
Sie sehen die Anfänge des Empires nach der Revolution in Russland 1917 (Hardt und Negri 2003, S. 252). Mit dem Umschwung stand der Kapitalismus am Scheideweg, und es gab zwei Möglichkeiten, wie seine zukünftige Entwicklung ablaufen konnte: „Kommunistische Weltrevolution oder die Wandlung des kapitalistischen Imperialismus zum Empire“ (Hardt und Negri 2003, S. 252). Wie die Geschichte zeigte, entwickelte sich der Kapitalismus entlang des zweiten Weges. In den Nachkriegsjahren des Zweiten Weltkrieges kristallisierten sich drei Entwicklungen heraus, die zum einen die jeweilige Weiterentwicklung zum Empire als auch dessen Funktionszusammenhänge charakterisiert (Hardt und Negri 2003, S. 256–260). Dazu zählen die Entkolonialisierung, die langsame „Dezentralisierung der Produktion“ (Hardt und Negri 2003, S. 256) sowie die Herausbildung neuer internationaler Strukturen und Institutionen.
Allen drei ist gemeinsam, dass sie die Grenzen herrschender staatlicher Machtstrukturen auflösten und sowohl den Kapitalismus in einer neuen Form als auch die Entstehung des Empires vorantrieben. An Stelle staatlicher Machtstrukturen gewann „der Weltmarkt als Hierarchieund Kommandostruktur an Bedeutung“ (Hardt und Negri 2003, S. 263). Ende der 60er Jahre und vor allem in den USA mit dem Vietnamkrieg fand sich der Kapitalismus in einer Krise wieder (Hardt und Negri 2003, S. 271 f.). Die Autoren beschreiben, dass es zu diesem Zeitpunkt in zahlreichen kapitalistischen Staaten zum Aufstand der Arbeiter kam, beispielsweise durch Streiks (Hardt und Negri 2003, S. 273). Dies habe zu einer „Vereinheitlichung des Proletariats“ (Hardt und Negri 2003, S. 273) geführt.
Um den Kapitalismus aus der Krise zu führen, gab es demnach die Möglichkeit, technische Neuerungen einzuführen, mit Repressionen zu arbeiten oder einen Lösungsweg zu wählen, „der die veränderte Zusammensetzung des Proletariats selbst [Hervorh. d. Verf.] berührte und darauf setzte, dessen neue Praxisformen zu integrieren, zu beherrschen und von ihnen zu profitieren“ (Hardt und Negri 2003, S. 278). Generell verschob sich das Produktionszentrum der Arbeit von Landwirtschaft zu Industrie und schließlich zu Dienstleistung, Information und Technologie. Immaterielle Arbeit, also Arbeit, die die Produktion immaterieller Güter wie Wissen oder Dienstleistungen zum Zweck hat, gewinnt an Bedeutung und tritt in den Vordergrund (Hardt und Negri 2003, S. 296–303). Die Phase der Postmodernisierung ist dabei von einer Informatisierung der Produktion gekennzeichnet (Hardt und Negri 2003, S. 297). Länder, die hier nicht mithalten können, fallen ökonomisch hinter Staaten wie die USA, Kanada und Großbritannien zurück (Hardt und Negri 2003, S. 299). Dies verändert auch die Arbeitsstruktur an sich, vor allem in Hinblick auf Arbeitsqualität und -abläufe: „Information und Kommunikation haben eine fundamentale Rolle im Produktionsprozess eingenommen“ (Hardt und Negri 2003, S. 300).
Als Folge all dieser Entwicklungen entstehen neue Netzwerke und transnationale Konzerne, die im Bereich der Informationstechnologie um eine Vormachtstellung konkurrieren und demnach Kontrolle sowie in gewissem Sinne auch Herrschaft außerhalb der nationalstaatlichen Struktur ausüben (Hardt und Negri 2003, S. 307, 315). Neben die Staaten treten in der Phase des Übergangs also auch transnationale Konzerne und verändern die Beziehung zwischen Staat und Kapitalismus (Hardt und Negri 2003, S. 315). Damit einhergehend ist der Bedeutungsverlust der Zivilgesellschaft ein Dilemma internationaler Organisation, was die Entstehung des Empires weiter vorantreibe, indem er zur Auflösung von Grenzen beitrage. (Hardt und Negri 2003, S. 320–324, 341). Gleichzeitig fördere diese Entwicklung auch die Unterdrückung der Arbeitskraft, da statt einem regionalen ein globaler Wettbewerb stattfinde, beispielsweise um Lohnkosten (Hardt und Negri 2003, S. 346 ff.).
Die ökonomische Entwicklung definiert sowohl Arbeit an sich, die Arbeitsund Kommunikationsprozesse und schließlich auch die Arbeiterschaft neu. Ausbeutung der Arbeit und Unterdrückung des Proletariats bleiben weiterhin bestehen, sie verändern nur Form und Struktur. Genau hier komme es jedoch nun zu Kritik im Empire, es formiere sich Widerstand (Hardt und Negri 2003, S. 391 f.). Das Empire birgt Konfliktpotenzial auf allen Ebenen, da es auch alle Ebenen umfasst. Der bereits dargestellte Wegfall von Grenzen und Differenzen der Moderne im Empire beseitigt auf der einen Seite Konfliktpotenziale, schafft aber gleichzeitig neue.
