Auflösung
Unterdessen erschienen 1996 125 und 1997 139 professionell produzierte Tonträger in der deutschen RechtsRock-Szene, mehr als zwischen 1984 und 1995 zusammen genommen. Gemessen an diesen ›offiziellen‹ Veröffentlichungen erlebte dieses Spektrum 1998 seinen bisherigen Höhepunkt: 152 verschiedene Titel wurden in jenem Jahr veröffentlicht. In den Texten der Lieder deutete sich langsam ein Orientierungswandel an. Die Identifikation mit dem Skinhead-Lebensstil nahm zu Gunsten eines positiven Bezugs auf die neo-nationalsozialistische Bewegung beziehungsweise den
›Nationalen Widerstand‹ ab. Aus der Musik als kulturellem und politischem Ausdrucksmittel der extrem rechten Skinheads wurde zunehmend Agitationsmusik, deren Adressatenkreis immer offener formuliert wird. Heute richten sich die Songs nur noch selten an neonazistische Skinheads, angesprochen werden vielmehr die ›deutsche Jugend‹, ›national Gesinnte‹ oder einfach nur politisch Unzufriedene. Hier liegt der Ausgangspunkt jener sich von einer spezifischen jugendkulturellen Ausdrucksform (Skinhead) emanzipierenden extrem rechten Jugendkultur, die heute mehr oder weniger offen steht für alle, die sich irgendwie als ›rechts‹ und ›national gesinnt‹ verstehen. Die Schwelle, um sich mit ihr zu identifizieren, ist dafür deutlich herabgesetzt worden.
NPD auf dem Weg zur Partei der Jugend
Gleichzeitig begann sich die NPD unter Voigt ab 1996 aktionsorientierter zu präsentieren. Damit vermochten sie die jungen Neonazis und Anhänger der Skinheadszene anzusprechen. Einen Durchbruch markierte jener am 1. März 1997 organisierte Aufmarsch gegen die seinerzeit in München gastierende Ausstellung "Vernichtungskrieg – Die Verbrechen der Wehrmacht" (vgl. Virchow 2006: 77 ff.). Dem Aufruf folgten 5 000, vor allem jüngere Anhänger zwischen 18 und 30 Jahren. Im Rahmen des im weiteren Verlauf des Jahres beschlossenen "Drei-Säulen-Modells" (vgl. dazu den Beitrag von Christoph Schulz in diesem Sammelband) und dessen erster Säule, dem "Kampf um die Straße", gelang es der NPD sich als wichtige Parteistruktur zu präsentieren und sich als zentraler Organisator von extrem rechten Aktionen im öffentlichen Raum zu etablieren. Immerhin, von den 579 zwischen 1997 bis 2004 organisierten Aufmärsche aus dem extrem rechten Spektrum gehen rund die Hälfte auf die NPD zurück (ebd.: 76). Die Partei ist damit zu einem der maßgeblichen Mobilisierungsunternehmer herangewachsen. Es gelang ihr ferner zwischen 1996 und 1999 ihre Mitgliederzahl zu verdreifachen. Voigt führte diesen Erfolg, wie er 1999 erklärte, "auf die Öffnung der NPD und die Bereitschaft [zurück], über Parteiengrenzen hinweg mit anderen nationalen Gruppen zusammen zu arbeiten", sowie "vermehrt Großdemonstrationen [und] Öffentlichkeitsarbeit durchzuführen [und] die Jugend anzusprechen" (Voigt 1999: 55).
