Die Redaktion im Lichte der Strukturationstheorie
Im vorherigen Abschnitt wurden Organisationen aus der institutionellen Perspektive als zielgerichtete, offene soziale Systeme mit einer formalen Struktur definiert. An diesem Punkt stellt sich nun die Frage, wie die skizzierten Merkmale von Organisationen und die Vorgänge darin beschrieben und in einem Modell zusammengeführt werden können. Dafür ist ein integrativer Theorieansatz erforderlich, mit dessen Hilfe sich einerseits die Struktur einer Organisation darstellen lässt, der andererseits aber auch dazu geeignet ist, (1) das Verhältnis der Organisation zu Umwelt und Gesellschaft und (2) das Verhältnis der Organisation zum handelnden Akteur abzubilden (vgl. Altmeppen 2007, S. 289). Die auf der Mesoebene anzusiedelnden Organisationen fungieren dabei als Scharnier oder Vermittlungsinstanz zwischen Makround Mikro-Ebene, „indem sie gesellschaftliche Anforderungen an Journalismus katalysieren, und – bottom up – indem sie die einzelnen Journalisten organisational integrieren“. (ebd.)
Um die genannten Fragestellungen zu bearbeiten, wird in dieser Arbeit auf die „Theorie der Strukturierung“ von Anthony Giddens (1984, 1997) [1] zurückgegriffen. Während der Akteur in der makroperspektivischen Systemtheorie weitgehend ausgeblendet wird, stellt sie den Versuch einer Verbindung von Akteurs-, Institutionenund Systemtheorie dar (vgl. Löffelholz 2004, S. 57f.; Löffelholz, Quandt & Thomas 2004, S. 259). Die Strukturationstheorie gilt als sozialtheoretischer Zugang, der sich insbesondere für die Analyse des Handelns von und in Organisationen eignet (vgl. Walgenbach 2006, S. 404), weil sie die Dichotomie von System und Subjekt aufhebt und weil sie mit Basisbegriffen der Organisationsund Managementforschung wie Handeln, Struktur, Institutionen, Ressourcen und Regeln arbeitet, so dass sie dort anschlussfähig ist (vgl. Altmeppen 2007, S. 291; Löffelholz 2004, 57f.; Wyss 2004, S. 307).
Zentrale Konzepte und Begriffe
Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die für das Thema dieser Arbeit wesentlichen Konzepte und Begriffe der Strukturationstheorie, die auch als Theorie der Strukturierung bezeichnet wird[2]. Ihr Urheber Anthony Giddens hat damit den Versuch unternommen, die in den Sozialwissenschaften unverbundenen Konzepte von Handlung und Struktur unter einem Theoriedach zusammenzuführen. Den Kerngedanken bildet dabei die Dualität von Struktur. Dieser Begriff soll zum Ausdruck bringen, dass die sozialen Akteure durch ihre Handlungen die Bedingungen (Strukturen) produzieren und reproduzieren, die ihr Handeln erst ermöglichen, dass also diese Strukturen zugleich Medium und Ergebnis sozialen Handelns sind. (vgl. Giddens 1997, S. 77–79; Walgenbach 2006, S. 406) Handlung und Struktur bedingen sich demnach gegenseitig, sie stehen in einem rekursiven Konstitutionsverhältnis zueinander. Die Rekursivität führt dazu, dass die Struktur repliziert und verändert werden kann, je nachdem, ob sich die Akteure strukturkonform verhalten oder nicht. (vgl. Walgenbach 2006, S. 406; Weder 2008, S. 347–349)
Den Prozess der Hervorbringung von Handlung durch Bezugnahme auf Struktur und die gleichzeitige Produktion oder Reproduktion dieser Struktur durch Handlung bezeichnet Giddens als Strukturierung. (vgl. Giddens 1997, S. 77) Andere Wissenschaftler verwenden zum Teil die Begriffe Strukturation und Strukturationstheorie. (vgl. z.B. Wyss 2004, S. 310f.) In dieser Arbeit soll ebenfalls von Strukturation die Rede sein.