3.8 Verfall des Empires
Die Autoren bekennen, dass der Aufstieg und die Entwicklung des Empires gleichzeitig seinen Niedergang einleiten (Hardt und Negri 2003, S. 35). Wie dieser Verfall genau aussieht und welche Alternativen zum Empire sich entwickeln, darauf geben Hardt und Negri in dem Auftakt ihrer Trilogie jedoch keine konkrete Antwort. Dies liegt hauptsächlich daran, dass sie zum Zeitpunkt der Erstellung des Werkes keinen realexistierenden Gegenentwurf zum Empire sehen (Hardt und Negri 2003, S. 93, 218). Und auch die theoretischen Überlegungen in der wissenschaftlichen Forschungslandschaft sind in dieser Hinsicht recht eingeschränkt. Hardt und Negri sehen dafür zwei Gründe: zum einen die Vorstellung von der Unendlichkeit des Kapitalismus und zum anderen die Trostlosigkeit anderer Theorien, die lediglich Anarchie als Vorschlag einer Alternative vorlegen (Hardt und Negri 2003, S. 393).
Von beiden Positionen grenzt sich das Autorengespann ab. Sie treten vehement für ein Ende der „Mystifikation“ (Hardt und Negri 2003, S. 93) des Kapitalismus in seiner Unendlichkeit ein und sehen genau im Empire die Möglichkeit seines Endes. „Das Empire schafft ein größeres Potenzial für Revolution als die modernen Machtregime“ (Hardt und Negri 2003, S. 400). Durch seine Omnipräsenz sei es allumfassend von innen heraus angreifbar, durch seinen Netzwerkcharakter könnten sich Netzwerke des Widerstandes organisieren, durch seine fehlenden Vermittlungsinstanzen sei es direkt angreifbar – durch das Verschmelzen von „Produktion und Leben im imperialen Bereich der Biomacht […] kommt der Klassenkampf potenziell in allen Lebensbereichen zum Ausbruch“ (Hardt und Negri 2003, S. 410). Die Möglichkeiten der Multitude zur Revolution sind also vielfältig. Die Autoren sind sich einig: „Diese Revolution wird keine Macht kontrollieren können – weil Biomacht und Kommunismus, Kooperation und Revolution in Liebe, Einfachheit und auch in Unschuld vereint bleiben. Darin zeigen sich die nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein“ (Hardt und Negri 2003, S. 420).
- [1] Im Folgenden wird auf die deutsche Ausgabe des Werkes (Hardt und Negri 2003) zurückgegriffen. Abweichungen zum englischen Original werden kenntlich gemacht.
- [2] 5 Zum besseren Verständnis muss hierbei angemerkt werden, dass das Empire als Konzept und Endprodukt allumfassend und grenzenlos ist, es existiert jedoch nicht, sondern entsteht. Mit dieser Entstehung einhergehend sind dem Empire anfangs sehr wohl Grenzen gesetzt, welche mit der Expansion langsam aufgelöst werden. Die Autoren grenzen dies nicht immer klar voneinander ab. Dies ist dem Anspruch des Empires nicht als reines theoretisches Konzept, sondern als realer globaler Weltordnung geschuldet.
- [3] Das Konzept der Kontrollgesellschaft ist nach Meinung der beiden Autoren eine Erweiterung der Disziplinargesellschaft. Letztere wird charakterisiert durch Institutionen, wie Schulen, Gefängnisse, Fabriken oder Kliniken, welche Normen für Verhalten aufzeigen und nicht der Norm entsprechendes Verhalten abstrafen (Hardt und Negri 2003, S. 38). In der Kontrollgesellschaft verlieren diese Institutionen ihre Grenzen und weiten sich aus (Hardt und Negri 2003, S. 38). Die Ausübung der Disziplinarmacht wirkt direkt auf den einzelnen Bürger. Es findet demnach eine „Intensivierung und Verallgemeinerung der normalisierenden Disziplinarmechanismen“ (Hardt und Negri 2003, S. 38) statt.
- [4] Hardt und Negri greifen auch bei diesem Begriff auf Foucaults Konzept der Biopolitik (Foucault 1977−86) zurück, interpretieren es jedoch neu, da sie das ursprüngliche Konstrukt als zu „strukturalistisch […]“ (Hardt und Negri 2003, S. 42) einschätzen.
- [5] Da das Empire grenzenlos ist, kann es keinen Angriff von außen geben, sondern nur von innen (Hardt und Negri 2003, S. 400). Durch die fehlenden hierarchischen Strukturen dieses Ordnungssystems ist es jedoch von überall her aus dem Inneren angreifbar (Hardt und Negri 2003, S. 400).
- [6] Neben dem Machtverlust staatlicher Souveränität sehen die Autoren auch das Aufkommen des Fundamentalismus seit dem Ende der Sowjetunion als Symptom dieses Paradigmenwechsels (Hardt und Negri 2003, S. 159).