Auf dem ersten "Tag des nationalen Widerstandes" in Passau 1998 mit 4 000 Besuchern – die seit mindestens 25 Jahren "größte Hallenveranstaltung der Partei" (vgl. Hoffmann 1999: 273) – traten eine bayrische Blaskapelle sowie die Liedermacher Frank Rennicke und Jörg Hähnel auf. Doch bereits für die Folgeveranstaltung am 27. Mai 2000 kündigte die NPD den ehemaligen Weggefährten der RechtsRock-Legende Ian Stuart Donaldson an, Stephen Calladine alias Stigger. Später jedoch sagte er ab. Dennoch: Das Konzept, vor allem junge Menschen mit einem durch Musikdarbietungen aufgelockerten Programm anzuziehen, ging auf. 2001 organisierte die NPD (beziehungsweise deren Parteizeitung "Deutsche Stimme") erstmals ein Pressefest, bei dem nicht Redebeiträge, sondern die auftretenden RechtsRock-Bands im Mittelpunkt standen. 1 500 vorwiegend junge Aktivisten reisten nach Grimma. Ein enormer Erfolg für die Veranstalter, denen es gelang in den folgenden Jahren mehr und mehr Leute anzusprechen: 2002 kamen 1 800 ins niedersächsische Königslutter, 2003 3 800 nach Meerane (Sachsen), 2006 rund 5 000 nach Mücka (Sachsen) und 2006 waren es in Dresden gar knapp 7 000 Besucher. Nach einer kurzen Auszeit versuchte die Partei das Konzept fortzusetzen. 2010 nahmen ca. 2 000 TeilnehmerInnen am Pressefest im sächsischen Jänkendorf teil, im Folgejahr am gleichen Ort waren es einige hundert weniger. Und zum Event nach Viereck (Mecklenburg-Vorpommern) reisten 2012 weniger als 1 500 Anhänger. Gerade den dortigen Protesten gegen die Veranstaltung darf angelastet werden, dass der Zuspruch so niedrig war. Unterdessen startete die NPD in Thüringen 2002 die jährlich in wechselnden Städten stattfindende Freiluftveranstaltung "Thüringentag der nationalen Jugend". Und in Gera etablierte sich ab 2003 eine ähnliche, vom dortigen Kreisverband organisierte Veranstaltung, die in den letzten Jahren unter dem Titel "Rock für Deutschland" bekannt wurde. 2009, zum Auftakt des Landtagswahlkampfs in Thüringen, fungierte Michael Regener alias Lunikoff als Headliner der ›politischen Versammlung‹. Sein erster offizieller Auftritt nach seiner Haftentlassung – als einstiger Sänger der als kriminelle Vereinigung nach §129 Strafgesetzbuch abgeurteilten Band hatte er drei Jahre und vier Monate abzusitzen. Zu dem Ereignis kamen rund 5 000 Fans – Besucherrekord bei diesem Event. Auch in anderen Bundesländern organisiert die Partei derartige Veranstaltungen, manchmal in Zusammenarbeit mit ihrer Jugendorganisation, den Jungen Nationaldemokraten, manchmal mit Unterstützung durch ›Freien Kameradschaften‹. Sie tragen Titel wie "Sachsentag", "Bayerntag" oder "Frankentag". Während die konspirativ organisierten Konzerte der Szene stets Gefahr laufen von der Polizei aufgelöst zu werden, sichern der Parteistatus der NPD und die Anmeldung als politische Versammlung die Durchführung. Wer sich entscheidet, dorthin zu fahren, läuft nicht Gefahr wieder nach Hause geschickt zu werden, weil die Sicherheitskräfte die Veranstaltung untersagen oder beenden.
Die Anzahl jener von der NPD durchgeführten Veranstaltungen mit Live-Musik schwankt mitunter stark: 2005 führte sie 35 durch, 2006 53, 007 34, 2008 20, 2009 22, 2010 35, 2011 31 und 2012 32. Abhängig sind diese Varianzen unter anderem vom Engagement der Partei im Vorfeld von Wahlterminen (Bund, Land, Kommune). Inbegriffen sind in den Zahlen im Übrigen die großen politischen Versammlungen mit Live-Musik im Begleitprogramm. Führte die NPD 2000 nur zwei solche Events durch, waren es 2003 bereits fünf, 2006 zehn und 2012 sogar 14 solcher ›Großveranstaltungen‹.