Zum Verhältnis von Theorie und sozialer Wirklichkeit

Gesellschaftliche Realität ist in ihrer gesamten Komplexität nicht wahrnehmbar. Nur wenn man sich auf bestimmte Aspekte konzentriert, wird sie erfassbar und damit auch wissenschaftlich bearbeitbar.

Abbildung 1.2 verdeutlicht den Prozess einer wissenschaftlichen Problemlösung. Am Anfang steht das konkrete, gesellschaftliche Phänomen, die soziale Realität, zum Beispiel der steigende Fernsehkonsum. Im gesellschaftlichen, noch vorwissenschaftlichen Diskurs, etwa in der Medienpolitik, entwickeln sich Vorstellungen und meist kontroverse Meinungen über dieses Phänomen. Unter Umständen wird es als gesellschaftliches Problem definiert, etwa in der allgemeinen Form: „Steigender Fernsehkonsum ist schädlich.“ In der Phase, in der ein soziales Phänomen als zu lösendes Problem empfunden wird, tritt die Wissenschaft als Teil der Gesellschaft auf den Plan. Sie überführt das Problem in eine wissenschaftliche Fragestellung und formuliert zu überprüfende Hypothesen. Anders ausgedrückt: Im Unterschied zum gesellschaftlichen Diskurs, der in der Regel Einzelfälle herausgreift, mit privaten Ansichten verquickt sowie politische und wirtschaftliche Opportunitäten je nach Standpunkt in die Argumentation einbaut, entwickelt die Wissenschaft in dieser ersten Phase unabhängig vom Einzelfall eine möglichst universelle, allgemeingültige Theorie über das spezielle soziale Problem. Dies sei am Beispiel der sogenannten Kultivierungshypothese nachvollzogen [1].

Diese postuliert, dass Menschen, die viel fernsehen, ihre Realitätssicht aus dem Fernsehen entnehmen und nicht aus ihrer tatsächlichen Umgebung. Solche „Vielseher“ halten dann beispielsweise die Welt für gefährlicher als „Wenigseher“, weil sie im Fernsehen ständig mit Verbrechen konfrontiert werden. Die wissenschaftliche Fragestellung, die sich nun an diesen gesellschaftlichen Sachverhalt anknüpft und die von amerikanischen Wissenschaftlern erstmals untersucht wurde, war also, ob das Fernsehen in bestimmten Ausmaßen die Sozialisation ganzer Generationen übernimmt. Anders ausgedrückt: Lassen sich langfristig generelle Einstellungen und Verhaltensweisen, etwa zum eigenen Rollenverständnis, zum Geschlechterverhältnis, politische Auffassungen oder das Religionsverständnis (auch) auf den Einfluss von Medieninhalten zurückführen? Beziehen Menschen, die sich in hohem Maße dem Fernseher aussetzen, ihr Weltbild eher aus den Medien als solche, die wenig fernsehen?

Tatsächlich würde eine Bestätigung der Kultivierungshypothese bedeuten, dass sogenannte Vielseher den prozentualen Anteil derer, die mit Verbrechensbekämpfung zu tun haben, genauso überschätzen wie den Ärzteanteil in der Bevölkerung. Vielseher würden also eher das für die Realität halten, was das Fernsehen konstruiert; ihr Weltbild wäre in gewisser Weise verzerrt. Mit der Hypothese an sich gibt sich nun die Forschung nicht zufrieden. Sie möchte sie bestätigen. Ziel ist ja, eine annä-

Abb. 1.2 Einsatz empirischer Methoden zur Aufklärung gesellschaftlicher Probleme mittels sozialwissenschaftlicher Theorien

hernde Deckungsgleichheit zwischen Realität und Theorie herzustellen. Auf Seiten der Wissenschaft, ganz im Sinne einer empirischen, systematischen Vorgehensweise, wird nun nach qualifizierenden Bedingungen gesucht, unter denen die Theorie einer Überprüfung standhalten könnte. Das bedeutet zunächst, dass nicht das komplexe soziale Phänomen „Kultivierung durch die Medien“ auf einmal untersucht wird, sondern nur kleine Ausschnitte davon. Man entwickelt Arbeitshypothesen, sozusagen Unterhypothesen, die nach und nach einem Mosaik gleich eine komplexe Theorie untermauern. Mit der Arbeitshypothese beginnt die empirische Phase, in der man mit Hilfe verschiedener Methoden den vermuteten Zusammenhang überprüft.