Im Zentrum der sozialwissenschaftlichen Forschungsbemühungen sollten laut Giddens (1984, S. 2) weder die Erfahrungen einzelner Akteure, noch die Existenz einer statischen oder vermeintlich objektiv existenten Struktur, sondern soziale Systeme als Ergebnis von Strukturation stehen. Soziale Systeme, zu denen auch Organisationen zählen, sind für Giddens (1997, S. 77) über Raum und Zeit hinweg reproduzierte Beziehungen zwischen Akteuren oder Kollektiven, die als regelmäßige soziale Praktiken zum Vorschein kommen[3].
Struktur definiert Giddens (1997, S. 77f. u. 432) als Regeln und Ressourcen, die das Handeln in bestimmte, aber rekursiv veränderbare Bahnen lenken und nur in Form von Erinnerungsspuren existieren. Regeln bezeichnet er als „Techniken oder verallgemeinerbare Verfahren“ (ebd., S. 73), welche die Aufrechterhaltung einer etablierten Handlungsfolge gewährleisten, Ressourcen als „Formen des Vermögens zur Umgestaltung“ (1984, S. 17ff.), wobei er analytisch jeweils zwischen zwei Arten unterscheidet (vgl. Giddens 1997, S. 45, 70 u. 315–320; Ortmann, Sydow & Windeler 2000, S. 320f.; Walgenbach 2006, S. 410; Wyss 2004, S. 311ff.):
Ÿ Regeln der Sinnkonstitution (Signifikation) prägen die kognitive Ordnung eines sozialen Systems, sie liefern Interpretationen der Welt, die Handeln und Verständigung steuern und ermöglichen (z.B. Interpretationsschemata, Mythen, Symbole)
Ÿ Regeln der Rechtfertigung (Legitimation) prägen die normative Ordnung eines sozialen Systems. Sie legen fest, was die Mitglieder sollen oder dürfen und was nicht.
Ÿ Allokative Ressourcen bezeichnen materielle Phänomene – fertige Güter, Geld oder Produktionsfaktoren zum Beispiel. Sie begründen eine bestimmte Herrschaftsordnung (Domination).
Ÿ Autoritative Ressourcen sind Fähigkeiten und Kapazitäten wie Organisationswissen oder bestimmte Managementkompetenzen. Auch sie begründen eine bestimmte Herrschaftsordnung (Domination). Wer über sie verfügt, erlangt damit Macht über andere Akteure.
Walgenbach (2006, S. 410) zufolge treten Regeln „in der spezifischen Weise des (handlungs-)praktischen Wissens in die Subjektivität der Akteure ein, während die Ressourcen das Handlungsvermögen der Akteure begründen“.
Giddens ordnet die Regeln und Ressourcen drei Dimensionen des Sozialen zu, nämlich der Signifikation, der Legitimation und der Domination. Regeln und Ressourcen stellen zunächst jedoch nur Potenziale dar, die erst durch die Interaktionen der Akteure ‚Wirklichkeit' werden. Auf der Ebene der Interaktion, verstanden als soziales Handeln, kommen die Dimensionen in der Kommunikation, der Bewertung von Verhalten (Sanktionierung) und der Ausübung von Macht zum Ausdruck. Die Akteure wenden die Regeln und Ressourcen situationsspezifisch an und aktualisieren sie, indem sie Deutungsmuster, Normen und Machtmittel einsetzen, die Giddens als Vermittlungsmodalitäten bezeichnet. Sie fungieren als Bindeglieder zwischen Struktur und Handeln. (vgl. Giddens 1997, S. 81–88; Walgenbach 2006, S. 411f.; Wyss 2004, S. 312) Abbildung 3 zeigt, wie sich die drei Dimensionen des Sozialen auf der Strukturund Handlungsebene niederschlagen und wie sie über die Vermittlungsmodalitäten miteinander verbunden sind. Ortmann, Sydow und Windeler (2000, S. 320) beschreiben diese Zusammenhänge wie folgt:
„Wenn Mitglieder in Organisationen miteinander kommunizieren, dann beziehen sie sich reflexiv und rekursiv auf strukturelle Formen – Regeln im Sinne verallgemeinerbarer Verfahren – der Signifikation, die sie auf diese immer situative, besondere Weise zu Modalitäten ihres Handelns machen. Sie üben in einer Interaktion Macht aus, indem sie sich auf organisationale Ressourcen beziehen, die sie als Machtmittel (Faszilitäten) in die Interaktionssequenz einbringen. Sie sanktionieren, indem sie ihrem Handeln Normen unterlegen und das Handeln anderer auf Basis von Normen bewerten und beurteilen, die sie aus einem reflexiven Rekurs auf die Arten und Weisen der Legitimation gewinnen, in Organisationen etwa auf Praktiken der Bewertung von Personen, Leistungen, Prozessen (…).“
Die drei Dimensionen des Sozialen sind allerdings nur analytisch trennbar, sie sind sowohl auf der Ebene der Struktur als auch auf der Ebene der Interaktion horizontal miteinander verwoben (horizontale Rekursivität). So ist zum Beispiel die Durchsetzung von Sanktionen immer auch an die Verfügungsmacht über Ressourcen gebunden und mit bestimmten Wertesystemen verknüpft. (vgl. Ortmann, Sydow & Türk 2000, S. 23; Walgenbach 2006, S. 410–413)
Abbildung 3: Rekursivität zwischen den Dimensionen des Sozialen (Quelle: verändert nach Ortmann, Sydow & Windeler 2000, S. 325)
Für die Analyse des sozialen Handelns auf der Ebene der Interaktionen fehlt hier allerdings noch ein zentraler Baustein, mit dem Giddens seine Strukturationstheorie ausgekleidet hat: das Konzept des Handelnden. Das „Handeln“ vollzieht sich nach diesem Konzept als ein kontinuierlicher Prozess, ein Verhaltensstrom. Giddens spricht zudem von einzelnen „Handlungen“, wobei er darauf hinweist, dass sie im Strom des Handelns nicht klar voneinander zu trennen sind. (vgl. Giddens 1997, S. 53f.) Im Unterschied zum weiter gefassten Begriff des Verhaltens ist das Handeln zweckgerichtet (intentional) und der Handelnde dazu fähig, in die Welt einzugreifen und dadurch einen Zustand oder einen Prozess zu beeinflussen, das heißt Macht auszuüben
[4]. (vgl. ebd., S. 58–66) „Handeln betrifft Ereignisse, bei denen ein Individuum Akteur in dem Sinne ist, daß es in jeder Phase einer gegebenen Verhaltenssequenz anders hätte handeln können“, schreibt Giddens (ebd., S. 60). Die Handelnden haben also die Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen. (vgl. Schwarz 2008, S. 63f.)Außerdem geht Giddens davon aus, dass die Akteure ihr Handeln reflexiv steuern, womit gemeint ist, dass sie dabei ihr eigenes vergangenes, gegenwärtiges und für die Zukunft vermutetes Verhalten ebenso mit in Betracht ziehen wie das Verhalten anderer und die Strukturen ihres Handlungsfeldes. (vgl. Giddens 1997, S. 55f.; Ortmann, Sydow & Windeler 2000, S. 317; Walgenbach 2006, S. 407) Er verweist jedoch darauf, dass die sozialen Akteure bei aller Reflexionsmächtigkeit auch mit unerkannten Bedingungen und unbeabsichtigten Folgen ihres Handelns zurechtkommen müssen, da ihr Wissen über den strukturellen Rahmen grundsätzlich begrenzt ist und sie in soziale Kontexte eingebunden sind, die sie nicht völlig durchschauen und kontrollieren können. Die Akteure müssen sie daher kontinuierlich in den Strom ihrer Handlungen einbauen. Dieses „Stratifikationsmodell des Handelnden“ (stratification model of action) ist zentral für das Verständnis von Handlungen und Akteuren in der Strukturationstheorie. (vgl. Giddens 1984, S. 5ff., 1997, S. 55ff.; Zimmer & Ortmann 2001, S. 31)
Die reflexive Steuerung des Handelns kann laut Giddens auf zwei verschiedenen Ebenen des Bewusstseins ablaufen, die er als (handlungs-)praktisches und diskursives Bewusstsein bezeichnet. Beim praktischen Bewusstsein spiegeln sich die Strukturen in den Erfahrungen und Wissensbeständen der Akteure wider. Diese Erfahrungsund Wissensspuren steuern ihr alltagspraktisches Handeln und führen zu Routinen – zum Beispiel zur gewohnheitsmäßigen Anwendung von Nachrichtenfaktoren. (vgl. Giddens 1997, S. 36f.; Walgenbach 2006, S. 406– 408; Wyss 2004, S. 309f.)