Die Formulierung von Arbeitshypothesen zerlegt ein komplexes Problem in konkrete, überprüfbare Untersuchungsschritte.

Die These, dass Vielseher ihre Weltsicht aus den Medien übernehmen, lässt sich also nicht einfach dadurch beantworten, dass man einen Vielseher fragt: „Übernehmen Sie Ihre Weltsicht aus dem Fernsehen?“ Einmal abgesehen von einem wenig ergiebigen Ergebnis (was weiß man schon, wenn Befragte mit „Ja“ oder „Nein“ antworten?) muss man sich der verschiedenen Schwierigkeiten bewusst sein. Zum einen können die Menschen meistens gar nicht sagen, woher sie ihre Meinung zu bestimmten Themen haben, zum anderen können die Befragten aber auch einfach falsche Antworten geben, weil sie entweder die Frage nicht verstehen oder der Meinung sind, dass sie sich ihre Einstellung zu bestimmten Themen ganz allein gebildet und sicher nicht aus dem Fernsehen übernommen haben. Will man also zur Klärung der Frage nach der Kultivierung durch die Medien beitragen, muss das komplexe Konstrukt Weltsicht sinnvoll reduziert und damit messbar gemacht werden. Es würden all jene Erfahrungen und Einstellungen wegfallen, die mit der Kultivierungshypothese vermutlich nichts zu tun haben. Man würde also nicht nach der Benutzung von Verkehrsmitteln oder einer Lieblingsspeise fragen. Auch die Schuhgröße einer Person interessiert in diesem Zusammenhang nicht.

Die Reduktion der komplexen Persönlichkeit eines Menschen auf wenige relevante Merkmale erlaubt eine systematische und empirische Überprüfung der Arbeitshypothesen.

Man wird immer nur einen Ausschnitt aus der sozialen Realität betrachten und nie die gesamte Realität. Man wird weiterhin versuchen, den oben postulierten Zusammenhang zu konkretisieren. In dem Zusammenhang „Vielseher übernehmen die Weltsicht aus dem Fernsehen“ steckt zunächst der Begriff „Vielseher“. Vielseher sind aber so direkt auch nicht feststellbar: Was sollen Menschen auf die Frage „Sind Sie ein Vielseher?“ antworten? Eine bessere Frage wäre: „Wie viele Stunden am Tag schauen Sie normalerweise fern?“ Noch genauer wäre es, das Fernsehverhalten zu erfassen, indem man in das Fernsehgerät ein Zusatzteil einbaut, welches sekundengenau misst, wann der Fernseher einbzw. ausgeschaltet ist und welche Sender jeweils angesehen werden (vgl. Kap. 11.3). Eine weitere konkrete Frage wäre dann: „Was glauben Sie denn, wie viele Morde täglich in Deutschland geschehen?“

Die erhobenen Daten einer solchen Befragung würden Aufschluss darüber geben, ob Vielseher eine höhere Zahl nennen als Wenigseher. Eine Interpretation des Ergebnisses könnte lauten: „Die Überschätzung täglicher Gewalttaten ist ein Indikator (unter vielen) dafür, dass die Vielseher ihre Weltsicht eher aus dem Fernsehen übernehmen als die Wenigseher.“ Ein weiterer Indikator, der denselben Zusammenhang messen soll, wäre die Frage „Wie groß, glauben Sie, ist die Chance, dass Sie überfallen werden, wenn Sie um Mitternacht durch eine leere Fußgängerzone gehen?“ Auch in diesem Fall würde man vermuten, dass die Vielseher aufgrund der Tatsache, dass sie viel Gewalt und viele Verbrechen im Fernsehen sehen, häufiger oder mit der größeren Wahrscheinlichkeit sagen, „Ja, das kann sein, dass ich Opfer eines Verbrechens werde.“

Die Konkretisierung der Hypothese bzw. die Überprüfung der aufgestellten Theorie erfolgt mit einer ganzen Reihe von Indikatoren, aufgrund derer in der Analyse resümierend festgestellt werden kann: „Ja, die Vielseher übernehmen ihr Weltbild in einem stärkeren Maße aus dem Fernsehen als die Wenigseher.“ Diese Aussage wäre zwar nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus der sozialen Realität, aber immerhin: Man hat zu einem gewissen Grad eine Strukturgleichheit zwischen Theorie und Realität festgestellt.

  • [1] Der Protagonist der Kultivierungshypothese ist der amerikanische Wissenschaftler George Gerbner. Eine Zusammenfassung des Ansatzes findet sich bei Schenk (2007) oder Rossmann (2008)
 
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