„Der Begriff des praktischen Bewusstseins ist fundamental für die Theorie der Strukturierung; das praktische Bewusstsein beinhaltet bei Giddens alles, was die Handelnden stillschweigend darüber wissen, wie in den Kontexten des gesellschaftlichen Lebens zu verfahren ist, ohne dass sie in der Lage sein müssten, Ziele bewusst im Kopf zu haben.“ (Weder 2008, S. 350)
Diskursives Bewusstsein bedeutet hingegen, dass die Akteure über die Bedingungen und möglichen Folgen ihres Handelns nachdenken und die Gründe dafür benennen können (Handlungsrationalisierung). (vgl. Ortmann, Sydow & Windeler 2000, S. 317; Walgenbach 2006, S. 407) Je stärker das handlungspraktische und vor allem das diskursive Bewusstsein (bzw. das diskursive Wissen) der Akteure über die Strukturen ausgeprägt ist, desto weniger stellen sich unbeabsichtigte Handlungsfolgen ein, durch die sich die (zweckgerichtet geschaffene) Struktur verändert. (vgl. Walgenbach 2006, S. 408f.; Weder 2008, S. 350)
- [1] Seinen ersten Entwurf einer Strukturationstheorie mit dem Titel „The constitution of society“ publizierte Giddens 1984. Die erste deutschsprachige Übersetzung erschien 1988, wobei hier die dritte, mit der ersten Fassung identische Auflage von 1997 zitiert wird
- [2] Genauere Erläuterungen der Strukturationstheorie von Anthony Giddens und ihrer Anwendungsmöglichkeiten finden sich unter anderem bei Ortmann, Sydow & Windeler (2000), Altmeppen (2006b, 2007), Wyss (2004) und natürlich bei Giddens selbst (1984, 1997)
- [3] Im Unterschied zum Systembegriff in der funktional-strukturellen Systemtheorie Luhmannscher Prägung sind soziale Systeme laut Giddens nicht geschlossen und autopoietisch, sondern ihre Grenzen ‚wandern' bei Veränderung der sozialen Praktiken mit. (vgl. Giddens 1997, S. 216–218)
- [4] Einer vielzitierten Definition von Max Weber zufolge soll Handeln „ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden“ (Weber 1972, S. 1). Uwe Schimank weist darauf hin, dass der Terminus „der oder die Handelnden“ das zu Definierende bereits enthält und schlägt daher vor, ihn durch „den oder die sich Verhaltenden“ zu ersetzen. (vgl. Schimank 2007, S. 23) Verhalten ist demnach der abstraktere Begriff. Er bezieht sich auf jegliche Formen menschlicher Aktionen, die sich bewusst oder unbewusst vollziehen und auf geplanten Handlungen oder Reflexen beruhen können. Noch enger als das Handeln ist der Begriff soziales Handeln gefasst: Weber (ebd.) versteht darunter ein Handeln, „welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist“. (vgl. Miebach 2010, S. 20)